Die „Saison“ so einfach verstreichen zu lassen, das behagte mir gar nicht. Nach einem späten Jahresurlaub hatte ich den Oktober weitgehend in muffigen Konferenzräumen verbracht und fast schon vergessen, wie Radfahren geht. Pause machen, ja gut. Aber doch nicht ohne ein kleines Ausrufezeichen am Ende?

Ich fragte mich, wie viel noch möglich wäre. Fahren unter der Woche ist längst dem abnehmenden Tageslicht zum Opfer gefallen, und die niedrigen Temperaturen machen langsam. Eine neue längste Strecke wird es nicht mehr, zumal es kaum zehn Stunden hell ist. Aber noch einmal 300 Kilometer weg zu treten, das hätte doch etwas (meine Mutter würde wohl sagen, etwas Beknacktes, aber gut).

Ins Dunkle komme ich dabei auf jeden Fall. Ich verfüge inzwischen zwar über eine vollständige Supernova Airstream Beleuchtung, aber die Autofahrer hauen mich ja schon am Tag gern fast von der Straße.

Früh am Morgen dann eben, beschließe ich. Ich fahre einfach um 5 Uhr los, da sind die Straßen noch leer. Einfach? In den Tagen davor denke ich jedes Mal beim Aufwachen, jetzt schon zwei Stunden im Kalten unterwegs, niemals. Am Abend denke ich dann, ach doch.

Also nicht in Frage stellen. Am bewussten Samstag (7 bis 11 Grad, etwas Sonne) wie ein Roboter um vier Uhr aufstehen, anziehen und ab. Liegen bleiben kann ich an jedem anderen Tag. Wenn es nicht läuft, kehre ich halt nach zwei Stunden wieder um.

Die Frage, die ich mir am Morgen der Fahrt stattdessen stelle: Was treiben Wildschweine eigentlich im Herbst? Sind sehr aktiv, fressen sich Winterspeck an, lese ich hektisch im Netz. Nicht in Frage stellen! Die Abfahrt gelingt um 4:52 Uhr.

Bis Bernau ist Vorstadt-Infrastruktur, sind die Wege hell erleuchtet. Dahinter geht es durch einen Wald, der dicht an die Straße ragt. Ein Abschnitt, den ich an einem frühen Sommermorgen gerne nehme, kühl und erfrischend.

Jetzt liegt die letzte Straßenlaterne vor mir, während ich seit einer Stunde mit der Kälte zu tun habe, und kurz überlege ich, ob ich das wirklich möchte, nur mit meiner Supernova in die Finsternis einzutauchen. Ehrlich gesagt fürchte ich mich etwas davor. Primitive Stromberg-„Trifft ein Mensch einen Menschen, denkt er, das ist ein Mörder“-Furcht.

Aber nun bin ich schon bis hier gekommen. Ich mache das jetzt!

Prompt wuselt etwas aus der Böschung herauf, in meiner Wildschweinpanik zucke ich wild zusammen, aber es sind nur zwei Rehe, die die Straße in meinem Lichtkegel queren, die Hufe klappern auf dem Asphalt, nie zuvor habe ich dieses Geräusch bemerkt.

Wenigstens bin ich nun endgültig wach. „Da ist wohl jemand nach Lanke gerast“, wird M. später sagen. Ja, hier will ich zügig durch. Weiter nach Eberswalde wird es noch nicht heller sein, aber der Wald ist immer wieder von freiem Feld durchbrochen, und das gibt mir das Gefühl, einen besseren Überblick zu haben.

Ich beruhige mich wieder, richte die Lampe auf die Ferne aus.

Nur Fahrtwindrauschen umgibt mich, der Wald ist ganz still. Da ist ein intensiver Geruch nach Erde und Pilzen. Ein Hauch wärmerer Luft. Ein einsames Vogelschnarren, nie gehört, ist der entflohen? Langweilig ist mir jedenfalls nicht.

Und als dann noch ein Fuchs durch mein Scheinwerferlicht huscht, erschrecke ich nicht einmal mehr. Fange stattdessen an, den Sternenhimmel zu bewundern, den ich in der Stadt so selten sehe.

Den Wind im Rücken bin ich um Punkt sieben Uhr in Eberswalde, wo man mich in meiner Lieblingstanke ansieht wie eine Außerirdische. Ich will aber nur Wasser und gleich weiter. Mit der Dämmerung sinkt die Temperatur, ein paar Minuten im Stehen haben gereicht, dass ich wieder friere, ich sehne den kleinen Anstieg in Richtung Liepe herbei.

