Ich könnte behaupten, es habe an diesen endlosen Sommertagen gelegen, oder an der Hitze. Ich könnte sagen, das Jaegher wollte an den Strand. Aber so war es nicht. Es fing damit an, dass A. mich verlassen hat. Kollege A., Ex-DDR-Schwimmkader, nun auch Ex-Kollege.

Genau genommen hat er nicht mich verlassen, sondern unser gemeinsames Arbeitsumfeld. Das macht aber keinen großen Unterschied. Nach dreizehn bewegten Jahren fühlt es sich an wie die ungewollte Scheidung einer doch recht glücklichen Vernunftehe.

A. – immer mitteilsam, immer verlässlich – hat mir einen Link zu dem Ferienhäuschen an der Ostsee geschickt, in dem er sich die nächsten zwei Wochen samt Familie einnistet. Erst ist es als Scherz gemeint, als ich Komoot aufmache. 269 Kilometer. Zwei Tage, schreibt A. Einer, schreibe ich zurück. Und schon hat es sich festgehakt.

M. sorgt unerwartet für die Entscheidung, als er sagt, na klar, mach doch, viel Spaß!

Wie stellt man sich auf über 300 Kilometer ein (zum Bahnhof will ich auch noch)? Gar nicht! Dienstag gedacht, Samstag gemacht, muss auch mal sein. Die 6.000 mAH-Powerbank und M.s Klipplichter zusammensuchen, Sattelstreben abkleben, Kontrollpunkte markieren. Ich kenne ja das nördliche Revier, da kann meilenweit nichts los sein. Besser man weiß, wo sich die nächste Tankstelle versteckt.

Ohne großes Nachdenken sitze ich also am Samstag um 4:34 Uhr auf dem Rad, raus nach Norden, vorbei an den Berliner Nachtgestalten, ich hoffe, die haben nicht allzu viele Bierflaschen zerdöppert. Es dämmert bereits.

Der erste Abschnitt führt auf wohlbekannten Straßen zum Voss-Kanal, fast schon langweilig, gut fürs Aufwachen.

Und wie schön das goldene Licht auf den Feldern liegt! Der Mais wirft mannshohe Schatten. Fröstelig ist es vor der Stadt, die Temperatur sinkt auf 12 Grad, weiße Schleier auf den Feldern. Seit den frühen Radjahren meine Lieblingsansage in den Verkehrsnachrichten (wenn es so etwas gibt): Nebel in den Niederungen. Reif ist in das Gras gefallen, Sonne hat’s getrunken, Wasser, Kiesel, Weißer Stern im Wiesengrund versunken. Erinnerung an die Schulzeit.

Durch den Wald vor Liebenwalde, einem sehr geraden Stück, schalte ich doch noch die Lichter an. Tony-Martin-Strecke, normalerweise kann man hier nur den Kopf unten halten und durchheizen, um es hinter sich zu bringen. Das geht den Autofahrern in der gespenstischen Ruhe des Morgens vielleicht ähnlich.

Die Aral-Tankstelle in Zehdenick ist mein erster Kontrollpunkt, 55 Kilometer. Erst um sieben Uhr soll sie öffnen, aber ich habe Glück, drinnen wird schon der Boden gesaugt, ich bekomme meinen Nachschub früher. In den Dörfern schläft alles noch, Fenster im Erdgeschoss stehen sorglos weit offen, lassen frische Nachtluft hereinströmen. Mehr Ahnung von Menschen als am Tag.

Noch ein Stück schnurgerade Straße, auf der man dem gelegentlichen Auto solange hypnotisiert hinterher starrt, bis es stecknadelkopfgroß in der Ferne verschwindet, dann knickt mein Weg leicht nach Westen und der Wind kippt angenehm über die 90 Grad.

Man kommt so in seinen Rhythmus. Alle Stunde ein kurzer Halt, Beine vertreten, kein Leichtsinn heute mit dem Essen. Vor acht Uhr im Wald stehen, irgendwo bellt ein Hund, es raschelt. Ansonsten feierliche Stille. Ich versuche, über A. nachzudenken.

Vor Fürstenberg ist die Straße schlecht, ich arbeite mich vor, den Blick konzentriert auf dem Asphalt, da sehe ich aus den Augenwinkeln jemanden neben der Straße stehen, ein Reh, gerade zwei Meter von mir entfernt, ich schaue direkt in große braunen Augen. Erschrocken zucken wir beide zusammen und brechen in entgegengesetzte Richtungen aus.

A. hat auch Rehe gesehen, als er mit dem Rad zur Arbeit fuhr. Wollte er immer mal machen, hat er dann erst kurz bevor er aufhörte geschafft. Waren doch 40 Kilometer bei ihm, ein Weg. Ich bekam die Story mit den Rehen, M. erzählte er, er habe ständig die Drei vorne auf dem Tacho gesehen. Männer halt.

