Es knirscht. Überall in der Wohnung knirscht es. Feiner märkischer Sand hat sich über den Fußboden verteilt, nachdem ich ihn mit dem Handbesen (kettenölverklebt) vom Jaegher entfernt habe. Da ist so viel Sand, es braucht bald eine neue Landvermessung in MOL, wo ich den abgetragen habe.

Die wahre Herausforderung der Rapha Festive 500 sind nicht die 500 Kilometer, die es zwischen Weihnachten und Silvester zu fahren gilt. Die eigentliche Kunst besteht darin, zwischen den festlichen Verpflichtungen ein paar Stunden auszumachen, in denen man nicht bei strömendem Regen oder eisigem Sturm unterwegs ist.

Intensiv beäuge ich diverse Wetterberichte, und gleich am 24. tut sich ein erstes Zeitfenster auf, fast freundliche 6 Grad, die Regenwahrscheinlichkeit liegt unter 50%. Wie heißt es doch auf der zugehörigen Website: „Knock out a huge chunk on the first day“. 160, 170? Buckow, Wriezen, Prötzel, retour. M. ist mit neuem Spielzeug beschäftigt, zumindest habe ich kein schlechtes Gewissen. Und los!

Ich habe nicht mit dem Langzeitkater diverser Weihnachtsfeiern gerechnet, der meinen Enthusiasmus unterwegs deutlich dämpft. Von wegen, die Kilometer sind nicht das eigentliche Problem. Wind, ein ungemütlich grauer Himmel und die Aussicht, vor der Bescherung kaum noch in die Wanne zu kommen. Genauer gesagt, frage ich mich, was das alles überhaupt soll. Für einen Aufnäher? Seepferdchen des Radfahrens?

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130 müssen reichen, denke ich, und fühle mich wie ein Betrüger. Dieses ganze Sich-etwas-vornehmen und es dann nicht durchziehen, es grenzt doch an Versagen. Ein paar Lektionen in der Kunst des passenden Maßes hatte ich dieses Jahr. Zur Meisterin habe ich es nicht gebracht.

Ich spicke also weiter, und da, Montag quasi kurz nach Mitternacht, vor dem Regen und dem Sturm, lassen sich noch ein paar Stunden herauskneten. Lieber im Dunkeln fahren als im Nassen.

In Anbetracht der heranziehenden Wetterlage befreie ich das Verago aus seiner Beugehaft auf der Rolle, hat es sich doch bei Windgeschwindigkeiten von bis zu 60 km/h mehr als bewährt. Es rollt auch gleich jubelnd auf die Straße.

Während das Aufsitzen auf dem Jaegher ist, als nähme man in einem Loungesessel Platz, muss ich auf das Verago hinaufkrabbeln wie auf einen störrischen Barhocker und mich dort oben irgendwie zusammenfalten. Dann aber geht es tierisch ab, das alte Rennpferdchen. Oder vielleicht ist es auch der hartnäckige Westwind, der uns zu nachtschlafener Zeit aus der Stadt treibt.

Noch bevor wie die verlassen, müssen wir schon innehalten. Die Stadtrandsiedlung Malchow hat sich in den letzten Wochen als Little Las Vegas neu erfunden. Lichterketten, Lichternetze, Weihnachtsfiguren. Da schneit es bunt von den Häusern, da blinkt und schimmert es.

Im Dunkeln schleiche ich herum, immer auf der Hut vor aufgeregten Hunden, die plötzlich gegen Zäune brechen könnten, und fertige meine kleine Sozialstudie an, während die Urheber um 6 Uhr früh nichtsahnend hinter den geschlossenen Rolläden den Weihnachtsschmaus wegträumen.

Nachts fahren, lerne ich, ist schwieriger, wenn es nass und die Gegend halb erleuchtet ist. Straßenlaternen, Autofahrer. Unstete Lichtquellen, es blendet. Dafür fast kuschelige 9 Grad. Mit etwas Fantasie könnte das ein Tag am Meer sein.

Irgendwann auf dem platten, menschenbefreiten Land wird es besser. Aber dieses Gefühl, von einer halbwegs beleuchteten Gegend auf eine Straße zu wechseln, die völlig von der Dunkelheit verschluckt ist. In mir sträubt sich alles. Was klirrt da bitte links in den Bäumen? Nicht an Blair Witch Project denken! Nicht an Blair Witch Project denken!

