Jetzt war ich noch immer keine Nacht durchgefahren. Ich meine, allein und vollständig. Ein paar Mal unterwegs zu früher Morgenstunde, einmal in den späten Abend hinein. Zweimal durch die Nacht, aber eben in Begleitung. Das war schön, und ich möchte das auch gern wiederholen. Aber nicht, weil ich es allein nicht kann.

Das mit der Dunkelheit, das hat nichts mit Logik zu tun, schon klar. Niemand lauert mir auf, gefährliche Tiere gibt es in unseren Breiten nicht. Trotzdem ist da dieses starke Empfinden. Umdrehen, heim ins Warme, Tür zu und Licht an. Aber es deswegen sein lassen?

Zufällig kommt mir in diesen Tagen die Mecklenburger Seen Runde wieder unter. In Neubrandenburg begeben sich an einem Samstag im Mai mehr als 2.000 Radler ab 4:30 Uhr auf eine 300 Kilometer lange Strecke.

Zum Start radeln, ein paar teilnehmenden flüchtigen Komoot-Bekanntschaften viel Glück wünschen, und wieder zurück nach Berlin? Auf der Website lese ich außerdem, ab 3:30 Uhr kann man Frühstück erwerben. Oase in der Servicewüste des Nordens!

Meine Planung ergibt auch satte 300 Kilometer, so ohne Bundesstraßen. Ich kann ja aber immer noch in Neubrandenburg oder sonstwo in den Zug steigen. Außerdem sind das auch nur zweimal 150, und das ist irgendwie nur halb so viel. Radfahrerlogik.

Vorfreude mischt sich in die Aufregung, weil das Fahren im Dunkeln doch auch magisch war, und weil ich das jetzt tatsächlich mache! Dann wieder starke Zweifel. Fragen sich meine Freunde allmählich, ob ich noch ganz dicht bin? M. bleibt cool, sorgt sich nur, weil ich vor Aufregung am Abend nicht mehr viel runterbringe und verspricht, das Handy nachts auf laut zu lassen.

Freitag abend kurz nach neun bin ich auf dem Weg, etwas seltsam mitten durch das gestylte Berliner Party-Volk, das bei den steigenden Temperaturen zuhauf unterwegs ist, aber kaum bin ich raus aus dem Gröbsten, geht der Plan schon ein wenig auf: Abendlicht über den Feldern. Die Sonne, denke ich, reist immerhin einmal um die Erde, während ich nur bis Neubrandenburg will. (Mir ist bewusst, dass das nicht den astronomischen Tatsachen entspricht, aber mir gefällt das Bild.)

IMG_5654_800

Das Bugsieren des voll bepackten Rads hält mich die erste Stunde beschäftigt. Das Jaegher ist empört, noch mehr Zeug dran geschnallt, es will doch leicht sein und schnell. Allmählich verstehe ich, warum man für jeden Mist ein anderes Rad braucht. Bei Bernau wird es Zeit für das lange Unterhemd.

So lang da noch ein Hauch Licht ist, und das bleibt so bis kurz vor elf, so lange ist es nicht schlimm. Danach Sternenhimmel, eine klare Nacht. Ich fahre auf mehr oder weniger bekannten Wegen, und wie M. vorhergesagt hat, wegen Himmelfahrt sind alle schon seit Mittwoch unterwegs und die Straßen leer. Die Häuser gemütlich beleuchtet. Alles liegt friedlich da. Bei Zerpenschleuse ist plötzlich eine ganze Gruppe Menschen auf der Straße, ich habe ein komisches Gefühl, dann grüße ich die einfach laut durch die Nacht.

Dahinter verengt sich der Radweg zu einem schmalen Streifen, rechts und links Gebüsch, über mir tief hängende Zweige, kein Funken Licht dringt hier hin.

Mir wird mulmig, so muss sich ein scheuendes Pferd fühlen. Genau das sind diese Stellen. Und das Wissen, es geht noch Stunden so weiter.

Aber jetzt kleinlaut umdrehen? Kommt nicht in Frage. Was hat beim letzten Mal geholfen? Dass andere dabei waren. Dann tue ich jetzt einfach so, als wären die irgendwo hinter mir! Es ist ein bißchen kindisch, aber es hilft.

Ich taste mich vor auf einem Weg wie direkt durchs Dickicht. Nebelfetzen, Spinnweb. Zugeschnürte Kehle, langsam atmen. Wird schon!

Und schließlich weitet sich die Straße, und ich bin in Liebenwalde.