Ein Stück Bundesstraße, das meiste habe ich ausgeplant, dieses hier ist länger als gedacht. Laster dröhnen an mir vorbei, ich beiße die Zähne zusammen, will nicht zu schnell fahren, der Tag ist noch lang. Auf halber Strecke endlich ein Radweg. Ich versinke in Gedanken, warum ist mir dieser Abschied so schwer?, merke es erst, als ich plötzlich an einer Ampel stehe.

Es riecht intensiv nach warmen Nadelbäumen. Die Sommerferien haben gerade begonnen, und ich fahre ans Meer! Ein Tag wie ein ganzer Urlaub.

Neustrelitz, die ersten 100 sind weg, das fühlt sich anders an an einem Tag, an dem noch über zweihundert kommen sollen. Zur Feier gibt es eine heiße Wurst im Brötchen, morgens vor 9 Uhr, hatte ich auch noch nie. Bauarbeiter-Style, schreibt M., ja wirklich. Die nächste Etappe ist die erste, probiere ich zu denken, Randonneurs-Trick.

Und schlage mich ins Mecklenburgische. Klein Vielen, Groß Vielen, Ankershagen. Verblichene Herrenhäuser, das Korn reif und rötlich, kleine Anhöhen, über die sich schmale Straßen schlängeln, hie und da von Bäumen flankiert. Zwei kleine Füchse tollen am Straßenrand entlang, einer schleppt ein Stück Plastik mit sich. Was ein Paradies! Ich muss mit M. wiederkommen.

Die Temperatur steigt. Eine Lindenstrasse gibt es bald in jedem Örtchen, klebrig die Reifen, sammeln den Unrat. Zwischen Kilometer 106 und 176 keine Tanke, ich bin gewappnet.

I drove all night to get to you, summe ich ohne Nachzudenken vor mich hin. Die Cindy-Lauper-Version. Kommen mir diese 80er-Hits immer in den Sinn, weil ich in diesen Jahren rennradmäßig sozialisiert wurde? Gebeten habe ich darum bestimmt nicht.

Und diese irren, rostrot schimmernden Kornfelder. Dutzende Fotos mache ich, und doch gibt keins diese unglaubliche Farbe wieder. Sobald die Straße frei ist, Telefon raus und knipsen, Gummibärchen aus der Trikottasche pulen, Nase putzen, alles auf dem Rad. Ich fühle mich wie so ein Strasser, nur ohne Pacecar, jawui!

Vor 11 Uhr sind die ersten 150 im Kasten, am Varchentiner See stehe ich im Schatten und schreibe dem Coach. Faulenstorf, Hungerstorf. Essen nicht vergessen.

Die Tanke in Malchin ist von einer Motorrad-Gang belegt, zwischen dem ungastlichen Knarren der Motoren verschlinge ich eine Brezel und fülle nur schnell die Flasche. Nächste Ausfahrt Gnoien (auch so ein Zwergenname), da sind die 200 durch, da gönne ich mir eine längere Pause. Tour de Tankstelle wird das heute, was habe ich mir eigentlich dabei gedacht, ein Stop alle 50, später alle 30 und 20 Kilometer, ist ja vernünftig, weil es sicher ist, weil es meistens schnell geht, aber malerisch ist anders.

Dennoch, Feiern mit Zwetschgenkuchen und Fanta, der Marschplan bis hierhin ist erfüllt, ab jetzt wird improvisiert, Beine, Wind, Tempo, ich habe keine Ahnung, wie sich das Fahren nach 200 Kilometern gestalten wird.

Es gestaltet sich zauselig. SMS mit A. austauschen, aha wo steckst du denn und ich habe nur noch 2% Strom, wir sind am Strand von Ahrenshoop, wie weit ist das noch, wann wäre ich da? Prompt verschätze ich mich mit dem verbleibenden Weg, es ist heiß geworden, 17 Grad mehr als am Morgen, trocken und staubig, und Richtung Darß nimmt der Verkehr zu. Dass die nächste Etappe die erste sein soll, glauben die Beine jetzt auch nicht mehr.

Ribnitz ist meine letzte Plantankstelle (was habe ich Tankstellen satt!), eine Cola, noch mal die Bärchen auffüllen, dann geht es ab auf die Halbinsel, im Konvoi, mitten am Tag, was fahren die denn alle in beide Richtungen hier, können die jetzt nicht am Strand sein, wo das Wetter so toll ist?

Diese Radwege verdienen mal die Bezeichnung „stückig“, und da, wo es ein paar Hundert Meter ohne Ampel und Hin und Her den Weg entlang führt, da sind dann Urlauber unterwegs. Ich bin inzwischen auch nicht mehr schnell, aber so? Die rollenden Massen halten mich davon ab, den Radweg auf dem Damm zu nehmen, den ich immer wieder durch die Büsche blitzen sehe. Als ich mich doch dazu durchringe, ist der ein Feldweg. Ein Fußpfad. Eine Sanddünne. Teils trage ich das Rad, das inzwischen weiß vom feinen Staub ist. Ahrenshoop kommt nicht näher!

