Es pladdert gegen das Fenster unseres Dachzimmers im Alten Wirtshauses, einige Kilometer oberhalb des Kurorts Hartha, Startort des heutigen Radmarathons, als ich um kurz nach fünf erwache. Es ist echtes Tante-Gilla-Wetter.

Meine Tante Gilla ist einer von jenen Menschen, deren sportliches Engagement vor allem im Verbalen stattfindet. Gern werden große Taten und Touren angekündigt, und je näher der Zeitpunkt der Durchführung rückt, desto unüberwindlichere Hürden tun sich auf. Ein Wetterumschwung ist ein beliebtes Vehikel. Meine Tante Gilla steht dann morgens um halb sechs an meinem Bett und flüstert „es regnet!“ Es klingt auswegslos, und immer auch ein bißchen froh.

Normalerweise ist es an mir, sie zu überreden, doch erst einmal die weitere Entwicklung von Tag und Wetter abzuwarten. Heute fühle ich mich selbst unüberwindlich. Heute bin ich Jedermann statt Trimmfahrer. Nix trainiert und letzte Woche krank gewesen. Na gut, so schlimm war es nicht, ich habe nur schlecht geschlafen und mich schon gestern unendlich schlapp gefühlt. Nach Radfahren ist mir zur Abwechslung überhaupt nicht.

Aber wo wir schon mit unserem Robben & Wientjes-Teamfahrzeug stundenlang im Stau ausgeharrt haben, wo wir die zehnminütige sächsische Predigt unserer Wirtin über uns haben ergehen lassen, dass wir wegen einer Mahlzeit nach 20 Uhr abends aber nun wirklich ihren Mann hätten anrufen müssen. Wo wir schon im „La Bella“, einer absurden Kombination von indischem und italienischen Restaurant, ein (wenn auch gutes) Abendessen in einem wirklich scheußlichen Ambiente hinter uns gebracht haben. Wo doch alles bereit liegt!

Nur der Radcomputer, den vergesse ich prompt im Hotel, als M. mich angesichts des nur langsam versiegenden Regens, angesichts meiner offensichtlichen Kläglichkeit die paar Kilometer zum Start fährt. Der sieht mich lange an. Ich rechne heute mit dem Schlimmsten, ich rechne hier und jetzt mit einer Trennung.
„Ich fahre noch mal hoch und hole dir den“, spricht er die erleichternden Worte.

Ich melde mich an, wie gut, die Startnummer kann direkt ans Rad, ich muss nicht mehr am Trikot rumzuppeln, bin zu nervös. Mir ist seit dem Frühstück übel, der Puls rast, die Beine dagegen sind wie Blei, hängen nutzlos am Körper herum.

Viel zu spät bin ich diesmal aufgeregt. Drei Tage vorher muss das anfangen und am Vorabend abflauen. Schlechtes Timing, schlechte Vorbereitung. Lange Strecken ja, aber bis auf Sizilien keinen einzigen Höhenmeter. Heute sollen es 3.300 werden, und ich weiß nicht mal so recht, wo die sich verstecken.

Dafür ist das Verago gerüstet, es soll ja seine Letzte Große Fahrt werden, bevor das Jaegher (wenn es jemals fertig wird) die kniffligen Fälle übernimmt. Das Verago hat von jeher eine stolze und meines Wissens ungewöhnliche 53/40 Kettenblattkombination. Da kann man nicht einfach eine Kompaktkurbel dranflanschen. Dafür hat es ein desserttellergroßes 28-er Ritzel bekommen. Sollte reichen für die 5 Kilometer lange 10%-Steigung des Mückentürmchens, oder?

Was kann eigentlich Schlimmes passieren, wenn ich nicht schnell genug bin heute, habe ich am Abend zuvor noch sinniert. Eigentlich doch nur, dass ich das Zeitlimit überschreite und keine Urkunde bekomme. M. lachte laut auf. „Ich kann dir ja eine malen!“

Am Start kommt die Sonne heraus, ein vom Regen frisch gewaschener Morgen, die Stimmung könnte schön sein. Der Veranstalter erzählt irgendwas über die Steigungen, ich kann mir nichts davon merken.

Um mich herum die einschlägigen Logos. Super Giro Dolomiti, Nove Colli, Ötztaler, eine überschaubare Truppe. Auch ein MSR-Trikot ist dabei. Lange habe ich zwischen dem Erztaler und der Mecklenburger Seenrunde, die ebenfalls heute stattfindet, gerungen. Am Ende siegten die Berge. Die brauche ich, nachdem ich mich für einen Marathon mit sehr vielen Höhenmetern später im Jahr angemeldet habe. Größenwahn!