Das Castelli Gabba ist eine gute äußere Schicht, aber es liegt nicht an, und egal, was ich darunter ziehe, es wird in Kürze nass und klebt mir kalt am Körper. In der Schublade mit den Radsachen habe ich eine neonrosa Windweste von Rapha gefunden, die schon fast im Altkleidersack lag. Ich habe sie drüber gezogen, damit meine Mama sich nicht nachher noch so viel Sorgen wegen der bekloppten Autofahrer machen muss, und das hilft auch gegen die Kälte in diesen frühen Stunden.

Mit dem Licht kommt die Freude, mich aufgemacht zu haben. Pastellfarben der Himmel über dem Odertal, ockerfarben die Bäume in der frühen Dämmerung. Alle Straßen habe ich für mich allein. So ein früher, unverbrauchter Morgen – gibt es mehr Verheißung?

Hinter Oderberg geht es nach Osten gen Oderradweg, wo alle Ortsnamen auf Wutzen oder Glietzen, Reetz oder Ranft zu enden scheinen. Die ersten hundert Kilometer sind fast mühelos weggekurbelt, liegt es nun an 350 Jahres-Rennradstunden, dem Rückenwind oder daran, dass bei 300 eben die dritten Hundert den größten Teil des Spaß ausmachen.

Komoot ist schon eine ganze Weile still. Als ich das IPhone herausziehe, ist es komplett ausgegangen. Ist es ihm zu feucht in meinem Rückenfach? Der Tag wird doch jetzt nicht an der Navigation scheitern, wo ich aufgestanden bin, wo ich die Wildschweinfalle hinter mich gebracht habe! Es kommt in ein Tütchen.

Den Abzweig nach Wriezen, mein Versorgungsstopp auf dem einsamen Oderradweg, habe ich jedenfalls schon verpasst, und muss nun ein Stück nach Westen. Ein übler Wind! Vorgeschmack auf den Nachmittag, wo ich in diese Richtung nach Hause fahren werde.

Pfefferminztee an der Tankstelle, eines der mitgebrachten Brötchen mit Frischkäse, noch so ein Tipp vom Coach. Den ganzen Tag Süßigkeiten geht auch nicht. Nach gut 20 Minuten zittere ich unkontrolliert, obwohl ich drinnen sitze. 15 Minuten strampeln, dann geht es wieder, sage ich mir, während ich schlotternd Helm und Handschuhe festzurre. 15 Minuten!

Die Sonne kommt mit schwachen Strahlen und gibt ein bißchen Wärme. Auf kleinen Straßen gelange ich zurück an die Oder. Kastanien und Eichen in allen herbstlichen Farben säumen den Wegesrand. Kaum jemand ist auf der Straße unterwegs. Es könnte nicht schöner sein.

Zurück am Oderradweg ist es aber noch schöner.

Kreuz und quer stehen kahle Bäume in dieser wilden Landschaft rund um den Fluss. Weiße Kühe vor rotem Gestrüpp. Verblichene Gräser wiegen sich im Wind, dazwischen schimmert tiefblau die Oder mit all ihre Nebengewässern. Gekrönt ist dieser herrliche Anblick von herbstlich vergoldeten Bäumen, die immer wieder am Wegesrand auftauchen.

Staunend fahre ich Kilometer um Kilometer durch diese Gegend, ganz allein, alle Stunde vielleicht ein Radler, während die Sonne über dem Horizont dahin schleicht. Vergessen sind die Konferenzräume.

So oft es geht fahre ich oben auf dem Deich. Bis ich kurz vor Lebus fast hinunter geweht werde. Ich war so auf Temperatur und Sonne fixiert, dass ich die Vorhersage zur Windstärke ausgeblendet habe. Und hier nun knickt meine Strecke nach Westen, voll gegen den Wind.

Im Ort schon merke ich an der fiesen gepflasterten Steigung, dass die zurückgelegten 185 Kilometer Spuren hinterlassen. Wie zum Hohn stehen dahinter die Windräder aufgereiht, kehren mir den Rücken zu und wirbeln munter vor sich hin.

Dafür droht der Wind zumindest nicht, mich von der Straße fegen.

Es ist ein Kampf, jeder einzelne Kilometer. Nach vier oder fünf biegt der Weg wieder ab, und nun habe ich alle Mühe, mich auf der Straße zu halten, kann die Hände nicht vom Lenker nehmen. 191 Kilometer, 192.

