Es gäbe Gelegenheit, Erfahrungen zu sammeln, hatte Harald Legner mir auf den Blog kommentiert. Ich war schon über den Candy B. Graveller gestolpert und hatte gesehen, dass der Kettenpeitscher ebenfalls gemeldet war. Mit offroad hatte ich bisher nicht viel am Hut, aber wenn’s doch jetzt alle machen.  

Eine Selbstversorgerfahrt ist der Candy B., und führt vom Luftbrückendenkmal in Frankfurt am Main zum Gegenstück in Berlin, entlang des damaligen Flugkorridors, mit vielen kleinen Anspielungen auf die Zeit, als die abgeschnittene Stadt Hilfe aus der Luft bekam. Neben dem schlauen Konzept und der liebevollen Gestaltung unterscheidet er sich von anderen Langstrecken-Touren vor allem dadurch, dass die Strecke über “Gelände-Rennrad-Pisten” geht, wie es in der Ausschreibung heißt.

Die 640 Kilometer und 6.000 Höhenmeter (ohne Zeitlimit) halte ich nicht für mein größtes Problem. If you can’t go on, just keep on going. Irgendwie wird das schon gehen. Es ist die ungelöste Frage der Navigation und meine nicht vorhandene Fahrtechnik, die mich nervös machen. 380 Kilometer Single Trail, spuckt Komoot beim Import aus. Was sich in meinem Revier an Vergleichbarem findet ist gar nicht so einfach zu fahren. Über dicke Wurzeln oder steile Hänge mit losem Belag. In sechs Stunden schaffe ich mit dem Soma kaum 100 Kilometer und bin danach durch.

Und die Sprachnavigation hat tatsächlich keine Chance im Gelände, wer hätte das gedacht. Also noch schnell den Garmin Edge 1000, inzwischen habe ich angesichts all der Ausgaben ein wirklich schlechtes Gewissen, und so steht der auch noch einen Tag lang unausgepackt (und vor allem ungetestet!) in einer Ecke, bis M. mich fragt, wie ich denn nun eigentlich zu navigieren gedenke. Ich befinde mich bereits im Zustand fortgeschrittener Lähmung. 

Und dann die Nächte. Durchfahren oder Zimmer nehmen – abhängig davon, was (oder wer) sich unterwegs ergibt. Ich berechne Strecken, buche Hotels und storniere wieder, als ich sehe, dass das gegen den Kodex verstößt. Die Schuhe für die MTB-Pedale drücken auch, und dann denke ich, halt‘ jetzt mal, ich fahre nicht zum fünften Mal zu Stadler und probiere alle Modelle nochmal an. Veet Party Feet, übrig von der letzten Messe. Muss reichen.

Großes Hin und Her also. Der Tag des Starts zieht sich wie Kaugummi, aber als ich auf der Anreise die ersten Mitstreiter treffe, ist es auch nicht viel anders als beim Radmarathon. Keiner hat trainiert und die Hälfte war die letzten Wochen krank.

An dem kleinen Biergarten namens Terminal 4 gibt der Luftbrücken-Verein Wurst und Getränk für jeden Fahrer aus, zum Dank für die Spenden, welche die Teilnehmer entrichten mussten. Die Vereinsleute sind auf rührende Art interessiert an dem, was wir da treiben. „Fahren Sie das auch in 28 Stunden? Der Herr da drüben fährt nur 28 Stunden!” Sie halten das für einen sehr lustigen Witz. Meine viel zu dünne Jacke wird befühlt. Ich bedaure selbst schon, das Castelli Gabba nicht eingepackt zu haben. Es wird minütlich frischer.

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Noch Fotos der Gruppe am Denkmal, dann Fotos jeder wie er mag. Oder irgendwas posten, oder nach Hause telefonieren. Das dauert alles unendlich lang. Ich will nur noch los.

Um 18 Uhr ist es soweit. Kein Startschuss natürlich, das ist hier ja kein Rennen (haha) und ab geht es. Natürlich habe ich am Garmin irgendwas verstellt, und so sehe ich zwar, wo ich bin, aber nicht, wo ich lang muss. Egal, finde ich später heraus, erst einmal den Anschluss und den Flow nutzen.