Allmählich bekomme ich leichte Panik, denn ich will ich ja noch weiter, über Prerow und Barth wieder runter nach Stralsund, den letzten Zug erwischen. Während der Morgen vor sich hin schlich, rast der Nachmittag voran.

A. will vor zur Straße kommen, schickt seine Koordinaten. Wieder runter vom Radweg, und da sehe ich ihn schon, ganz in der Ferne zwischen Fremden, wie man eben nur jemanden erkennen kann, der einem seit tausend Jahren vertraut ist.

Da stehen wir nun, halb fünf ist es inzwischen, ich habe nicht die Ruhe mich zu setzen, will bald weiter. A. ist beeindruckt von den Kilometern, erzählt von einer Armstrong-Doku und mal wieder von diesem Typen aus der Kelly Family, der beim RAAM mitgefahren ist. Na vielen Dank, jetzt weiß ich, was den Rest des Tages in meinem Kopf läuft!

Ich erzähle nichts von meiner linken Wade, die seit 50 Kilometern mehr und mehr schmerzt. Ich erzähle nicht, warum ich überhaupt hier bin. Aber ich umarme A. zweimal, in meinem 263-km-verschwitzten Zustand. Geschieht ihm doch recht.

Als ich weiterfahre, fühle ich mich wie Lucky Luke beim Ritt in den Sonnenuntergang. Lonesome cowboy bin ich aber kaum, bei den Menschenmassen, die sich noch immer über den Darß wälzen.

Eine weitere Tanke (kann sie nicht mehr sehen!). Hoch auf den Deich. Dann wieder runter. Bundesstrasse, Autoschlange, da vorne stehen sie, Blaulichter. Kann ich den farnigen Sumpf rechterhand fotografieren. Was macht der Farn hier, der passt doch nicht in die Gegend. Dies Morastige erinnert mich an die Südstaaten. Krokodile tarnen sich als Baumstümpfe. Die Ultra-Cyclisten, wann bekommen die Halluzinationen? Sicher nicht nach 285 Kilometern und wohl ebenso vielen Gummibärchen?

285, ich bin fast enttäuscht. Bis ich kapiere, da ist ja schon die Zwei vorn! Ganz frisch bin ich wirklich nicht mehr.

Hinter der Meiningenbrücke biege ich ab auf den Radweg, die Gleise entlang, und da bin ich auf einmal wieder einsam und allein. Es geht dem Abend zu, wahrscheinlich grillen schon alle in ihren Ferienhausgärten, nur ich muss noch weiter. Auf schmalen Wegen quer durch die Felder. Der Mais wirft wieder lange Schatten. Ein Fohlen auf einer Koppel rutscht vertraut unterm Hals der Mama herum.

Die vereinzelten Autofahrer werden jetzt am Abend wilder, sie donnern vorbei. Ich trödele dahin. IPhone an die Powerbank. Mal noch ein Foto machen. Habe ich die Powerbank wieder angeknipst? Alle paar Minuten anhalten. Kein innerer Fahrplan mehr. Die Wade schmerzt böse, keine Ahnung, was das ist. Kein Krampf, Treten geht ja noch. Auch kein Faserriss, dazu ist es zu unbestimmt. Weiterfahren, irgendwann hört’s schon auf.

Im Labyrinth von Barth irre ich durch die Innenstadt. 296 steht auf dem Tacho, als ich ein Schild sehe, „Stralsund 46 km“. Schock! Doch zehn Kilometer mehr! Dann fällt mir ein, das muss der Radweg an der Küste entlang sein. Ich fahre direkter, über die Dörfer.

Die Dörfer. Flemendorf, Arbshagen, Lassentin. Ich lese die Namen auf der Karte und versuche mir die zu merken und vergesse sie sofort. Drei Kilometer bis zum nächsten, machbar. Sieben Kilometer, schluck. Es hat etwas Traumgleiches. Ich hätte ein Hotel buchen sollen und einen Tag am Strand bleiben. Es war doch schön da oben. Vielleicht nächstes Jahr.

Stralsund, das Ortsschild, bei Kilometer 326. Ich kann es kaum glauben. Dann fällt mir ein, der Zug um acht, der fährt doch erst um Viertel nach. Noch mal Gas geben bis zum Bahnhof, irgendwie geht das immer! Vergiss die Fotos von Kirche und Rathaus, presche direkt vor den Ticketautomaten, schnell noch ein Bier am Kiosk, Essen keinen Bock mehr und gerade so rein ins Fahrradabteil!

Die böse Wade ausstrecken. Vor dem Zugfenster die Landschaft im Abendlicht. Feuchtigkeit sammelt sich. Nebel in den Niederungen, Morgen auf ein Neues. Ohne A. Wie gut, dass erst noch Sonntag ist.

Tour auf Komoot: erste Stunde und restlicher Tag