Maurice Brocco war ein französischer Rennradfahrer, der seine Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts hatte und als erster auf die Idee kam, als Domestik Fahrer mit größeren Chancen zu unterstützen. Der Leipziger Fahrradladen Coco veranstaltet Brocco zu Ehren im zweiten Jahr eine Art 400 km-Alleycat-Brevet. Vier Checkpoints bei Jena, Chemnitz, Dresden sind von Leipzig aus auf einer beliebigen Strecke innerhalb von 24 Stunden anzusteuern. Der Endspurt-Alex hatte mir die Veranstaltung auf den Blog kommentiert.

Eigentlich hatte ich mir das 600er Brevet und den Maurice Brocco 400, die nur eine Woche auseinander liegen, als Entweder-Oder gedacht. Eigentlich habe ich keine Lust. Schon wieder irgendwo hinfahren, neue Leute, mich organisieren. Ich könnte auch mit M. im Café sitzen und die Beine hochlegen.

Aber das Wetter hält und die Beine sind irgendwie auch nicht so schlimm. Besser so rum, sagt der Coach. Der Spaß kommt schon unterwegs. Und schließlich habe ich einen Startplatz belegt, den jemand anders vielleicht gern gehabt hätte. Also sitze ich Samstag um 7:15 im Regionalexpress Richtung Leipzig, nachdem ich die Entscheidung so lange aufgeschoben habe, bis es für den IC um 9:30 kein Fahrradticket mehr gibt. Richtig wohl ist mir nicht.

Der Start ist im Kleingartenverein Immergrün. Der Nachwuchs chillt auf Holzbänken oder Rasen, es ist alles ziemlich cool und auch nicht weniger bunt als bei jeder anderen Radveranstaltung. Hier halt Retromuster und Neon, 8bar lässt grüßen. Abbremsen mit fixed gear, ich finde, das hat per se etwas Angeberisches. Ich bin auf jeden Fall die einzige Person hier, die nicht tätowiert ist. Vielleicht noch die beiden alten Herrschaften, die Erdbeerkuchen in Plastikbehältnissen aufs Gelände schaffen.

Er müsse mich nicht siezen, so alt sei ich nun auch nicht, lasse ich den Menschen bei der Anmeldung wissen. Als der mit seinem entzückenden holländischen Akzent erwidert, er mache das, weil er das so in der Schule gelernt habe, wird mir klar, dass das mit der guten Laune heute noch dauert.

Aber dann ist da mit dem Endspurt-Alex endlich ein bekanntes Gesicht. Alex hat sich in schicke schwarze Schale geworfen und ist mit Tom hier, der letzte Woche beim 600er Brevet als erster im Ziel war, was er heute mit drei anderen in lustigen knapp 14,5 Stunden wiederholen wird. Trotzdem tut der so, als machten wir den gleichen Sport (“du merkst deine Beine doch auch noch?”). Charmant, und ja. Irgendwie ja.

Und ich treffe Vicky, die zum ersten Mal über 200 km fährt, und zum ersten Mal durch die Nacht. Such’ dir jemanden zum Reden, höre ich mich schlaubergern. Iss‘ genug! In einer Woche von Kindergarten in die dritte Klasse. Ich würde gern mit ihr fahren, aber sie hat eine andere Route geplant, und ich will nicht irgendwo stranden, weil ich nicht mehr auf meinem Track bin.

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Das ist eh sowas. Raus aus der Stadt im Verbund – ungeordnet, hektisches Losballern, Ballernballern, wie die jungen Leute das nennen, dann merkt jemand, das Feld ist nicht mehr beisammen, und plötzlich schleichen wir mit 22 km/h dahin – kann sich jemand bitte bei den Randonneuren schlau machen, wie sowas geht? Ich bin schon wieder genervt – an einer Ecke biegt plötzlich eine kleine Gruppe rechts ab – huch, ich ja auch, neutrale Strecke zu Ende – an der nächsten Ecke biege ich links ab – und bin allein.

Fahre an irgendwelchen Schienen entlang, ich kenne mich hier nicht aus. Hatte das mit der eigenen Strecke nicht so richtig kapiert. Es gab einen Track auf der Website, den habe ich bei Komoot durchgenudelt, Checkpunkte eingebaut, ein paar 24h-Tankstellen gesucht (der Kettenpeitscher hätte seine Freude, kurz hatte ich überlegt, den zu bequatschen, aber Bonn ist ganz schön weit weg), und habe offensichtlich eine eigene Route.