Um 7:02 Uhr rollen wir los, alle anderen treten mühelos über die ersten Wellen, ich schaffe keine zwei Minuten lang dran zu bleiben, ich bin sofort raus. Keinerlei Kraft auf dem Pedal. Schwer und bockig klebt das Verago unter mir.

Wie soll ich das heute überstehen? 230 Kilometer!

Während die vor mir einfach so weg rollen, kratze ich zusammen, was mir einfällt. Auf die Landschaft konzentrieren. Nur an die nächsten Tritte denken. Für mich fahren. Das habe ich nun vom Lästern übers Mentaltraining. Heute könnte ich ein paar gute Gedanken brauchen. Schweinekatze, where are you?

Nach ein paar Kilometern sammeln sich ein paar, die haben ein halbwegs annehmbares Tempo, an denen kann ich mich festhalten, wenn auch nur ganz hinten und mit Abstand. Gott behüte, dass die auf die Idee kommen, durchzuwechseln!

Der im MSR-Trikot fährt auch mit. Die Hose hat er hinten nass von der Straße, wie wir alle, und wie ich da so hinsehe, sehe ich auch, dass man da mehr sehen kann, als der vermutlich will. Ist die durchgewetzt? Sieht das immer so aus? Eine Assos-Hose! Hilfe, ist das bei mir etwa auch so, verdammt, M. hätte das doch mal bemerkt? Hektisch blicke ich um mich, aber da sind noch mehr Assos-Hosen, alle blickdicht, puh.

Ein Platten direkt vor mir, schon nach zwanzig Kilometern. Gefluche, der Mann fährt seitlich ran, ich bleibe kurz stehen, und bis der sich ausgekippt und fertig geflucht hat, da ist mein mühsam aufgespürtes Grüppchen auch schon auf und davon.

Also soll es das sein heute, Verago und ich. Scheiß drauf, ich passe so eh nicht in eine Gruppe. Schleiche ich also mein Tempo allein.

Dafür die Landschaft. Es geht hinauf Richtung Hermsdorf im Erzgebirge, wir gewinnen nur allmählich an Höhe, immer wieder sind kleine Abfahrten dazwischen. Die Wellen machen die Gegend spannend. Ab Klingenberg die ersten weiten Blicke über die Anhöhen, grandios ist das. Streichelweich steht das Korn auf den Feldern. Das Grün der Bäume und Felder wirkt heller und saftiger als daheim, mehr Gelbanteil, nicht so ein langweiliges Einheitsgrün.

Wenn mir nur nicht jeder Hügel vor Augen führen würde, dass ich heute nichts kann. Heimtückisch verbergen sich kurze Anstiege hinter den Kurven, unberechenbar jäh bauen sie sich auf. Ein ehrlicher Pass, da kannst du vorher nachlesen, was auf dich zukommt. 10, 15 Kilometer bergauf, da weißte Bescheid. Niemand beschreibt aber im Detail diese Straßenzüge hier mit dem ganzen kurzen Auf und Ab, und wenn, dann könnte sich das eh kein Mensch merken.

Wenigstens träufeln Höhenmeter rein. Wenn eines heute auf dem Tacho angenehm anzusehen ist, dann ist es die Anzeige für die erledigte vertikale Wegstrecke.

K1 schon nach 30 Kilometern. Langsam ist mir nicht mehr übel. Nur noch 200 Kilometer, theoretisch, schöner Trost.

Da, Streckenteilung. 80 km. Auf keinen Fall! Das Mückentürmchen, die zweite Auffahrt ins Erzgebirge, die nehme ich mit. Kann ich mir einreden, ich habe einen Pass im Kasten, habe wenigstens ein bißchen Höhe gemacht. Wenn es dann nicht geht, fahre ich zurück. Das ergibt keine der offiziellen Routen, aber egal.

Einer in der Kluft vom RK Endspurt Cottbus fährt vor und quatscht mich an. Schönen Blog hätte ich, und „der Alex“ käme auch gleich. Fremder Mensch liest meinen Blog! Das gibt Auftrieb. Der Alex, den haben wir bei der letzten RTF getroffen, und ich freue mich, heute ein bekanntes Gesicht zu sehen, das rückt die unfähigen Beine kurz in den Hintergrund.

Aber dass der fremde Mensch mich siezt, darauf nage ich noch ein paar hundert Meter rum.

“Alte Frau in neuem Trikot bleibt halt trotzdem alte Frau“, würde mein Bruder vermutlich anmerken. Was ist das nur für ein Familientanz heute in meinem Kopf. Und wo bleibt der Coach, dessen Sprüche ich wirklich brauchen könnte? Stunden später wird der eine SMS schreiben, ich könne ja abkürzen. Eine Begebenheit, die ich hier kurz notiere und fortan aus meinem Kopf lösche!

