Kürzlich war es wieder so weit. Samstag in der Früh, 2 Grad plus, Hausrunde. In der Ferne taucht ein Rennradler auf, und obwohl ich gegen eine frische Brise aus Osten in sehr gemäßigtem Tempo unterwegs bin, wird er rasch größer.

Beim Näherkommen registriere ich, dass der einen seltsamen Fahrstil pflegt. Die Knie machen eine asynchrone Achterbewegung, die auf mich in meinem schlaftrunkenen Zustand für ein paar Minuten geradezu hypnotisch wirken. Verletzt, am Ende, ältere Generation? Völlig egal, immerhin fährt da einer. Grundsätzlich positiv.

In Hörweite gesellt sich ein ebenso unrhythmisches Knacken und Quietschen, ja, geradezu Knarzen des Rads vor mir dazu. Nachdem ich ein paar Hundert Meter in einem gewissen Abstand hinter dem Herrn herumgelungert bin, finden meine Ohren, dass es Zeit wird, weiter zu ziehen.

Vermutlich noch bevor ich überhaupt laufen konnte, hat mir der Coach eingebläut, wie man möglichst demoralisierend überholt. Es ist einfach. Ganz schnell vorbei fahren und es ganz leicht aussehen lassen. In meiner Familie gibt es viele Begriffe für diesen Vorgang. Im letzten Jahr habe ich der Sammlung das, wie ich finde, sehr bildhafte „Absprengen“ hinzugefügt. (M. war empört, als ich es in Wort und Tat an ihm testete.)

Hier ist das bestimmt nicht nötig, die Kräfteverhältnisse sind per se klargestellt. Aber große Überraschung: das Knarzen verstummt nicht. Das Knarzen wird etwas hektischer, das Knarzen nistet sich eindeutig hinter mir ein.

Was zur Hölle soll das? Wie kommen wildfremde Menschen dazu, sich ohne ein Wort dran zu hängen? Maaaann, wenn Du Hintern glotzen willst, fahr‘ heim, wenn Du noch kannst, und hol‘ Dir ein Nackt-Heftchen! Wüte ich so vor mich hin, bis mir einfällt, dass der Hintern jetzt auch bald Mitte Vierzig ist und wohl kaum einen Grund darstellt.

„Die reden halt gern mal mit einer jungen Frau“, sagte der Coach, wenn ich mich früher nach dem Radmarathon beschwerte, dass mich wieder wer angequatscht hatte. Vorzugsweise am letzten Pass, wenn ich die einholte, die sich vorher rund gefahren hatten. Aus dieser Zeit kenne ich auch sämtliche Erklärungen, die ein Radler für mangelnde Geschwindigkeit parat hat, sie wurden mir ungefragt mitgeteilt.

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Ist das der Grund? Ist es so unerträglich, dass eine Frau mal schneller fährt? Auch wenn der Kollege sich eindeutig einer anderen Alters- oder Gewichtsklasse zuordnen darf? Oder ist es ein geschlechtsunabhängiger Jagdinstinkt? Reine Gedankenlosigkeit?

Denn was mich nervt, ist vor allem diese grußlose Art. Ich bin schon mal fast in den Graben gefahren vor Schreck, weil auf der einsamsten Straße der Welt plötzlich einer hinter mir erschien wie so ein Geist. „Ich bin dran“ reicht doch schon. Ein „Allez, allez!“ fände ich noch lustig. Wenn nicht mal dazu genug Puste ist, hält der doch eh nicht mein Hinterrad. Und das sind dann die Kollegen, die sich so gern mit ihrer Geschwindigkeit brüsten?

Der Wind und seine Kräfte, sie erhitzen nicht nur das Gemüt der Rennradfahrers.

Vor kurzem fiel mir der Krimi „Waidmannstod“ von Maxim Leo in die Finger. Die Geschichte spielt zwischen Berlin und Bad Freienwalde, direkt in meinem Hausrunden-Radrevier. Verwendete Ortsnamen sind ein Gemisch aus tatsächlich vorhandenen Dörfchen, der ermittelnde Kommissar Voss ein unfreiwillig heimgekehrter Vogelfreund, der am liebsten im Wald nachdenkt. Für einige Abende bin ich sehr gerne zusammen mit ihm nach Vorwerk geheizt (er natürlich im Auto), um den Verdächtigen erneut zu vernehmen, und wollte deswegen eigentlich gar nicht, dass er den Fall aufklärt.

Der Fall dreht sich um die Errichtung neuer Windkraftanlagen und die damit verbundenen Streitigkeiten. Auch im echten brandenburgischen Land, immerhin eines der Bundesländern mit den meisten Windrädern, stören sich betroffene Anwohner an deren möglichen Auswirkungen auf Mensch und Umwelt.

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Ich weiß nicht, ob es wirklich das Vorwerk aus Maxim Leos Krimi „Waidmannstod“ ist, aber ich stelle es mir gern vor.

Mit der ersten „Atomkraft – Nein danke“-Welle groß geworden, ist für mich per se alles gut, was Strom erzeugt, ohne dass Atom drauf steht. Aber so einfach scheint es nicht zu sein mit den alternativen Energiequellen. In Brandenburg läuft derzeit sogar ein Volksbegehren Windkraft. Es setzt sich dafür ein, dass die Anlagen in einem Mindestabstand zu Wohnsiedlungen gebaut werden, und dass keine Bäume neuen Werken weichen müssen.

Wälder gegen Windkraft?

Das fühlt sich ein bißchen so an, wie im Supermarkt vor Bio-Limetten aus Argentinien zu stehen. Ein Widerspruch in sich. Anderswo gibt es dann mühsame Versuche, Bäume erst einmal zu pflanzen. Daran kann man sich auch rennradelnd beteiligen, etwa bei der Aktion Trees Connect, die zum Ziel hat, den Europaradweg R1 mit Ulmen zu säumen (gerade heute gesehen bei Radsport-News).

Was ist richtig? Wer vermag noch zu überschauen, wie man am besten mit den Ressourcen unseres Planeten umgeht? Und können wir bitte alle zusammen künftig gründlicher die Geräte ausschalten, die wir gerade nicht brauchen?

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Der Rennradfahrer ist zumindest moralisch fein raus, er schont die Umwelt, solange er nicht mit Gel-Verpackungen um sich schmeißt oder Autofahrer durch seine Anwesenheit reizt, die dann gleich beim Überholen noch mal das Gaspedal durchdrücken müssen.

Der Rennradfahrer nutzt beschämenderweise aber auch gern die Windräder, um sich auf die aktuelle Windrichtung auf der Hausrunde einzustellen. An diesem Morgen verraten mir sie, dass ab der nächsten Biegung der Rückenwind mein Verbündeter ist. Also noch mal Schwung holen, und das Knarzen an meinem Hinterrad ist Geschichte.

Während ich zufrieden in den nun wieder stillen ländlichen Morgen hinein kurble, hoffe ich, dass die schönen, alten Brandenburger Wälder dieses Schicksal nicht allzu bald teilen müssen. Ich bin sicher, Kommissar Voss würde das auch so sehen.