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Allein also, und gegen den Wind, für die ersten 90. 90 sind Wachkurbeln und Reinkommen. Auf dem Radweg entlang der Bundesstraßen raus aus Leipzig. Ein paar wildgewordene Bunte rasen an mir vorbei. Ich denke, wow. Ich denke, mal sehen.

So geht es los, in die Einöde, gegen den Wind. Wind finde ich so tückisch. Anstiege, da weiß man, was man hat. Höhenmeter kann man sammeln, und je mehr man davon fährt, desto weniger sind übrig. Das ist reine Mathematik. Wind dagegen macht, was er will. Fährst du den ganzen Tag gegen ihn an, ist lange nicht gesagt, dass du gewinnst.

Ich fahre sparsam, ich bin heute “der alte Hans”, von dem mir am letzten Wochenende mindestens drei Menschen erzählt haben. Fährt nie schneller als 28, macht sehr kurze Pausen, ist am Ende immer gut dabei. Warum nennen die den eigentlich alt? Der schlaue Hans müsste das heißen, mindestens!

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Es ist außerdem warm, so warm, dass ich denke, ich sollte meine Sonnenbrille aufsetzen. Hab ich aber schon. So warm ist das.

Ich bin mutterseelenallein, und voran komme ich auch nicht. Da vorn ist eine der gescouteten Tankstellen. Zu heiß, um bis zum ersten Checkpoint durchzufahren. Als ich sie verlasse, saust gerade eine Vierer-Gruppe vorbei. Bergab schliddert der vor mir dahin, tritt heftig in die Pedale, schliddert wieder dahin. Waghalsig.

Ich erreiche Jena, Jena ist so ein Scheiss. Ewig geht das durch die Stadt, ich schaue zweimal nach, ob ich den Checkpoint schon verpasst habe. Sammle Stehzeit statt Kilometer.

Der Checkpoint ist passend gecastet, so ein Veranstaltungsdings auf einem Stück stillgelegten Bahngelände. Selbst die Toiletten sind Punk. In Liegestühlen hängt hier im Schatten herum, wer vorher losgebolzt ist. Aber die Versorgung ist gut. Kuchen, Brote, Obst, alles. Ich lasse mich anstecken und trödle herum. Neben mir rülpst einer ungeniert. Generation Ich auf dem Rad. Hilfe.

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Raus aus der Stadt stehe ich an der geschlossenen Bahnschranke. Schon wieder Minuten verloren. Fünf Stunden rum, und ich habe noch nicht mal 100 Kilometer. Später dann unter der Autobahnbrücke, weit und breit kein Radweg. Plötzlich frage ich mich, wie ich das überhaupt in 24 Stunden schaffen soll. In der Nacht fahre ich bestimmt nicht schneller. Andererseits jetzt erst mal Rückenwind, da ballere auch ich, ha!

Der Weg ist äußerst gemischt. Mal auf tollen verlassenen Radwege durch irgendwelche Täler, dann wieder fahre ich durch seltsame Industriegebiete, Radweg links für 300 Meter, für die nächsten 300 auf die andere Seite. Abkürzung vom Dorfrand über Schotter statt entlang der Vorfahrtsstraße. Irgendwelche Geradeaus-Wege den Berg kopfüber hinunter, wenn es auch in kleinen Kurven ginge. Komoot macht halt so Sachen. Keine Chance, das alles zu kontrollieren.

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Auf geraden Teilstrecken kommt der Wind von hinten, endlich mal etwas Tempo. Und dann wieder nicht. Ich komme nicht voran. Weitere 5 Stunden gefahren, wieder nur 95 geschafft. Wie kann das sein? Die Beine werden auch nicht besser.

In Glauchau geht’s direkt am Bahnhof vorbei. Was mache ich eigentlich hier. Absteigen und einfach in den Zug zurück nach Leipzig? 200 reichen auch, jetzt mal ernsthaft. Aber komme ich überhaupt noch nach Berlin? Und dann habe ich so einen Unfertige-400-Fluch an der Backe. Chemnitz, denke ich. Wenn es noch blöder wird, dann dort.

Fotos vom Sonnenuntergang, und dieses kurze, intensive Gefühl von Verlust, als sich die Dunkelheit herabsenkt. Jetzt kommt deine bessere Hälfte, schreibt der Coach. Woher nimmt der Mann das Vertrauen?

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Checkpunkt Nummer 2 namens „Matzes Mutter“. Eine riesige Gruppe fährt gerade ab, na toll. Mädels erfragen meine Startnummer und schicken mich in den Hinterhof.

