Einmal im Jahr reise ich ins Allgäu. In diesem schönen Landstrich, wo Kühe mit weichen Steiff-Ohren auf sanft geschwungenen Almen grasen und der Jägerzaun die natürliche Begrenzung zwischen zwei Grundstücken darstellt, habe ich Verwandtschaft. Wir unternehmen zwei, drei Bergtouren und erzählen, was das restliche Jahr über passiert ist. Als ich im Winter die Saison plane, entdecke ich ein Rennen, das seinen Start ganz in der Nähe hat.

Der Tannheimer Tal Radmarathon scheint mit seinen 3.300 Höhenmetern auf 224 Kilometer eine ideale Vorbereitung für das Alpenbrevet, das ich für einige Wochen später auf dem Plan habe. Die Verwandtschaft sichert einen guten Ausgangspunkt und leibliches Wohl. Kurzerhand wird gebucht.

Als ich einige Zeit vor dem Event die Strecke genauer in Augenschein nehme, erscheint das Vorhaben in einem neuen Licht. Einerseits sind nur die besagten Höhenmeter zu bewältigen, die sich im Wesentlichen auf zwei Pässe verteilen. Andererseits liegen vor, zwischen und nach den beiden Bergüberschreitungen etliche, mehr oder weniger flache Stücke. Es gilt also, nicht nur lange Steigungen zu fahren, sondern auch Geschwindigkeit in der Ebene mitzubringen, und das ganze über eine nicht zu knapp bemessene Distanz. Die vielseitige Anforderung verlangt mir Respekt ab. Dazu eine unklare Wetterlage. Traditionell beginnt Tage vor dem Wettkampf die Unruhe an mir zu nagen.

Verwandtschaft und Nachbarschaft vor Ort tragen ihren Teil dazu. Ob ich das wirklich machen wolle? Ob das nicht viel zu weit sei? Ob ich genug gegessen hätte? Sie machen mich wuschig, während ich versuche, das zur Verfügung stehende Rennrad den idealen Werten aus dem einige Wochen zuvor absolvierten Bikefitting anzupassen. Es ist ein Stahl-Schätzchen aus den späten 80ern, das der Coach aus dem Hobbykeller geborgen hat, frisch ausgestattet mit einer Kompaktkurbel.

Nachbar Dieter ist an diesem Abend auf der Terrasse der einzige Mensch, der über Rennrad-Expertise und -Erfahrung verfügt. Kurzerhand hilft er bei Montage vom Radcomputer und Satteljustierung und mischt das übrige Volk auf: „Was ist jetzt? Stehen wir morgen irgendwo auf der Strecke, oder wird hier nur gequatscht?“ Betretenes Schweigen.

Der Morgen wirft den Schatten eines heißen Sommertages voraus, um halb sechs hat es bereits 15 Grad. Wir sind früh in der Starter-Zone, es sind noch fast 45 Minuten. Es geht sehr geordnet zu. Helfer in neongelben Westen weisen jeden Autofahrer exakt auf einen Stellplatz ein. Zweitausend Radler werden erwartet, aber die Stimmung ist ruhig. Konzentriert werden Räder zusammen gesteckt, Flaschen befüllt, hochwertige Laufräder surren beim Einfahren. Hier beult sich kein Trikot in die falsche Richtung, hier sind austrainierte Athleten auf teurem Material unterwegs. Normalerweise ein bißchen stolz darauf, einen Radmarathon auf Stahl zu bestehen, geniere ich mich zum ersten Mal für mein altes Gerät.

Unser guter Stellplatz ermöglicht mir einen Einstieg in das Starterfeld weit vorn, so dass ich bereits um 06:02 über die Startlinie rolle. Kurz noch genieße ich die erfrischende Morgenluft.

© Sportograf
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Und dann geht es zur Sache. Das Feld zieht sofort an, wir sausen das Tannheimer Tal entlang, die Fahrer um mich herum plaudern entspannt und wirken nicht im Entferntesten so, als ob sie bereits alles geben. Ich schaue auf den Tacho, wir fahren über 40 kmh. Ich muss nicht mal an meine Grenze gehen, so ziehen sie mich mit. Es ist ein Rausch!

Leicht abwärts geht es nach Jungholz, Wertach, Mittelberg. Eine schöne Strecke, weiche Kurven, schnell zu fahren. Das Feld zieht sich auseinander. Ich bin auf der Höhe von einigen Fahrern, die keine Lücke für mich machen. Ich ducke mich tiefer, dann fahre ich eben nach vorn. Ich trete was ich kann. American Flyers. Dann sind sie nach hinten weg. Ein Fahrer holt mich ein, zusammen schließen wir zu einer weiteren Gruppe auf. Mein Tacho zeigt mir an, dass ich gerade meinen Schnitt verschlechtere, als ich über 33 kmh fahre! Dies sind wahrscheinlich die schnellsten 50 Kilometer, die ich je in meinem Leben gefahren bin.

