Ein gewöhnlicher Donnerstag Abend. In den Redaktionsräumen herrscht träge Stille. Nichts zu lesen, nichts zu schreiben. Gelangweilt blättere ich durch das Tour Magazin.
„Guck mal, die suchen die schönsten Rennräder“, sage ich zu dem Rad. „Vergoldet, handgeschnitzt, von Eddy Merckx gefahren. Zeugnisse einer ganz speziellen Technik-Epoche oder solche mit einem bewegten Leben.“
„Die meinen mich, ganz klar“, sagt das Rad. „Du solltest mich da vorstellen.“
„Hm, weiß ich jetzt nicht“, sage ich. „Gibt immerhin Menschen, die haben Duzende von Rädern. Die bauen selbst Räder!“
„Wozu bräuchtest du Duzende Räder, wenn du das perfekte hast?“
„Und andere, die fahren noch ganz anders als wir. Hunderte von Kilometern, Tage und Nächte am Stück. Schlafen an der Bushaltestelle oder in Sparkassen-Vorräumen!“
„Pah, über Nacht draußen waren wir auch schon. Aber niemand fährt seit 28 Jahren zusammen!“ sagt das Rad, und da mag es einen Punkt haben.
Sehr jung war ich, als der Coach und ich damals im Radsportfachgeschäft standen. Übersetzung und andere Details der Ausstattung wurden über meinen Kopf hinweg verhandelt. (M. würde an dieser Stelle anmerken, dass sich an diesem Zustand bis heute wenig geändert hat.) Ich würde ein Rennrad bekommen. Rennradlenker. Waagerechtes Oberrohr. Ich war stolz wie ein König!
Ein paar Wochen später die ersten Kilometer an der Küste vor Split in einem Land, das damals noch Jugoslawien hieß. Es ging noch etwas wackelig.
„Das Verfolgungsrennen gegen die sagenumwobene Triathlongruppe der Uni Karlsruhe haben wir trotzdem gewonnen“, erinnert das Rad. Es klingt auch stolz wie ein König.
Columbus Stahl hin oder her, Tour-Magazin-Ruhm winkt uns davon noch lange nicht.
„Erzähl‘ denen doch vom Mont Ventoux, damals an Ostern, als wir gegen den Schneesturm fahren mussten. Der Coach hat sich die Plastikbeutel von den Butterbroten über die Hände gezogen, damit der überhaupt noch bremsen konnte, so kalt war das!“ sagt das Rad.
„Ist gar nicht so wild da. Ich bin letztes Jahr nochmal hochgefahren, das ging eigentlich.“
„Ja, bist du. Mit einem fremden Rad!“ Es klingt leicht beleidigt, aber vielleicht bilde ich mir das nur ein.
Oder auch nicht.
„Du hast versprochen, dass wir noch mindestens ein ganzes Jahr zusammen fahren, wenn ich keinen Defekt habe“, sagt das Rad jetzt vorwurfsvoll. Da hat es leider recht. Als ich vor Prenzlau so aufgeregt war, erster Radmarathon ohne bekanntes Gesicht. Das Rad lief tadellos. Wie immer.
„Wir sind ja dann alles zusammen gefahren, was in der Nähe ist“, sage ich.
„Stimmt. Sogar die 300 Kilometer von Neubrandenburg aus. Wie damals in Rockenhausen!“
Damals. 303 Kilometer und 4.100 Höhenmeter an Pfingsten in der Pfalz. In jenem kalten Frühjahr, mit ganzen 500 Jahreskilometern als Training. Die Helfer sahen an allen Labestationen gleich aus: Ein bärtiger Kleiner, ein bärtiger Großer. Irgendwann waren wir uns sicher, die packen zusammen, wenn wir durch sind, und bauen ihre Tische 30 Kilometer weiter wieder auf. Zeit genug hätten sie gehabt, so sind wir geschlichen. Zuhause war meine Oma zu Besuch und löcherte meine Mutter, weil der Coach und ich den ganzen Tag über verschwunden waren. Wo sind die denn bloß hin? Ach, nur ein bißchen Radfahren, sagte meine Mutter. Das restliche Pfingstwochenende fand auf dem Sofa statt, alle zwei Stunden Nachlegen von Kalorien, gefolgt von sofortigem Anstieg der Körpertemperatur.
