Die Mecklenburger Seen Runde ist ein Radmarathon durch eine eigenwillige Gegend im Norden, wo sich einsame Straßen endlos zwischen Seen, Wald und Wiesen auf und ab winden, und wo das Fahren dennoch niemals eintönig wird. 300 Kilometer lang. Es funkt spontan.

Freunde fragen: Und wie viele Tage hast Du Zeit dafür?

Genau genommen sogar mehr als 24 Stunden, denn ein Start ist bereits am Freitag ab 20 Uhr möglich. Schön, weil es das Feld der üblichen halb-professionellen Jedermänner ein wenig öffnet und Platz für „Freizeitradler“ macht. Einen von ihnen sehe ich bereits am Berliner Hauptbahnhof. Im vorher übersandten MSR-Trikot schiebt er seinen Bock mit Achterlenker den Bahnsteig entlang. Da entspanne ich mich das erste Mal seit Tagen.

Die Woche vor dem Wettkampf ist geprägt von einer unerträglichen Aufregung. Montag: Kraftlose Beine! Dienstag: Nicht genug trainiert! Mittwoch: Unwetter-Warnung! Bei der Arbeit bin ich zu nichts zu gebrauchen, der Coach muss in täglichen Anrufen beruhigend auf mich einwirken.

„Du kannst ja jederzeit aufgeben“, sagt M. Aufgeben?!

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Es ist nicht mein erster 300er. Der Coach und ich sind einmal den Rockenhausen Radmarathon gefahren, in Zeiten der ersten Radsportkarriere. Mit deutlich weniger Jahreskilometer in den Beinen – aber auch mit weniger Jahren auf dem Buckel. Hätte mir vor einem Jahr jemand gesagt, dass ich mich noch einmal an eine solche Strecke heranwagen würde, ich hätte wohl nur ungläubig gelacht.

Im Startort Neubrandenburg herrscht Radsport-Atmosphäre. Heitere Abendstimmung liegt über der Festwiese, wo Trikots, Bratwürstchen und Bier verkauft werden. Im Hotel bietet man mir an, mein Rad (das ich artig draußen abgestellt habe, statt es wie andere Fahrer direkt zur Rezeption zu schieben) mit aufs Zimmer zu nehmen. Und das trotz Teppichboden im ganzen Haus. Aber vermutlich macht man bei fast 2.000 Startern, die nach Bett und Tisch verlangen, hier heute den Umsatz des Jahres. Trotzdem, ich finde dieses Mitdenken schön.

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Morgens liege ich ab 2 Uhr mit Rennpuls wach, an Schlaf ist nicht mehr zu denken. Ich fange schon mal an zu essen, das kann für heute nur helfen. Die Kleiderfrage. Regen zumindest in den ersten Stunden scheint unausweichlich. Gleichzeitig ist es um 4 Uhr mit 14 Grad und Windstille bereits sehr mild. Ich entscheide mich für die kurze Radhose, kurzes Trikot und langärmeliges Unterhemd und stecke schließlich nur Überschuhe und Regenjacke ein. Mehr passt nicht in Trikot und Satteltäschchen. Und endlich geht es zum Start, nach Stunden und Tagen des Vorfieberns – ein unbeschreiblicher Moment. Jetzt gibt es kein Zurück mehr!

Im Morgengrauen liegt die Festwiese unter einem schwer bewölkten, düsteren Himmel. Alle fünf Minuten wird eine weitere Gruppe von etwa 40 Fahrern mit einem Countdown auf die Strecke eskortiert. Wenige Augenblicke vor meinem Start beginnt es zu regnen. Allseits Gefummel mit Regenjacken, Überschuhen, Beinlingen. Mit dem Regen kommt Kälte.