Die Kollegen noch beim letzten Essen: Wird’s dir nicht langweilig, immer so durch Berlin und Brandenburg? Nein, wird’s mir nicht!

In der Ferne fast tröstlich die im Gleichtakt rot blinkenden Warnlichter der Windräder. Landschaftsromantik des 21. Jahrhunderts. Die Regenspritzer im Licht der Supernova wie Sprühfeuer.

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Erst kurz vor Sonnenaufgang wird es allmählich grau, dann blau. Gerade rechtzeitig, bevor ich in den Wald abbiege. (Wald im Dunkeln: viel zu gruselig!)

Auf dem Rückweg klirrt es immer noch in den Bäumen, aber da schaue ich nicht mal, woher das kommt, ist egal, weil hell. Nochmal 100 weg, um 10:15 am Morgen. In die Wanne, weiterschlafen. Gleich danach kommt Regen.

Noch 270 Kilometer. Am zweiten Weihnachtsfeiertag habe ich genug von der Wetterbeobachtung. Ich ertrage das keinen Tag länger. Das muss weg! Mittwoch soll gnädig sein, bis zu 6 Grad und halbwegs trocken, zumindest außerhalb Berlins. Da habe ich Urlaub genommen, um noch mal einen Tag richtig zu fahren. Aber alles? Samstag gingen nicht mal 150!

Am Tag davor hadere ich. Am Morgen will ich auf keinen Fall raus. Wieder dunkel und nass. Zu kalt für die Assos-Hose mit Beinlingen, und ich kann schon die Schmerzen ahnen, die die Winterhose mit sich bringen wird. Was mache ich hier draußen? Ich weiß es nicht. Ich könnte es einfach lassen. Ich friere. Das Bett war so unendlich warm.

Den halben Hausstand habe ich mit – zweiter Ersatzschlauch, Flickzeug, sogar eine Hose zum Drüberziehen (falls man mich schlammbespritzt nicht in den Zug läßt!) – also findet sich ein Langarmunterhemd, damit geht es etwas besser. Radfahr-Aberglaube: Je mehr Zeug ich mitschleppe, desto weniger werde ich brauchen. Und ich habe riesigen Respekt vor Pannen bei einstelligen Gradzahlen. Im Stehen wird mir so schnell kalt.

So lautet die Devise an diesem Tag: Fahren, aber nicht zu schnell, dafür die Pausen so kurz wie möglich. In Schlangenlinie Richtung Nordosten, so geplant, dass ich abkürzen kann. 270 bei dem Wetter, Schnapsidee.

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Wenigstens ist’s ein anständiger Sonnenaufgang, und Umkehren, das geht jetzt einfach noch nicht. Ich fahre die ersten 75 bis Wriezen, dann mal sehen.

Für das Nachladen der Supernova gibt es inzwischen eine Apidura-Tasche, die am Oberrohr befestigt wird. (M. hat gemahnt, ich könne keinen Markenmix am Rad veranstalten, was mir langweilige Produktvergleiche ersparte.)

Man sollte so eine Tasche vielleicht nicht zum ersten Mal auf einer langen Fahrt verwenden, aber für kürzer kam es mir so lächerlich vor. Nun hängt sie, befüllt mit sämtlichen Riegeln und Schwürgis, die vom Sommer über sind, und meine Knie schuppern am Nylon entlang. Tschi-tschu, tschi-tschu, tschi-tschu, bei jeder Umdrehung. Rechne ich mit 90 pro Minute, werde ich dieses Geräusch heute über 60.000 Mal hören. Nicht drüber nachdenken.

An der Tanke in Wriezen springe ich vom Rad, stopfe ein halbes Brötchen mit Frischkäse in den Mund, restlichen Apfelsaft drüber, während ich die Supernova an die Powerbank hänge und den nächsten Riegel aufreiße. Als ich hochblicke, studieren mich einige Herren aus dem Inneren der Tankstelle heraus mit offensichtlichem Befremden.