Am Voss-Kanal begrüßen mich Frösche. Angler sitzen in ihren Warnwesten wie dicke, stumme Glühwürmchen am Ufer. In der Dunkelheit vibriert ein eigenes Leben.

Zehdenick, 0:30 Uhr schon, die einzige 24 Stunden-Tankstelle auf dem Weg. Ich trinke Kaffee zum Käsebrötchen, drinnen werden die Regale gewischt. Nun wird es doch Zeit für Beinlinge und Handschuhe, ein paar Meter weiter auch die Windjacke. Der Kaffee tat gut. Knapp die Hälfte ist geschafft, Landstraße jetzt, Wald und freies Feld.

Grüne Augenpaare verfolgen mich durch die Nacht. Mit der Stirnlampe leuchte ich die Rehe an, sie stehen am Straßenrand aufgereiht, als erwarten sie das abendliche Unterhaltungs-Programm.

Zwei Marder balgen sich auf der Straße, fauchen mir mit gebleckten Zähnen entgegen. Ein Dachs trabt gemächlich an meinem Vorderrad vorbei. Das ist vielleicht ein Treiben hier!

Kalt und neblig wird es jetzt. Ich friere an den Ohren, Kappe und Stirnlampe vertragen sich nicht. Das Halstuch unter den Helm ziehen, dazu müsste ich anhalten, mag ich nicht, gerade so warm gefahren, gerade so am Rollen.

Vor Himmelspfort geht es wieder hinein in dichten Wald, Fahrradstraße, manchmal nur Feldweg. Es ist finster, aber es macht mir nicht mehr so viel aus, zu groß die Konzentration auf das Geschlängel und den Untergrund.

Eine schmale, steile Brücke über die Woblitz, ich trage das Jaegher hinüber, halte kurz inne. Sternenhimmel, Stille und Trockenaprikosen. Jetzt unterwegs sein, unbezahlbar.

Irgendwo streift mein Licht ein paar aufrechte Holzhäuschen, im Vorbeifahren blinkt reflektierendes Material, ein Rad steht davor, drinnen hat es sich jemand gemütlich gemacht.

Ab Lychen wieder Landstraße. Die Nebelschwaden werden so undurchdringlich, dass die Reflektion blendet, ich knipse die Stirnlampe aus um überhaupt noch etwas zu erkennen. Die Airstream am Lenker bahnt sich dicht über der Straße den besseren Weg.

Beenz, Triepkendorf, kalt ist mir, aber allmählich erscheint da ein schmales, helles Band weit weg am Horizont, 2:30 Uhr, jetzt schon.

Eine Ewigkeit geht das so, während sich am Himmel nichts weiter tut. Auf den Feldern die Nebelbänke, darüber der orange Streifen, eine Kulisse wie im Traum. Hin und wieder ein Schwall warmer Luft, vielleicht der letzte, bevor die Temperatur zur Dämmerung hin endgültig kippt.

Einmal muss ich doch absteigen, ein Foto machen, das Tuch über den Ohren richten. Frösche zetern, ein Kuckuck ruft. Spinnfäden am Lenker. Von hinten das erste Auto seit Stunden.

Die letzten Kilometer zieht es sich. Ab Burg Stargard mehr und mehr Autos mit Rad auf dem Dach oder im Kofferraum. Richtig müde bin ich nicht, aber irgendwie erschöpft. Nachts fahren ist eine neue Disziplin. Erfahrungswerte für die Katz.

Kurz nach vier erreiche ich Neubrandenburg, fahre hinunter zum Kulturpark, dort rollen schon Unmengen windschnittiger Fahrer zum Start, getapete Knie, Vereinstrikots. Ich finde einen Platz, an dem ich die flüchtigen Komoot-Bekanntschaften gut sehen kann, und umgekehrt, und belausche einschlägige Gespräche, diesmal aus den Rubriken „ich war ja gestern schon“ und “für mich heute nur locker”.

Dieter H. kommt des Weges, der beim Candy B. Graveller mit Jochen unterwegs war und heute mit Besi & Friends an den Start geht. Er habe schon den Thomas S. aus Berlin getroffen, der sei hier auf privater Tour. Das war doch der mit dem Sand!? Der Mann hat seinen Ruf weg.

Währenddessen zittere ich vor mich hin, ziehe Hose und Langarmtrikot drüber, viel hilft es nicht. Bis nach 5 Uhr halte ich durch, dann muss ich mich dringend bewegen.