Der Startschuss, wir setzen uns in Bewegung. Der Regen wird stärker. Aus Neubrandenburg heraus sind ein paar Höhenmeter zu erklimmen. Träge sortiert sich das kleine Feld, nach vorn will keiner. Ich auch nicht, habe aber auch keine Lust, mich nach hinten durchreichen zu lassen. Halte mich unter den ersten zehn, ein paar davon sind in den Farben einer Versicherung unterwegs, machen zusammen die Spitze. Langsam fahren sie nicht, aber irgendwie unrythmisch. Geht es in den Anstieg, muss ich direkt bremsen, aber noch vor der Kuppe ziehen sie plötzlich los, dass der Puls hochschnellt. Es gefällt mir nicht, es ist noch zu früh, und dazu der Regen. Es ist egal, bis zur ersten Verpflegung bleibe ich dran. Wir überholen die nächste Gruppe vor uns, wir überholen weitere Starter. Der Regen wird noch immer stärker. In der Startaufregung habe ich die Klettverschlüsse an den Überschuhen nicht ordentlich zu gemacht. Nach einer halben Stunde schon habe ich nasse Füße. Brauchte ich nicht sowieso neue Überschuhe? Zu spät.

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© Sportograf

Nach 43 Kilometern die erste Labe. Der Tacho zeigt 8 Grad. Ich bin durchnässt, mir ist schon beim Fahren kalt, das wird im Stehen nicht besser. Aber der Coach hat mir eingeschärft: „Iss an jeder Station etwas!“

Wenigstens überdacht stehe ich in einer Schlange von Menschen und bewege mich in zehn Minuten ungefähr drei Meter vom Fleck. Es dauert etwas, bis ich realisiere, dass hier alle Radler für ein heißes Getränk anstehen, das ein Helfer aus einer Kanne ausschenkt, während etwa ein Duzend Helfer untätig zusehen. Die Menschenschlange wiederum versperrt den Zugang zu den festen Nahrungsmitteln.

Ich seufze innerlich. Ich fröstle. Ich fange an zu zittern. Ich schnappe mir einen Müsliriegel, Kekse, irgendwas und eile zurück zum Rad. Uhrzeit-Check, denn ich vermute, ich werde heute nicht zum letzten Mal warten und frieren. Dann will ich wissen, wie lange es dauert, bis ich mich warm gefahren habe.

Es dauert fast fünfzehn Minuten. Wenigstens mangelt es nicht an Hilfe. Die Straße ist gesäumt mit Radlern. Schnelle, langsame, voll ausgerüstete; gemütliche, hektische, in Gruppen, als Pärchen, allein fahrende – die Konzentration ist vollkommen auf diesen Radler-Corso gerichtet, überholen, ranfahren, reinfahren, von hinten rauschen hören, überholt werden, gucken, rausfahren, ran hängen, eine Weile dran bleiben, auffahren, mitfahren, nicht mitfahren, rechts reinfahren,  von hinten rauschen hören, gucken, rausfahren… und aufpassen, aufpassen, aufpassen. Ich sehe nicht viel von der schönen Gegend. Macht nichts, die ist regenverhangen. Ich sehe Hinterräder, Startnummmern, Rücken. Der Regen zieht sich allmählich zurück, der Reigen beginnt Spaß zu machen. Auch wenn alles ein wenig anonym bleibt. Bei zehn Minuten Fahren gleichauf entspinnt sich noch kein Gefühl von Gemeinsamkeit.

Eine Gruppe von drei ganz in schwarz gekleideten Fahrern scheint das perfekte Tempo zu haben. Ich gehe mit, bleibe eine Weile hinten dran. Will mich dann revanchieren, fahre vor. Und auf einmal sind die hinter mir weg. Vor mir keiner, doch, da, in weiter Ferne. Zurückfallen ist irgendwie auch doof, also reintreten. Reintreten. Gegen den Wind, mit hohem Puls. Reintreten, Straßenpfosten zählen. Habe ich den Abstand schon verkürzt? Vielleicht ein paar Meter. Tiefer über den Lenker beugen. Reintreten. Los, los. Reintreten. Straßenpfosten-Check. Wieder 20 Meter näher. Oh Mann, ist das anstrengend. Tut schon weh. Schaffe ich das? Aber jetzt aufhören und zurückfallen ist erst recht doof. Das Gegenwind-Stück muss doch bald vorbei sein! Noch mal reintreten. Sind jetzt nur noch 50 Meter Abstand… denke ich, und dann sehe ich: Die Gruppe, für die ich hier Kraft am oberen Ende verschleudere, ist eine, die ich vorher schon einmal aufgegeben habe, weil auch hier äußerst unrhytmisch gefahren wird…

