Frühjahr, die härteste Zeit. Alle Mühen vergessen, im Kopf ist nur, wie leicht das im letzten Jahr rollte. Und wie sich das hielt bis in den Winter! Diese lästigen Festive 500 gaukeln falsche Sicherheit vor. Noch zu Weihnachten über 250 Kilometer in einem Rutsch, fit ohne Grund. Und jetzt diese schwammige Stumpfheit der Beine.
M. zum Beispiel ist einer dieser Menschen, die sich Ende Oktober aufs Sofa zurückziehen und Weihnachtsmandeln mampfen können, um dann am ersten warmen Frühlingstag pfeifend aus dem Haus zu schlendern, sich auf das Rad zu schwingen und davon zu brausen. Ich tuckere in einer Art hinterher, für die mir mein Leichtathletik-Lehrer schon in der achten Klasse einen „Waldschleichergang“ bescheinigte.
(Es mag helfen, dass er sich auf das neue Wilier schwingt. Also M., nicht der Leichtathletik-Lehrer. Während ich nach einem weiteren Besuch im Goldsprint nun Woche für Woche auf die nächste spärliche Mail von Inhaber Alex warte. „Wie wäre es mit diesem Lenker?“ „Der Rahmen ist eingetroffen.“ „Deine Bestellung ist in unserem Warenwirtschaftssystem erfasst.“ Oh süßer Langmut.)
Ärgere dich nicht, sagt der Coach. Das ist ein junger Kerl, der steht voll im Saft! (M., nicht der Goldsprint-Alex.)
Ach Coach. Man muss schon regelmäßig was tun, predigt der. Die ersten 500 Kilometer mit hoher Trittfrequenz pedalieren. Und dann auch mal Gas geben. Dafür eignet sich das Kleben an M.s Hinterrad und das gelegentliche Vorausfahren, so lange es nur geht, ganz vorzüglich.
„Strukturiertes Training“ heißt es in allen Radsportmagazinen und in dem kleinen Stapel einschlägiger Bücher, die ich über die Zeit versammelt habe. Die ersten Seiten gelesen, den Rest unterm Bett vergessen. Ich will keine Watt messen, ich will nur mühelos dahin brausen. Fahren ist mein Fliegen. Kilometer müssen her.
Es ergibt sich, dass M. einen außerstädtischen Auftrag annimmt. Ich benötige ein paar Tage Abwesenheit, bis ich es kapiere. Training nach der neuartigen S.W.D.-Methode. S.W.D. steht für Strohwitwendasein. Ich kann unter der Woche jeden Mist veranstalten, der mir einfällt!
Morgens eine frühe Runde, Start 4:46 Uhr. Es sind klamme 2 Grad, rote Ampeln überall und die Straßen nicht frei. Ich schlottere mich über meine Hausrunde. Wie schaffen nur alle immer diese schönen, frostigen Winterfotos? Ich bringe kaum einen Schluck vom kalten Wasser hinunter. Aber es hat etwas, in der Dämmerung draußen auf dem Land zu sein, zwischen Löhme und Börnicke über die bucklige Straße zu hoppeln. Erst rein in die Stadt werde ich vom dichten Verkehr so ausgebremst (warum geben die sich das täglich?), dass ich für meine 65 Kilometer bald drei Stunden brauche.
Am gleichen Mittag fällt mir ein, dass das der ideale Ausgangspunkt ist, um endlich zweimal am Tag zu trainieren. Soll ja besonders effektiv sein. Also abends noch ein bißchen reintreten auf der Rolle, das Verago stöhnt und jammert über den schlimmsten Arbeitsplatz der Welt.
Drei Tage später sind die Beine zum ersten Mal ganz gut.
In die Nacht fahren sollte ich auch, wird mir klar, angesichts der Startzeit beim Candy B. Graveller (Fahrerin #32!). Und zwar nicht nur gerade so eben ins Dunkle kommen, sondern für ein paar Stunden. Gut für den Kopf und die Sinne.
Am nächsten Dienstag ist bei der Arbeit Vollversammlung; wo alle sind, fällt Fehlen kaum auf. Und so werden in Villabajo noch Reden gehalten, während Villarriba schon auf dem Rennrad sitzt.
Dunkelpurpur, orange gefleckt und samtig ist der Himmel, als ich mich in tiefe Dämmerung mit gar nicht mehr so kalter Luft begebe. Smog-Romantik.