Wir sind gleich inmitten bester Natur, fahren durch ein Bärlauch-getränktes Stück Wald. Ich finde mich prompt neben dem Kettenpeitscher wieder, der mir schon vorher mit dem Garmin geholfen hat und jetzt die Streckenansagen übernimmt, als sich das Fahrerfeld weiter auseinander zieht. Schon bald erste Schilder Richtung Darmstadt, wir fahren ja die Kurve der Bomber nach. 

Über Feld und Wiese führt der Weg, über einen fast sumpfigen Abschnitt mit großen Löchern, über einen zugewachsenen Weg. Durchrollen werden wir bei dem Gelände nicht. Der erste sitzt auch schon am Rand, ein abgerissenes Schaltwerk. Der junge Kerl sieht unglücklich aus, das Abenteuer schon zu Ende, bevor es überhaupt angefangen hat? Andere sind bei ihm, wir schieben weiter.

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Gerade als es wirklich dunkel wird, führt der Weg unvermittelt über einen Spielplatz, dahinter die heimelig beleuchtete “Auszeit bei Alex”, Spaghetti Bolognese für 4,90. Jochen Kleinhenz, der inzwischen zu uns gestoßen ist, will sich stärken, Joas und mich zieht es weiter. Ich will so viel vom Tageslicht nutzen wie möglich. Das steht noch hellblau über den Baumwipfeln, während das Unterholz schon in Schwarz getaucht ist.

So eine schöne Stimmung jetzt, sage ich. Und der Rückenwind. Da könnte man ja schon noch weiter. Dann lass doch zusammen durchfahren, sagt Joas.

Und so ist es beschlossen. Es kribbelt. Heute also. Meine erste Fahrt durch die Nacht!

Wir schalten die Lampen an, inzwischen läuft die Navigation. Dafür leuchtet meine Supernova E3 Pro (Nabendynamo, ha!) ungefähr einen Meter voraus. Die allerletzte Veränderung, die kleine Tasche oben auf der Rolle, das hatte ich nicht mehr getestet, jetzt drückt das die Lampe nach unten, davor hatte mich ein Leser sogar noch gewarnt. Zu spät.

Joas Stirnlampe dagegen hat Kraft für zwei und leuchtet die gesamten Wegbreite aus, als wir nebeneinander über eine endlose Waldautobahn brezeln, den lauen Wind im Rücken. Es fühlt sich nicht so an, als ob dieser Abschnitt jemals endet. Dabei hat uns vorhin einer angekündigt, dass das noch steil wird. Da täten die Höhenmeter auf einmal einen Sprung, nicht einmal ein Pfad sei im Kartentool angezeigt worden! Hinter dem Main werden uns die Ausläufer des Spessart die ersten Steigungen bescheren.

Ich habe es mir immer ziemlich langweilig vorgestellt, so mitten in der Nacht, weil es doch so gar nichts zu sehen gibt. Nun finde ich es geheimnisvoll, diese dunkle Welt um uns herum. Nie weiß man, was hinter dem eigenen kleinen Lichtkegel los ist. Da links müsste ein See sein, meint Joas. Wir sehen nichts davon.  

Auf der Brücke über den Main erwartet uns Trail-Magic. So nennt sich das, wenn aus Begeisterung für eine Tour private Unterstützung für die Fahrer zustande kommt. Hier stehen zwei und geben Bananen und Gummitiere aus. Nach den ersten 80 Kilometern können wir es gut gebrauchen.

Kurz danach gönnen wir uns Kaffee an der Tanke. Es ist 23 Uhr. Überschuhe an und weiter.

Hinter Alzenau wird klar, was mit steil gemeint war. Ein Weg führt hoch in die Weinberge. Es geht dermaßen aufwärts, dass wir schieben müssen. Oder eher die Räder den Berg hochstemmen. Wir verstehen es nicht ganz (hier fährt keiner hoch, oder?), aber wir schaffen es. Weiter oben stehen ein paar Zelte. Jetzt schon, sagt Joas. Erst losheizen, um sich nach drei Stunden schlafen zu legen?