Irgendwie erreiche ich den höchsten Punkt, kurz danach wieder Streckenteilung. „Fährst du die 230?“, ruft mir einer im Abbiegen zu. Es scheint so.

In engen Serpentinen geht es nach Hrob in Tschechien, das Verago und ich sind eine Katastrophe beim Abfahren, kein Wunder, 50 Höhenmeter am Stück ist das längste, was wir in den letzten Jahren zusammen hatten. Bremsen uns da irgendwie runter, stolpern ungut um die Kurven. Die RK Endspurtler sind längst voraus, besser so, die ziehen mich vermutlich schon an guten Tagen ab.

Graupener Pass, genannt auch Mückentürmchen, ab Krupka geht es los, aus dem Städtchen raus sollen es kurz 12% sein. Ich stemme mich in die Pedale. 28er Ritzel, dennoch mühsam. Aus dem Sattel gehen, und danach nichts zum Zurückschalten haben, ätzend ist das. Umdrehung für Umdrehung, jede einzelne ist anstrengend.

Hinter dem Ort steht „15%“ auf die Straße gepinselt. Zwei Meter weiter hat jemand eine Teufelsfratze auf den Asphalt gemalt. Sehr treffend, und nicht lustig! Tritt für Tritt, sage ich mir. Langsam, und immer weiter.

Ich fange an, Atemzüge zu zählen. Oder Kurbelumdrehungen, ich weiß nicht, was ich zähle. Hinter mir ist jetzt gar keiner mehr, das ist vielleicht ein lausiges Gefühl. Aber ich fahre jetzt hier hoch. Ich trete. Atme. Zähle. Bei 3.000 bin ich längst oben, beschließe ich. Alle zwanzig Atemzüge die Höhenmeter checken und mich freuen. Dann alle 40. Dann nur noch alle 100.

Radfahren an so einem Tag. Es tut nicht direkt weh. Es ist eher so ein Gefühl von totaler Saftlosigkeit. Kein Druck auf der Kurbel. Kein Vorankommen. Als führe man die ganze Zeit durch Sirup.

Es wird etwas flacher, ich bin so dankbar. Ich kriege die Kurbel halbwegs rund. Ich weiß nicht, wie weit ich gezählt habe.

Irgendwann dieser Ort, Horni Krupka. Kurz danach sollte doch der Pass erreicht sein. Der zweite Kontrollpunkt. Jetzt auch noch rechts hoch zum Parkplatz.

70 Kilometer erst, aber die zweite Auffahrt geschafft. Das ist schon mal was!

Biertische biegen sich unter der Last der Speisen. Bestrichene Brote, Kuchen, Bananen, Apfelstücke, isotonische Getränke, Cola, Salzstangen, Riegel, Gummi-Zeug, Mangel ist heute nicht. So muss das sein, auch wenn ich keinerlei Verlangen habe zu essen. Ich würge etwas rein, den Coach im Geiste, wichtig heute. Und nach mir kommen doch noch welche an, sind vielleicht später gestartet, egal, es tut gut!

Die Strategie für den Tag, wenn es überhaupt eine gibt, ist, mein Tempo zu fahren und so kurze Pausen wie möglich zu machen (M., entrüstet: „Was willst du denn da kürzen, wir hetzen doch eh immer gleich weiter? Nie können wir uns mal nett unterhalten wie alle anderen bei den RTFs…“). Wenigstens das klappt, nach sechs Minuten bin ich wieder auf dem Rad.

Ein bißchen Höhenzug hoch-runter. Ich finde einen angegrauten Herrn, der vorher schon in meinem kleinen gemäßigten Pulk war. Ein angenehmes Tempo hat der, ich kann mich gut orientieren, folge ihm eine Zeitlang. Irgendwann komme ich mir blöd vor, nur so still und heimlich dran zu kleben, und sage ihm, er sei ein super Schrittmacher. Er schaut nur ganz verdutzt, „alles gloar“ kommt es sehr sächsisch zurück.

Vor K3 geht es einige Kilometer flüssig bergab, quer durch lichten Laubwald. Weiche Kurven, nicht zu steil, kein Verkehr, perfekt! Über der Brandenburgischen Flachland-Verweichlichung habe ich völlig vergessen, wie großartig Abfahren sein kann. Das Verago, es summt und dröhnt unter mir, als wir die 60 km/h streifen. Ich muss grinsen, wahrscheinlich zum ersten Mal heute. Iggy Pop gesellt sich zum Familienzirkus. See me driving down the street, I’m bored with looking good. Ich singe laut und johle auch ein bißchen, weil das hier so geil ist! Wenn ich die 230 doch mache, dann komme ich hier noch mal entlang. Das wär schon was!