An der dritten Verpflegungsstation endlich ein heißer Tee. Zum ersten Mal ist mir warm genug, um etwas länger stehen zu bleiben, zu essen und M. und dem Coach eine SMS zu schreiben. Ich bin knapp fünf Stunden unterwegs, habe 130 Kilometer zurückgelegt. Da hatte ich mir etwas mehr vorgestellt. Andererseits liegt zumindest der größte Teil der Gegenwind-Richtung hinter mir.

Allmählich dünnt sich das Feld aus. Ich bin nicht mehr ständig von Menschen umgeben, kann endlich mehr von der Gegend sehen. Kleine Seen, die durch Wälder blitzen. Baumgesäumte Alleen. Schmale, verkehrsarme Straßen. Eine traumhafte Streckenführung, die zudem sehr gut gesichert ist. An fast allen Kreuzungen stehen Helfer, halten die Autofahrer an, um den Radfahrern freie Fahrt zu gewähren, oder warnen vor heiklen Stellen. Nirgendwo wird die Strecke wirklich gefährlich – aber dort, wo das doch passieren könnte, weisen große Schilder frühzeitig und deutlich darauf hin.

Die vierte Verpflegungsstation mit dem klangvollen Namen Nossentiner Hütte bei 175 Kilometern markiert den moralischen Wendepunkt. Ab jetzt geht es mit Rückenwind nach Hause! Ein wunderbarer, süßer Kuchen mit Zuckerkruste gibt Kraft. Schon fast auf dem Rad drehe ich nochmals um und nehme noch ein Stück. Dafür kehrt der Regen wieder. Man kann nicht alles haben.

Überhaupt ist das jetzt diese Phase, in der man etwas verwundert den Gedankenwust betrachtet, der sich nach stundenlangem, konzentriertem, jedoch etwas einsamem Fahren gern im Kopf breit macht. Zwiegespräche mit dem Fahrrad, mit dem Regen. Ich fahre so vor mich hin. Fahre wieder auf eine Gruppe auf, die in loser Ordnung dahin rollt. Fast ein bißchen zu langsam, aber es ist angenehm, mit Abstand hinterher zu rollen und einen Bezugspunkt zu haben. Die Sonne lässt sich blicken. Zaghaft rolle ich die Ärmel der Regenjacke nach oben, in der Hoffnung, dass mein Unterhemd trocknet. Ich bin komplett nass, schon den ganzen Tag, sitze in dieser nassen Radhose. Vielleicht ändert sich das bis zum Ziel?

Dann kommt der Hagel. Innerhalb von Minuten zieht eine dunkle Wolkenwand über uns her, platzt der Regen und gleich darauf der Hagel vom Himmel, als hätte jemand da oben hundert Tüten mit Erbsen ausgekippt, pladdert es vor mir und hinter mir und über mir und unter mir auf die Straße. Wir fahren zügiger, instinktiv wie auf der Flucht, jagen dahin, um eine Kurve und eine Allee entlang, wo sich fast trockene Stellen unter den Bäumen mit dem Pladdern abwechseln – wusch, Stille, wusch, Stille, wusch…

Anhalten ist keine Option, mir ist schon wieder kalt, kaum kann ich meine Regenjacke über die Arme ziehen, weil ich den Lenker während dieser Hatz auf keinen Fall loslassen möchte. Die nächste Labe lasse ich links liegen, ich möchte auch nicht schon wieder frieren bis zum Zittern. Mein Grüppchen fährt ab, ich fahre allein weiter, der Regen hört auf.