Aufsitzen und weiter. Bergauf, bergab, durch Laub, über Wurzeln. Einmal wird es eng, als Joas voraus abfährt. Die Lücke ist zu groß und mein Weg finster. Ich fahre mit meinem eigenen winzigen Lichtkegel und langsamer, was den Abstand noch vergrößert. Es ist nur ein Pfad durch den Wald, aber er hat einige waghalsige Wurzelstufen. So geht es langsam vorwärts.

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Die Nacht ist wie ein langer Tunnel, durch den man durch muss. Ab und zu reden wir. Belanglos dahin, regen uns über den Garmin auf oder über den Untergrund. Manchmal vertiefter, Ausflüge nach Brasilien, frühere Jobs.

Dann wieder nur die tanzenden Lichter von Front- und Stirnlampen, das Brummen unserer Reifen, das Knirschen vom Kies, knackende Äste. Rascheln am Wegesrand, wenn ein Tier vor uns davon läuft. Das hier, das finde ich magisch.

Und der Rhythmus passt. Joas ist einer, mit dem es für mich gut klappt, schon allein weil er Pausen respektiert. Ich hatte ein paar Tanken recherchiert, die 24 Stunden offen haben, und ohne viele Worte sind das unsere Fixpunkte. Warmfahren nach dem Halt, wir schlottern gemeinsam. Es ist Teambuilding wie aus dem Lehrbuch. Als einer zu uns stößt, ist er für mich sofort der Fremdkörper. Zwei paar unverkennbare Reflexstreifen sind mein Anker in der Nacht.

Die Nacht ist endlos, die Nacht schleicht dahin. Wir schleichen dahin, je nach Untergrund ist es ein Vortasten und Strecken-Rätselraten, ein Hineinleuchten in Weggabelungen, dann wieder rollen wir locker über plattgewalzte Naturfahrbahnen.

Irgendwo verlieren wir unseren dritten Mann, warten eine Weile auf ihn an einer abschüssigen Wiese. In der tiefen Dunkelheit ein Schnaufen, nur Augenpaare reflektieren den Schein unserer Lampen. Die Ochsen stehen dicht und still neben uns, die kräftigen Leiber sind nicht wahrzunehmen, aber ich kann die langsamen Bewegungen, die Wärme irgendwie spüren.

Immer weiter geht es, kreuz und quer über Waldwege, Feldwege, runter in ein Tal, noch ein schlafendes Dorf. Von oben dann wieder der Blicke zurück auf die still beleuchteten Häuser. Das Gras nass und rutschig vom Tau, ich fluche. Ich kenne Joas Untergrund-Befinden, ich erahne es mehr als dass ich es höre.

Die Zeit macht, was sie will. Ohne sich veränderndes Tageslicht fehlt die Orientierung, und doch rasen die Stunden dahin.

Wir sind an einer Esso, als draußen der nächste Tag anbricht. Große Tassen Kaffee, Bifi für Joas, Laugenzeug für mich. 

Die Landschaft liegt vor uns im frühen Sonnenlicht. Plötzlich ist wieder alles ganz normal, die Magie löst sich im Morgendunst auf. Aber mit dem Licht kommt neue Kraft.  

Im nächsten Ort stehen einschlägig ausgerüstete Räder vor einem Bäcker, Haralds Soma Wolverine ist dabei. Um ihn hat sich ein Grüppchen gesammelt, das einen eigenen Mythos pflegt. Bad Langensalza ist der gelobte Ort, hinter dem die topfebenen Wege bis nach Berlin einsetzen, und alle wollen Rührei. Das wollen wir auch, also geht es zusammen weiter.

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Ich bin nicht müde, eher high vom Fahren. Meine erste komplette Nacht auf dem Rad! Was für eine Premiere. Ich glaube, immer weiter machen zu können. Es ist auch nicht wirklich anstrengend, da immer mal wieder gehalten wird. So richtig voran geht es nicht.