An der ersten Verpflegungsstation zeigt sich das einzige Manko, das ich an der gesamten, ansonsten perfekten und sehr freundlichen Organisation feststellen kann. Es gibt an mehreren Verpflegungsstationen genau ein WC. Aber ich muss, auch wenn ich zehn Minuten warten muss. Ich nutze die Zeit in der Schlange für eine SMS an den Coach. Gesundheitsbedingt kann er entgegen unserer Planung heute leider nicht hier sein. In der Ferne verfolgt er das Geschehen über Webcams und Facebook und freut sich über Zwischenmmeldung.

Etwas gemäßigter geht es zum Fuß des Riedbergpass. Auf den Startnummern sind die Vornamen aufgedruckt. Es hat etwas Nettes, sich gegenseitig mit Namen anzusprechen. „Die Eva wieder“, höre ich hinter mir, als ich einen Fahrer in einer kleinen Steigung überhole (gefühlt den einzigen, bei dem mir das heute gelingt). „Du überholst mich immer, wenn’s hoch geht!“ Noch ist der Tag nicht vorbei.

Riedbergpass: eine echte Sau, wie der Allgäuer sagen würde. In Höhenmetern gemessen ist er nicht wild – es kommen kaum 600 zusammen. Einige Kilometer hinter Obermaiselstein kündet ein Schild von seiner Tücke: 16% auf vier Kilometern. Und schon hängt man drin.

Es ist steil, es ist saumäßig steil. Es nimmt kein Ende. Um mich herum keucht und schnauft es. Ich werde überholt – einmal mit nettem Kommentar. „Auf Stahl hier unterwegs, alle Achtung!“ Ich überhole auch mal. Ich zähle die Tritte, so langsam sind sie jetzt. Die Kette ist längst links, aber dort will sie nicht lange bleiben. Alle zwei Minuten rutscht sie vom 28er auf das 26er Ritzel; ich lausche auf das verdächtige Knacken, um das im letzten Moment zu verhindern. Ich fluche. Wenigstens verschafft das Ablenkung.

Qual beim Radfahren dauert genau so lange, wie sie dauert. Dieser Abschnitt ist wirklich hart, NeinIchSteigNichtAb-hart, aber dann kommt die Kuppe. Ex-Profi Gerrit Glomser, der heute eine Zehn-Stunden-Gruppe anführt, feuert uns Vorbeifahrende an. „Ihr seid oben, ihr seid großartig! Ihr seid schneller als meine Gruppe!“ Danke, Gerrit. Ich bin noch im Plan. Ich bin oben, ich bin sofort viel leichter!

© Sportograf
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Verpflegungsstation Balderschwang. Ein wildfremder Mann fällt mir um den Hals. Er stellt sich als Nachbar Dieter heraus, der sich tatsächlich am frühen Sonntag morgen auf den Weg gemacht hat, um mich auf der Strecke zu unterstützen und Fotos zu machen. Ich bin gerührt!

Durch den Bregenzer Wald. Ich habe diesen Abschnitt in der Vorbereitung argwöhnisch studiert. Es geht bergan, aber mit wenig Prozent. Zu wenig, um das Tempo zu mäßigen, zu viel um es zu halten. Und das bei einer Distanz, bei der ich meist einen Tiefpunkt habe. „Hier brauchst Du eine Gruppe“, sagt der Coach. Ich hänge hinter ein paar Fahrern, die nicht allzu schnell sind. Ich bin kraftlos. Ich will Ebene – oder einen richtigen Berg. Ich überlege ernsthaft, sie ziehen zu lassen. Wieder einmal bin ich froh, den Streckenplan seziert und auswendig gelernt zu haben. Noch 10 Kilometer, noch 5. Das muss doch zu schaffen sein!

Ich bleibe bei der Gruppe, gerade so. Die nächste Labe, ich gönne mir eine längere Pause und beobachte die professionelle Versorgung. Guter Zugang zu dem reichhaltigen Nahrungsmittelangebot, Flaschen werden in Sekunden aufgefüllt, die Helfer sind fröhlich, haben für jeden ein anerkennendes Wort. Es ist heiß geworden. Ich trinke und trinke. Gerrit taucht auf, macht Sprüche mit den Helfern, brüllt seinen Leuten zu, wann sie oben sein müssen. Langsam mache ich mich auf den Weg.