Erst ist es ganz heimelig, ich kenne die Strecke, der Widerschein der Stadt noch tröstlich. Hinter Birkholz verlässt der letzte Rest von Dämmerung die Welt. Der Weg nach Albertshof mit all seinen Unebenheiten, ich hielt es für eine gute Übung des Fahren im Licht des Scheinwerfers.
Kindsgroße Schlaglöcher tun sich vor mir auf! (Und sind, als ich drei Tage später im Hellen vorbeifahre, um das ordnungsgemäß zu dokumentieren, wie von Geisterhand entfernt.)
Wenigstens hält es wach und lebendig. Das Fahren im Dunkeln, ich denke immer, es müsste langweilig sein. Es ist so aufregend wie nichts. Ein Hauch wärmliche Luft streicht mir durchs Gesicht. Irgendwelches Getier ruft. In der Ferne tröstlich der rot blinkende Lichtteppich der Windräder.
Ich hetze entlang, jetzt auf gutem Asphalt, getrieben von einer inneren Unruhe, auch vom Rückenwind, der mir keine Zeit zum Nachdenken lässt.
Tempelfelde, Grüntal, Tuchen, Dorf um Dorf. So verlassen fühlt sich das an, ohne Tageslicht, ohne die Energie der Sonne. Vom fast vollen Mond ist nichts zu sehen. Frisch wird es außerdem, ich sollte anhalten, Windweste und Handschuhe anziehen, ich mag nicht; bleibe ich stehen, holen mich die Gedanken ein.
Kollegin S. sagte manchmal über meine einsamen Radtouren, sie bewundere meinen Mut. Ich bin überhaupt nicht mutig. Mir wachsen gerade überaus große, feige Hasenohren!
Dorf um Dorf, wie viele kommen denn da noch, nachts scheinen es mehr zu sein. Und am äußersten Punkt der Strecke wartet die Fahrt ins Unbekannte. Aber dafür bin ich dann auf dem Rückweg.
Stockfinster ist es, als ich in die fremde Straße abbiege. Die Pulsmessung ist ausgefallen. Ich will es gar nicht wissen. Solange ich im Sattel sitze, ist alles gut. Ist es heimelig wie im eigenen Wohnzimmer, nur ohne Wände. Bloß nicht Anhalten müssen, bitte.
Ein paar LKWs rauschen vorbei. Ich schalte das Licht eine Stufe höher. Mein Herz klopft mir bis zum Hals. Was mache ich hier? M. wird sich an den Kopf tippen. Der Coach würde sich an den Kopf tippen. Ich tippe mir ja selbst an den Kopf.
Ich versuche, in Worte zu fassen, was mich so aufwühlt, ich kriege es nicht zu greifen. Es ist doch erst halb neun am Abend.
Und dann, in einem Waldstück, will mich Komoot urplötzlich auf einen Abzweig nach rechts lotsen. Mitten hinein zwischen die Bäume, auf einen schmalen Weg aus Betonplatten. Ich muss fast lachen, weil ich es so absurd finde. Sehr dunkel erinnere ich mich, dass im letzten Sommer hier ein Stück RTF entlangführte.
Der Weg beschreibt unerklärliche Biegungen, solange ich noch nicht in der Kurve bin, sehe ich im nach vorn gerichteten Scheinwerferlicht nichts von Verlauf und Oberfläche der weiteren Fahrbahn. Lautes Herzklopfen, wildes Leben!
Und dann bin ich plötzlich auf dem Freudenberger Pflaster, das ist schon fast bekanntes Terrain, und den Rest der Strecke muss ich nur noch dahin eilen, weil die Stromanzeige meiner Supernova bereits rot geworden ist, und mir erst kurz vor der Stadt wieder einfällt, dass sie trotzdem noch Stunden halten wird, und ich außerdem zwei Ersatzlampen eingepackt habe.
Vor Werneuchen dann endlich ein Fetzchen Mond, jetzt brauche ich es auch nicht mehr. Ein überbreiter Transportzug mantscht sich langsam über die Straße.
Um 22:30 bin ich zuhause, weitere 100 km in der Tasche, bei weitem nicht so schnell, wie es sich anfühlte. Dafür vergingen sie wie im Flug.
Und unbeantwortete Anrufe von M..