Dafür ist es nett mit denen. Ich fahre oft alleine Rad, weil mir das lieber ist als soziale Kompromisse einzugehen. Das hier ist anders. Die Jungs sind angenehm. Keine zähen Equipment-Gespräche, keine großen Töne. Bremsbeläge und Kabelbinder wechseln die Besitzer, man unterstützt sich wo man kann. Später, als am Checkpoint Alpha mein Handy komplett ausfällt und ich in Panik verfalle, wie ich nur den Rest des Weges ohne bewältigen soll, reicht man mir Powerbanks und Kabel zum Testen und gibt solange Tipps, bis es wieder läuft. Ist es die Dynamik der gemeinsam durchlebten Strecke? Vielleicht sind die auch nur müde. Oder ich nur euphorisiert. 

Bei denen jedenfalls bleibe ich, die lassen mich nicht stehen. Und knicke meinen eigentlichen Plan, heute im Fall der Nachtfahrt bis Sangerhausen zu kommen. Der war eh utopisch, morgens um 8 sind wir gerade erst in Fulda, Kilometer 180.

Und die sind offensichtlich auch nicht alle ehemalige MTB-Amateurweltmeister. Allgemeines Gestöhne angesichts des nächsten steilen Abschnitts, angesichts der Wegführung über garstige Untergründe an manchen Stellen. Gemeinsam hassen wir die Panzerplatten am Grenzweg vor dem Checkpoint Alpha mit ihren fiesen kleinen Aussparungen. Wub-wub-wub-wub-wub.

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Ich bin schon seit drei Jahren kein MTB gefahren, sagt einer. Ich nicht mehr seit 25, denke ich. Der Coach hatte auch hervorgekramt, was er noch wusste. Den Lenker nicht so verkrampft festhalten, eher das Vorderrad sich seinen Weg suchen lassen. Das klappt inzwischen eigentlich ganz gut. 

So schwindet der Tag dahin, während wir uns langsam Richtung Nordosten bewegen. Immer wieder werden Berechnungen angestellt. Wie könnte es gehen, am Montag um 10 Uhr in Berlin zu sein? Ich denke, indem wir fahren statt zu pausieren. Aber ich bin froh über die Gesellschaft und muss auch nicht überziehen, also bin ich still.

Am späten Nachmittag, ich habe uns mit frisch gewonnenen Garmin-Übermut gerade fehlgeleitet, kommt eine Nachricht vom versprengten Teil der Gruppe. Dorffest! Vermutlich ein Randonneurs-Synonym für Bratwurst. Wir treffen auf eine Prozession von Traktoren, die bei Durchfahrt anmoderiert werden, das halbe Umland steht Spalier, schlängeln uns an Nummer 129 bis 121 vor, bis wir die Stände mit Konsumierbarem erreichen. Es gibt Pizza, Joas hat die gnadenlos gute Eingebung eines alkoholfreien Hefeweizens.

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Eisenach und Hotel, denke ich inzwischen, dahinter hatte ich nichts für mich Erreichbares mehr gesehen. Noch geht es mir gut, das rette ich mir in den nächsten Tag. Die anderen haben zur Not ihre Schlafausrüstung für draußen dabei.

So trennen sich die Wege am Beginn des Rennsteigs. Und obwohl ich auf ein paar Tage allein im Sattel eingestellt war, fällt es mir gar nicht so einfach, diese feinen Jungs ziehen zu lassen.

Eigentlich also hatte ich Erlebnisse genug.

Aber als ich kurze Zeit später etwas ratlos am Alten Markt in Eisenach herumstehe und überlege, ob ich jetzt tatsächlich in meinem verstaubt-verschwitzten Aufzug im pickfeinen Steigenberger Hotel nach einem Zimmer frage, spricht mich noch so ein komischer Kauz an.

Wie das mit den Apidura Lenkertaschen denn passen würde. Er sei im Übrigen gerade aus Hamburg hergeradelt, behauptet er, und ob ich denn auch zur Wartburg wolle, er veranstalte da morgen so ein Treffen.

Das nennt man wohl Trail-Magic.

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Für die weniger Radsport-affinen Leser: Claus Czycholl persönlich, Papst aller Langstreckenfahrer (und ich)

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