Hochtannbergpass. Noch 840 Höhenmeter. Ich beschließe, den Pass zu genießen. Das steilste Stück habe ich für heute hinter mir. Hier hinauf sollte 34-26 reichen, wenn das 28er nicht will. Ötztaler Radmarathon 1990, Übersetzung: 40-28. Kompaktkurbeln gab es noch nicht. Wie ging das?

Zunächst geht es durch den leicht kühlenden Wald, an der Bregenzer Aich entlang. Später ausgesetzter. Die Höhe bringt frische Luft. Langsam und allmählich hole ich einzelne Fahrer ein. Jedes Mal die Entscheidung: Bleibst Du dahinter oder fährst Du. Denn wenn Du fährst, musst Du auch fahren. Ich fahre. Der Drang am Berg: der Puls ist hoch, die Oberschenkel brennen, aber der Berg will gefahren sein. Darum mag ich Prozente.

Einige wilde Serpentinen geben dem Pass die letzte Höhe. Kreativer Straßenbau. Kurz vor dem Übergang überhole ich noch einen Fahrer, der deutlich langsamer fährt. Kaum bin ich vorn, dreht er auf und überholt mich. Nun bin ich aber eigen, überhole wieder, und rase mit letzter Energie weiter, damit er mich nicht mehr einholt. Ein alberner Beißreflex. Aber gelegentlich scheint mir, manche Männer können nicht akzeptieren, dass eine Frau sie überholt. Dann muss man sie ein bißchen dazu zwingen.

Die Abfahrt! Nur noch laufen lassen, das Lechtal hinunter, wenige Höhenmeter über den Gaichtpass zurück ins Tannheimer Tal. Kürzer als meine Samstag-Morgen-Hausrunde! Denke ich.

Ich habe nicht mit dem garstigen Gegenwind gerechnet, der sich mir im Lechtal in den Weg stellt. Entkräftet von den bisherigen Anstrengungen und ungeübt im Gruppenfahren gelingt es mir über eine halbe Stunde nicht, mich mit jemandem zusammenzutun. Irgendwann überhole ich eine Martina, die sich wortlos an mich hängt. Mit ihr im Gepäck fahre ich auf einen Fahrer auf, der sukzessive langsamer wird, als wir hinter ihm sind. Im Geiste beschwöre ich ihn, den Helden zu spielen. Wir sind nur zwei schwache, hilflose Mädels, wir brauchen Unterstützung! Bald wird klar, er will heute nicht den Ritter geben. Wir fahren vor, und endlich kommt eine Gruppe von hinten, in deren Sog wir die sieben Kilometer bis zur letzten Labe zurücklegen.

Hier wollte ich nicht mehr halten. Aber es ist heiß, und der letzte Abschnitt hat gezehrt. Jemand hält seinen Kopf samt Helm unter den Wasserstrahl aus einem Gartenschlauch. Martina bedankt sich, dass ich sie aufgelesen habe. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, ich kann die zehn Stunden noch schaffen. Wenn ich mich spute!

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Gaichtpass, einige Dutzend Höhenmeter, ein paar Serpentinen. Hier hinten auf der Höhe meiner Fahrzeit treten die meisten nur noch müde. Wer schnell fährt ist längst weg, oder hat vorher überzogen und hängt jetzt in den Seilen. Ich rausche den Anstieg hoch, ich überhole fast nur noch. Das erlebe ich öfter. M. und ich scherzen manchmal: er fährt die ersten 100 Kilometer vorn, ich die zweiten. Der Gaichtpass ist kürzer als gedacht, jetzt geht es noch ein Stück das Tannheimer Tal entlang. Schon wieder Gegenwind, aber jetzt ist alles egal, ich ziehe durch, ich beuge mich tief über den Lenker, das ist meine persönliche Attacke, der Rausch des Siegens, Phil Legitt und Paul Sherwan kommentieren meinen Antritt, da ist zwar niemand, gegen den ich hier noch sprinte, ist aber egal, ist sowas von egal, es zählt nur der Moment, es zählt nur noch alles zu geben!

Zieleinfahrt. Mein Name wird angesagt. Festzelt, Bratwürstchengeruch, Gerrit und seine Gruppe hinter mir, keine Verwandtschaft weit und breit. Ich komme zum Stehen. Was ein Ritt.

Distanz: 224 km.
Höhenmeter: 3.300 hm.
Reine Fahrzeit: 8:56h. Geschwindigkeit: 25,5 km/h.

Danke an:

  • Meine Tante für den Transport-Service – und für die Geduld mit einer, die ein Wochenende über zu nichts zu gebrauchen ist, erst aus Nervosität, dann aus Erschöpfung.
  • Nachbar Dieter für praktische Hilfe und moralische Unterstützung an der Strecke.
  • Wen auch immer für unbezahlbar traumhaftes Wetter!

www.rad-marathon.at

© sportograf
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