Hier kurz vor dem Oderbruch ist der Himmel blau, die Sonne scheint aufs Gemüt. Weiter zum Fluß und Richtung Norden. Und wie schön das wieder ist! Ich glaube, ich muss durchdrehen, als ich den Oderradweg erreiche. Dieses unwahrscheinliche Blau des Wassers, das den hohen Brandenburger Winterhimmel spiegelt, umrahmt von ausgeblichenem Schilf. Ich kann es gar nicht fassen. Stunden könnte ich hier entlang, einfach immer nur schauen und staunen.

Bis ich nach Westen abbiegen muss sind 120 weg. Dann geht’s wellig gegen den Wind. Angermünde, zweite Tanke. Einmal um die Kirche kreiseln (imposanter Bau in diesem kleinen Städtchen), der Kultur Genüge tun.

Die Forststraße nach Joachimsthal. Ein dünnes Asphaltband schlängelt sich auf und ab durch einen sehr stillen, sehr einsamen Winterwald, braun in braun. Ich sollte Fotos machen. Ich verliere jedes Zeitgefühl. Tschi-tschu, tschi-tschu, tschi-tschu.

Diese Winterhose, die ist doch gar nicht so schlecht, noch sitze ich halbwegs schmerzfrei. Eigentlich fühle ich mich wie die Chefin, weil ich das hier mache. Eigentlich müsste ich auch mal, seit 100 Kilometern schon. Aber wo mir doch gerade halbwegs warm ist. Immer dieser schmale Grad zwischen Schwitzen und Frieren.

Vor Eberswalde zunehmender Verkehr, einer mit Barnimer Kennzeichen schneidet mich übel. „Du Simpel“ rufe ich ihm wütend hinterher. In Gedenken an meine Omi.

Eberswalde, dritte Tanke. Komoot brabbelt glücklich vor sich hin. Ich liege ganz gut in der Zeit. Spätnachmittägliches Licht fällt durch die Bäume. Es sieht so aus, als ob ich das letzte Stück gruseligen Walds noch vor der Dämmerung passiere.

Trotzdem, beim Schiffshebewerk in Niederfinow habe ich keine Lust mehr. Der Nacken schmerzt. Die Beine sind mau. Nix Chefin mehr. Warum gibt man sich so etwas immer wieder?

Aber zu spät jetzt, die letzte Bahnstation liegt hinter mir. Nur noch 70 Kilometer, dazu ein Heimspiel, das ist doch zu machen. Kaum noch Wind. Einfach immer treten. Tschi-tschu, tschi-tschu, tschi-tschu.

Auf Berlin zu wird es wieder nieselig. M. will wissen, wo ich stecke. Kein Mensch könne bei dem Wetter den ganzen Tag radfahren! Und dann fragt er, ob ich später Maultaschen in Brühe und Speckpasta will. Der Mann ist einfach unglaublich.

Die letzten Kilometer im Dunkeln, die Sicht ist noch schlechter als am Morgen. Die Autofahrer blenden mich (neue hassenswerte Kategorie: die das Fernlicht für Radler nicht ausschalten), Tanke, McDonalds. Lichter verschwimmen im Regen. Ich putze die Brille, ich ziehe die Kappe auf, nichts hilft.

Dafür sind die Beine wieder ganz gut. Und eigentlich zum ersten Mal nach so einer Streckenlänge denke ich: Jetzt könnte es doch noch ein gutes Stück so weiter gehen?

Schneller als ich jubeln kann, ist der Stadtrand erreicht, schraube ich mich durch den Feierabendverkehr, um pünktlich 12 Stunden nach Abfahrt wieder zuhause einzutreffen.

Dort stellt sich heraus, es lag nicht nur am Regen. Auf dem linken Auge sehe ich nur noch wie durch einen milchigen Schleier. Doch zu wenig getrunken? Einige Tassen Pfefferminztee und ein reichliches Abendessen später ist glücklicherweise alles wieder gut.

Noch schlimmer aber: Es fehlt ein Kilometer! Und das, wo ich gerade ein wenig stolz sein wollte. Den fahre ich natürlich noch. Nicht dass ich mein Seepferdchen nachher nicht bekomme.

Goldenes Seepferdchen für Fahren im Winter: 28.12., Haken dran. Zufrieden.

Stimmt, deswegen macht man’s.

Alle Strecken auf Komoot (auch der fehlende Kilometer)