Alle zehn Kilometer nun ein Schild, „noch 70 Kilometer“, „noch 60 Kilometer“. Euphorie macht sich breit, unwillentlich rechne ich mir alle 5 Kilometer aus, welchen Bruchteil der Strecke ich geschafft habe. 235 von 300 sind 47 Sechzigstel. 240 von 300 sind vier Fünftel. Klingt 47 Sechzigstel nicht nach mehr als vier Fünftel? Habe ich mich verrechnet? Kopfrechnen hält beschäftigt. Ich zucke jedesmal zusammen, wenn ich auf den Kilometerstand schaue. Da steht eine Zwei vorne! Nicht etwa 150 Kilometer. 250. 255! 260!!

Und die Menschen am Straßenrand. Sie rufen und winken, sie jubeln und klatschen, für jeden, der sich hier vorbeiquält, für mich! Sie treiben mir die Tränen in die Augen, ich versuche zurückzuwinken, mich zu bedanken, und muss doch öfter als einmal schnell weg sehen.

40 Kilometer vor dem Ziel eine wenig besuchte Labe, man bietet mir freudig Speisen an, belegte Brote, Kaffee, ich weiß gerade gar nichts mehr. Auf der Toilette wasche ich mein Schlamm-verdrecktes Gesicht. Eine Frau spricht mich an: „Sind sie auch eine von den Verrückten, die das hier an einem Tag machen?“ Sie ist am Abend zuvor losgefahren. Ich finde sie viel verrückter. Wie kann man 20 Stunden im Sattel ausharren?

Endspurt. Ich kann nicht mehr und kann doch noch. Ein Typ im schwarzen Castelli Gabba, mit dessen Anschaffung M. schon länger liebäugelt, überholt mich, das Trikot ist todschick. Er hängt sich vor mich, blickt zurück, ruckt nach vorn, schaut erneut. Aufforderung zum Tanz. Ich kann nicht mehr jemand anderes Tempo fahren. Er guckt etwas verblüfft, fährt vor, dann fahre ich doch hinterher, es ist Rückenwind, es ist nicht mehr weit, ich kann noch unter 12 Stunden bleiben, Radfahren macht so unendlich viel Spaß, wir fliegen dahin, andere schließen sich an, ich fahre vorn, nicht lang, aber noch ein paar Meter, der Tacho schießt noch einmal nach oben, ich bin leer, ich bin glücklich, es geht aufwärts, ich bin leer, es geht abwärts, wir rasen, was ein Tag, was ein unendlich langer, langer Tag!

Neubrandenburg, Start-Ziel. M. hat gesimst, „jeder wird hier mit Namen angekündigt!“ Es geht über eine kleine, sehr steile Brücke. Anlauf, hoch, dann Zieleinfahrt.

Ich höre M. rufen, „die Beste auf Stahl!“ Ich höre meinen Namen über den Lautsprecher. Eine junge Frau hängt mir eine Medaille um. Mecklenburger Seen Runde 2015, steht darauf. 300 km. M. macht ein Foto für die Familie. Ich lache über das ganze Gesicht.

Distanz: 300 km.
Höhenmeter: 2.100 hm.
Unterwegs: 11:51h. Reine Fahrzeit: 10:40h. Geschwindigkeit: 28,2 km/h.

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Danke an:

  • Die Organisatoren für eine supertolle, gut gesicherte Strecke und die leckere, reichliche Verpflegung.
  • Assos für eine Radhose, die in nassem Zustand über 10 Fahrstunden keine einzige wunde Stelle hinterlassen hat.
  • Den Coach für die mentale Unterstützung.
  • M. fürs Ertragen vorher und Abholen danach!

Veranstalter: www.mecklenburger-seen-runde.de