„Und Tilff-Bastogne-Tilff! Alb Extrem! Ötztaler!“, triumphiert das Rad.
„Große Fahrten des Gonso Euro Cup in Italien, Schweiz, Österreich, Belgien“, jubelt es.
„Grand Ballon, Platzerwasel, Klausenpass, Stilfser Joch, auch bei Schnee“, singt es.
„Das ist Dir wohl alles etwas zu Kopf gestiegen“, sage ich.
Tatsächlich ist das meine Schuld. Ich habe das Rad verhätschelt, seit meine Eltern es von seinem einsamen Dasein auf dem Dachboden erlösten. Nach Jahren aufgesessen, um den Block gerollt, alles wieder da. Seitdem heißt es: Sprich nicht vor dem Rad darüber, dass ein Zweitrad gesucht wird. Erwähne nicht vor dem Rad die ultraleichte Carbon-Maschine, mit der du in den Bergen warst. Sprich vor dem Rad am besten überhaupt nicht über andere Räder! Alles wegen des schlechten Gewissens.
„Trondheim-Oslo“, flötet es jetzt.
„Quatsch, da waren wir doch gar nie“, sage ich.
„Hätten wir mal sollen! Da könnten wir jetzt diesen Preis gewinnen“, sagt das Rad.
„Da gibt es keinen Preis, da macht nur einer Fotos und schreibt was dazu!“
„Fotos? Vielleicht dann mal ein neues Lenkerband?“
„Bestimmt nicht jetzt im Winter, und ich glaub‘ eh nicht, dass die sich für uns interessieren“, sage ich.
„Wer’s nicht mal probiert, hat schon verloren“, sagt das Rad.
„Ja ja“, sage ich. „Samstag wird jedenfalls erst mal gefahren.“
Wird wirklich Zeit, dass wir wieder auf die Straße kommen.
Wer bzw. wen eine besondere Geschichte mit seinem Rad verbindet, kann sich beim Tour Magazin „bewerben“. Wichtigste Infos und ein paar Fotos soll man an „leseraktion@tour-magazin.de“ schicken. Ein Einsendeschluß ist nicht angegeben. Gesehen in der Februar-Ausgabe.
Nachtrag am 13.02.16: Den Radmarathon in Rockenhausen gibt es noch. Eigentlich sollte man da noch mal… wenn das nur nicht so weit weg wäre! Es fahre hin, wer kann! Wenn die Verpflegung nur halb so gut ist wie damals – und das ist sie ja meistens, wenn das Event überschaubar ist – dann ist man dort im Schlaraffenland unterwegs!
www.rsf-donnersberg.de/marathon.html
12/02/2016 at 0:01
Herrlich, Du sprichst mit Deinem Rad. Es ist es wert, mit ihm gefühlvoll zu kommunizieren. Schließlich trägt es uns klaglos und zuverlässig – Tag und Nacht, Bergauf, bergab. Zeit, wieder mehr Zeit mit ihm zu verbringen! mein Colnago ruft gerade aus dem Keller zu mir: Hol mich endlich rauf, ich will auf die Straße!
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12/02/2016 at 0:55
Lieber Dietmar, Dein Colnago ist ja momentan auch ein wenig im Rückstand hinter dem Basso, wenn ich das recht verfolgt habe? Wie man da „Gerechtigkeit“ schafft, das musst Du mal erklären! Das habe ich ja noch vor mir…
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13/02/2016 at 15:25
Liebe Eva, Du hast mich erwischt! Mit dem Basso fahren und über das Colnago reden. Aber: versprochen – wenn der Split von den Wegen geräumt ist, hebe ich das edle Teil wieder an die Sonne. Und im Vertrauen. Über die Jahre weiß die Colnago-Randonneuse, dass ich sie nicht versauern lasse.
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13/02/2016 at 21:36
Na ich denke, es wird genug für all Deine Räder abfallen, bei den vielen Stunden im Sattel. Die können sich nicht beschweren! Ich freue mich auch schon auf geräumte Wege, heute sah es teilweise schon ganz gut aus. Das Frühjahr kommt… bald!
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19/02/2016 at 18:25
Schön gewickeltes Lenkerband! Es muss ja nicht immer schwarz sein 🙂
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19/02/2016 at 18:38
Oh je, es ist eher schmutzig-abgegriffen-grau… armes Verago 🙂
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