Und diese verfluchte Urkunde. Plötzlich wird mir klar, ich muss die einfach haben. Beweis und Belohnung für diesen Tag!

Vorher muss ich aber noch mal hoch. Nach K3, letzte Streckenteilung, die ersten 100 km sind durch, das ändert nur leider heute gar nichts, geht es wieder aufwärts. Eine Art Wand aus dem Ort heraus. Ich dachte, hier wäre das jetzt erst einmal flach, im weiten Bogen läuft die Strecke auf Dresden zu, bevor sie dreht und sich zum dritten Mal hoch ins Erzgebirge windet. Hänge also wieder in einem Anstieg, kein Plan für wie lange.

Das Delirium setzt heute auch früher ein als sonst. Selbstgespräche, fast Tränen, als ich die 130 habe, die restlichen Kilometer nur noch zweistellig sind. Dass Fahren so unterschiedlich sein kann. Letzte Woche noch über den Oderdeich getanzt. Alle paar Minuten fünf Kilometer weg, tscha-tsching! Hier so ein Geschleiche, grauenvoll.

Trotzdem schreiten die Kilometer voran. Ab 150 km fühle ich mich nicht mehr so viel anders, als ich mich sonst nach 150 km fühle. Beim Rumrechnen stelle ich außerdem fest, ich liege gar nicht so übel in der Zeit. Etwas schneller als beim Tannheimer Tal Radmarathon im letzten Jahr, der mit gleicher Distanz und Höhenmetern heute so was wie die Referenzgröße ist. Das habe ich nicht erwartet, das macht Mut!

Es geht das Müglitztal entlang, kaum merklich bergan. Eigentlich mag ich das nicht. Heute könnte ich die Straße umarmen, für die Gleichmäßigkeit, die mir endlich ein wenig Rhythmus ermöglicht, und dafür, dass sie langsam aber stetig Höhenmeter auf meinen Radcomputer zaubert, die sich nicht gar so mühselig anfühlen. Das kann gern noch 20 Kilometer so weitergehen!

Kleine Ziele jetzt. Die 160, die 170. Die letzte längere Steigung vor Altenberg, es wird nicht mehr so steil, ich kann das wegtreten. Einer hält am Wegesrand, auch das hilft, dass andere hier auch leiden. Die Straße wieder schmal, einsam und schön.

Und dann bin ich oben, auf dem Höhenzug. Es fängt an zu regnen, aber nun sind es noch – was, 50 km? Soll es regnen! Warm genug ist es. Nochmal die tolle Abfahrt, nochmal der Kontrollpunkt von den 100 km, nur noch versprengte Gestalten, die packen hier schon die Bierbänke ein. Ich nehme einen Kaffee, „jetzt geht es nur noch runter“, sagen die.

D-Zug Richtung Dresden. Plötzlich läuft es, stetig abwärts, das 53er surrt, endlich etwas Kraft auf den Pedalen! Kleine Gegenanstiege, abgebremst, runterschalten, aber zum Verzweifeln sind sie nicht mehr. M. hat gesimst, dass es vor Hartha noch einmal hochgeht (und dass er betrunken das Mikro übernimmt, wenn ich nicht bald komme), alles klar, trete ich jetzt auch weg. Noch 20 km, 16, noch 11. Ich bin froh, froh, froh!

Tharandt kommt in Sicht, der Ort zieht sich lange, dann der Abzweig nach links, schlängelt sich durch einen Zauberwald, aber steil ist es nicht mehr.

Und dann, nach diesem unbegreiflichen, schrägen, endlosen Tag, biege ich in die Straße ein, wo Start und Ziel aufgebaut sind. Werde auf den Gehsteig gelotst, weil gerade das Kinderrennen läuft, dahinter Hüpfburg, Sonnenschirme, Radfest, großer Trubel. Am kleinen Zielbogen aufmunternde Rufe, einer vom veranstaltenden Radteam klatscht mich ab, Endspurt-Alex steht auch da und klatscht mich ab, fast ein bißchen Profi-Feeling ist das, ein toller Schlusspunkt!

Und dann gehe ich diese verfluchte Urkunde holen. Nicht gerade die schönste in meinem kleinen Stapel. Aber diese hier, die fühlt sich wirklich, wirklich verdient an!

Den netten Damen, die mir den Finisherbeutel mit Nudeln in die Hand drücken, sage ich dann tatsächlich, dass es mir bei ihnen heute sehr gut gefallen habe. Das solle ich doch gern mal im Internet bekannt geben, erwidern die.

Was ich hiermit getan habe.

Strecke: 224 Km
Höhenmeter: 3.300
Reine Fahrzeit: 8:40 h
Schnitt: 25,7 km/h (und stolz drauf!)
Unterwegs: 9:20 h

Danke an