Immerhin ist auch hier fast kein Verkehr. Bei 200, denke ich, mache ich eine kleine Pause. Und bei 200 sage ich mir, bei 205 reicht auch. If you can’t go on, just keep on going, wie der Randonneur sagt. Als Mantra, solange es geht.

Dem Randonneur ist nichts zu schwör, fabuliere ich in Gedenken an meinen Opa Teddy vor mich hin. Der Mann hatte einige lustige Lieder parat. Ein Hund rennt durch die Prärie, und sucht einen Baum, und findet ihn nie. Hauptsache Ablenkung.

Inzwischen hat es zugezogen, der Himmel ist jetzt grau. Noch nicht einmal 14 Uhr, und man könnte schon Licht anmachen. Aber die Oder in dieser herbstlichen Stimmung, das war es wert.

Es werden 213 Kilometer bis zu meinem kleinen Halt, ich muss nach dem Weg sehen und suche mir auch gleich eine Handvoll Schwürgis aus dem Trikot. Direkt neben dem Bahnhof von Briesen. In den Zug steigen kommt nicht in Frage! Wie der Coach sagen würde: Es ist auch nicht gut, allzu sehr zu verweichlichen.

Über Falkenberg und Demnitz nähere ich mich im Zickzack Fürstenwalde, Tritt für Tritt, Meter für Meter. Es liegt allein am Jaegher und mir. Das ist so ehrlich am Radfahren, im Gegensatz zu den muffigen Konferenzräumen. Alles Geschwatze schön und gut, am Ende zählt, ob du es treten kannst. Meine Regeln, vielleicht. Das hier ist aber auch meine Freizeit.

In der Aral-Tankstelle Fürstenwalde ernte ich Seitenblicke, wie mag das auch wirken, eine Frau mit Kaninchen-roten Augen im neonrosa Leibchen, die sich Zuckerpäckchen um Zuckerpäckchen in den riesigen Kaffee tut, den Tisch bedeckt von Süßigkeiten, der reinste Kindergeburtstag.

Danach geht es etwas besser, vielleicht hält der Wald den Wind etwas ab. Ich gurke im Ort herum, bis ich den Radweg durch den Wald nach Hangelsberg finde, an der Fürstenwalder und der Müggelspree entlang. Die Sonne lugt unter der Wolkendecke hervor, taucht die Bäume in wundervolles Licht. Dichtes gelbes Laub bedeckt den Boden. Das ist ja immer ein bißchen Risiko, weil man nicht weiß, was da drunter ist, aber hier muss ich einfach entlang brettern, plötzlich geht das wieder. Und 50 Kilometer zuvor lief es noch so schäbig. Radfahren, da ist eben immer alles drin.

Schließlich biegt der Weg nach Norden ab, Kienbaum und Kagel, Komoot gibt erneut auf, hier kenne ich es aber schon fast, die Kilometer fluppen im 5er Pack weg. Die 260 sind ein Anker, bei Rehfelde, Strausberg-Vorstadt, dann ist’s nur noch ein Katzensprung, und da sind sie schon, und ich bin wieder in zivilisierter, sagen wir, bekannter Gegend. Von zivilisiert kann bei den ansässigen Autofahrern ja keine Rede sein. Für dieses Teilstück habe ich sogar ein zweites Rücklicht eingesteckt (M.: „Bist Du jetzt der elektrische Reiter oder was?“)

Im letzten Tageslicht erreiche ich den kurvigen Radweg vor Bruchmühle, glücklicherweise, eine Wegbegrenzung ist unter dem Laub nicht auszumachen, schon fast Altlandsberg, Westentasche, nicht mehr weit, ich halte auf die 300 zu, und so viel bin ich erst dreimal in meinem ganzen Leben gefahren, ich johle laut durch den dämmrigen Wald, die Endorphine halt.

Das letzte Stück in die Stadt im Dunklen, verstopfte Straßen, Samstagabendverkehr, ich nehme jeden Radweg, auch den nicht benutzungspflichtigen, auch das hassenswerte Stück an der Gehrenseestraße, mit dem „Straßenschäden“-Schild und der verächtlichen frisch gezogenen Linie. Heute egal, heute nur sicher ankommen. Die 300 Kilometer sind durch, exakt 14 Stunden nach Aufbruch.

Als ich mich wenige Zeit später in heißes Wasser begebe, finde ich keinen Körperteil, der mir nicht weh täte. Ein ziemlich passabler Zustand. Weiß man wenigstens, dass man nicht untätig war.

Die Saison, die kann von mir aus jetzt jedenfalls zu Ende sein.

Bleibt nur die Frage: Was kommt als Nächstes?

Tour auf Komoot