IMG_5713_800

Das Frühstück, unterwegs von mir als fürstliches Buffet in geheizten Räumlichkeiten erträumt, stellt sich als Heißgetränke aus der Kanne und ein paar belegte Schnitten heraus, geschützt von drei Seiten Zeltplane. Schnell einen Tee hinunter geschüttet (Kaffee ist aus) und aufs Rad. Jetzt etwa noch frierend auf den Zug warten? Erst mal los und in Neustrelitz weiterschauen.

Inmitten der rennhungrigen Menge schiebe ich mich in meinem ärmlichen Tempo aus der Stadt hinaus. Die Straße direkt nach Neustrelitz hatte ich anders in Erinnerung. Schnurgerade, auf und ab. Zehn Kilometer später halte ich noch einmal. Rechts bedeckt Nebel den Tollensee. Und dieses Licht! 135 Kilometer sind es noch. 135 gehen immer! Oder?

Noch vor dem Ortseingang Neustrelitz falle ich in die erstbeste Tanke ein, großer Kaffee mit drei Päckchen Zucker, Eierbaguette. Schon besser. Frisch geduschte Kunden schauen mich etwas pikiert an.

Ich hatte erwartet, in Neustrelitz noch einmal auf ganze Rudel von MSR-Fahrern zu treffen, aber da sind nur zwei, drei vereinzelte Gestalten, dafür winken mich die Helfer enthusiastisch über die Strecke. Das Café im Ort, das ich im Kopf hatte, ist um die Uhrzeit tatsächlich noch im Tiefschlaf.

Und danach wird es richtig schön. Ein schimmernder Sommertag kündigt sich an. Jemand hat eine hellgrüne Farbpalette zurecht gemischt, golden scheint es durch die Bäume. Das Jaegher und ich lungern dahin. Was soll ich jetzt im Zug? Ist doch egal wie langsam ich bin.

Ein Zickzack über kleine Straßen bis nach Gransee hatte ich geplant. Nächste innere Station ist Menz. Der Wind hat zuverlässig mit mir gedreht und kommt die meiste Zeit von vorn. Die Straße ist wie Sirup. Mir fehlt jedes Zeitgefühl. Irgendwo geht es über losen Untergrund, kurz stecke ich sogar in der Erde fest. Man muss den mit dem Sand offensichtlich nur mal erwähnen!

Wieder einmal frage ich mich, was das eigentlich für eine Kategorie sein soll, “Langstreckenfahrer”. Ich gehöre jedenfalls nicht dazu. Ich tue nur so. Ziehe mich wie an einer unsichtbaren Leine ein Stück die Straße entlang. Und noch eins. Und noch eins.

Vor 10 Uhr habe ich schon wieder alles ausgezogen, in den Flaschen nur noch warmes Gesabbel, ich kann mir nicht mehr vorstellen, dass ich vor ein paar Stunden noch ganz schön gefroren habe. Sitzen geht auch nicht mehr. Ich singe ein bißchen vor mich hin, das hilft eigentlich immer.

Bei Zehdenick eine Tanke, die ich nicht auf dem Schirm hatte. Eis, Cola, kalter Sprudel! Genuß mit Benzingeruch, aber was soll’s. So eine Nacht gut zu überstehen, das will wohl erst noch gelernt sein. Danach bin ich besser bei Kräften, und plötzlich freue ich mich unendlich, dass es gelungen ist. Durchgefahren! Allein!

Wieder am Kanal entlang, diesmal im Hellen, die Schiffe sind einfache Gegner, ein Kapitän lacht mir zu. Das unliebsame Stück ab Liebenwalde, Autohatz durch den schattigen Wald, ich ziehe sogar die knallrosa Windweste noch einmal an, immer noch nur mäßig schnell, aber geschenkt, irgendwie.

Und dann bin ich zurück in Berlin und staune über die Menschenmassen, die sich an einem heißen Samstag Mittag über die Schönhauser Allee wälzen.

Eine Dusche, erfrischend wie nichts, zwei Stunden ohnmächtig auf dem Bett liegen.

Ein bißchen ferngesteuert sitze ich später bei Bratwurst und Rhabarberschorle im Biergarten und höre nicht so recht, was um mich geredet wird, so stark sind die Bilder der Nacht. Was ein Erlebnis.

Strecke auf Komoot, 304 km, 1.100 hm. 

Glückwünsche an die erfolgreichen flüchtigen Komoot-Bekanntschaften und an Dieter H. Das war sicher ein toller Tag für alle!  

Und bei der MSR mitgefahren bin ich auch schon mal.

IMG_5780_320_2