Der wird wissen, dass ich ihn nur mit dem Stahl-Jaegher betrüge. Das außerstädtische Engagement hat er jedenfalls verlängert. Aber am Wochenende ist er zuhause und kann mich vor sich her treiben. Was ganz ausgezeichnet ist. Wird das vielleicht doch noch was mit den Beinen in diesem Jahr.
Komoot:
M. treibt mich vor sich her nach Löwenberg
26/03/2017 at 21:23
Endlich die Antwort auf zwei Fragen der letzten Zeit: Was macht das neue Rad? Was machst Du? Deine Zurückhaltung bei komoot hat mich fast nervös gemacht, die heutige Runde sehe ich ja nur bei M. Da habt Ihr aber wohl beide Spaß gehabt, schöne Schleife, schönes Tempo, hoffentlich nicht so viel Wind wie bei mir gestern …
Nun weiss ich, dass alles okay ist – nur das Tempo bei Deinem Neurad macht mich etwas stutzig: Ich hoffe, dass sich die Lenkerfrage schnell klärt, der Rest ist doch in kürzester Zeit angeschraubt und liegt – hoffentlich – bereit dort?
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27/03/2017 at 8:21
Danke der Nachfrage, Jochen. Gut Ding braucht wohl Weile… Das wird schon alles rechtzeitig fertig werden. Hoffe ich! Sonst muss ich noch drüber nachdenken, mein altes Stadtrad-Cannondale umzurüsten 😀
Komoot nutze ich nur noch, wenn ich Anleitung auf neuen Strecken brauche, bzw. lade die Aufzeichnungen vor allem hoch, damit die Familie schauen kann, oder um den Kollegen V. mit Streckenlänge oder Geschwindigkeit zu ärgern. Den Datenmüll jeder einzelnen Revierrunde braucht ja keiner.
Und ja, gestern hatten wir eine tolle Runde! Ich bin immer wieder begeistert, wie einsam es außerhalb Berlin sein kann. Bis dann 30 Kilometer vor der Stadtgrenze der Verkehr wieder einsetzt; Kehrseite des schönen Wetters…
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26/03/2017 at 22:43
oje, oje, ich finde mich so wieder… erst die festive500 in wenigen Tagen vorm Jahreswechsel gefahren und nun in 2017 bisher relativ mühselig zusammengestoppelte 614 Kilometer…. Aber ne große Klappe haben, im Mai und Juni große Vorhaben planen, die so gar nicht mit der bisherigen Vorbereitung (auch völlig strukturlos) zusammen passen. Viel Spaß, Mut und Erfolg Dir weiterhin.
Bier her und gute Nacht
Christoph
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27/03/2017 at 8:29
Und wenn man ehrlich ist, muss es ja irgendwie so sein! Dann bin ich gespannt auf die großen Vorhaben bzw. Berichte darüber, auf Deinen mir bekannten Seiten konnte ich nichts dazu finden.
Danke für das „oje oje“ – sehr vertraute Fomulierung 😉
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06/04/2017 at 22:52
Welch ehrlicher und wahrer Bericht. Ähnlich fühle ich mich zur Zeit auch (noch). Obwohl ich durchgehend, also auch in den Wintermonaten, relativ viel fahre, fühlen sich die Beine zur Zeit besonders schwer an. Es zwickt plötzlich an Stellen, an denen vorher alles in Ordnung war… das Tempo ist nicht mehr das Alte etc.pp. Aber wird wieder… oder? Ich will mir einreden, dass das z.Zt. alles bloß an diesen nervigen Windverhältnissen liegt. Die erste 400er Strecke stapft zumindest mit Siebenmeilenstiefeln auf mich zu und für meinen Geschmack, könnten die Dinge langsam gerne wieder etwas geschmeidiger laufen. ; )
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08/04/2017 at 10:01
Hallo Ulrich, ich glaube ja, man tendiert dazu, sich stärker an das Positive zu erinnern, so kommen einem die aktuellen Fahrten schwerer und „ziepiger“ vor, und Geschwindigkeit hängt ja eh noch von weiteren Faktoren ab… wenn man es 1:1 vergleichen könnte, läuft es im Schnitt wahrscheinlich gar nicht schlechter. Da hilft nur Dranbleiben 🙂 Bin gespannt auf Deinen Bericht vom 400er Brevet, gute Fahrt schon mal!
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