Und dann. Ich weiß nicht, ob überhaupt und wenn ja, welche von den Damen, die hier herumwirbeln, Matzes Mutter ist. Ich weiß nur, sehr selten bin ich unterwegs so herzlich, geradezu liebevoll empfangen und versorgt worden. Ein Teller Suppe? Warte, ich hole dir noch Brot. Kaffee? Zucker? Wieviel Stück? Toilette? Dort hinten einmal die Treppe hoch, was kein Licht? Moment, wir holen die Stehlampe.

Es ist wirklich unglaublich. Neben mir versuchen welche zu klären, wann sie es stecken, und wer dann die Räder wo abholt und wohin bringt. Es ist mir nicht so kalt wie ich erwartet hatte.

Und da geht sie endlich auf, die Tür in der Tapete, Fenster, Dachluke, oder was. Ich werde diese verdammten 400 Kilometer durchfahren, und zwar allein und auf eigene Kappe. Sehen, wie das ist, so ohne Domestik. Brocco zu Ehren! Ach Quatsch. Für mich!

Halb 11 bin ich unterwegs in die Nacht, knapp 80 bis zur nächsten offenen Tanke, vier Stunden gebe ich mir. Immer schön im Rhythmus bleiben. Und dann merke ich auch noch, ich habe mich verrechnet. Die zweiten 95 war ich eine Stunde schneller. Wird doch!

Die Bilder, die sich unterwegs sammeln. Eine lebensgroße Kuh aus Plastik in irgendeinem Schaufenster. Ein kleines rotes Rücklicht ist an einen hölzernen Gartenzaun geschnallt, soll das helfen, dass man nicht dagegen fährt?

Kreuz und quer durch Chemnitz, Straßenlaternen in den Wohngegenden, am Schloßpark vorbei. Es ist 23:07 Uhr. Nacht ist das hier nicht.

Dann endlich finsteres Feld. Vor Hainichen geht es über einen Buckel. Hoch, immer weiter hoch, oben halte ich an. Sternenhimmel, die Lichter der Stadt, das Jaegher und ich. Mehr braucht es gerade nicht.

Ein paar Buckel weiter ein rotes Licht. Da steht einer. Fährt fixed, hat Knie und einen Hänger. Ob er Unterhaltung wolle, frage ich. Er wäre aber langsam, meint er. Drei Millisekunden später bolzt er nach vorne weg, seine Jacke mit den Reflektorstreifen bauscht sich im Wind, wie ein Leuchtkäfer mit Schlagseite schwirrt er im Dunkeln davon. Ich finde es blöd. Will der mir zeigen, dass ich noch langsamer bin?

Zählen und rechnen, die ganze Zeit. In den Dörfern immer wieder beleuchtete Fenster. Mitten in der Nacht sind die Leute wach. Dort ein kleines Festzelt, aus dem die Musik wummert. Irgendwie tröstlich. Abfahren im Stockdunkeln, Kurven, weniger tröstlich. Langsam, langsam.

Ein paar Kilometer weiter steht der Leuchtkäfer. “Berg”, ruft mir er mir zu. Welcher Berg, will ich boshaft antworten.

Ich kriege ernsthaft Hunger, es sind immer noch Kilometer und Kilometer bis zum nächsten Checkpoint. Hunger, der im Magen bohrt. Hungerhunger, sozusagen. Süßes ist in Griffweite. Ich muss mich übergeben, wenn ich noch irgendetwas Süßes esse. Wilde Phantasien über das Schinkenbrötchen im Saddle pack. Dazu eine Tasse Kaffee! Selbst die Tanke ist noch zu weit. Schuhe ausziehen, Zehen bewegen, kostbare Minuten.

Der Leuchtkäfer kommt vorbei. “Klar?” Langsam verstehen wir uns. Ein paar Minuten später ruft er mir vor der Brücke über die Elbe zu. Die Auffahrt ist unklar. Zusammen fuddeln wir uns auf die andere Seite und zur dritten Kontrolle, ewig an den Gleisen entlang. Viertel nach 3.

Checkpoint Radebeul, ein paar Bänke im Hinterhof: Erneut zum Verlieben. Ob ich ein Smoothie möchte? Suppe? Reis dazu? Kaffee? Salz steht da drüben. Die Suppe, irgendwas mit Süßkartoffeln, ist scharf und wunderbar ausgleichend nach der Zuckerarie. Da ist eine Art zweite Luft. 300 sind durch! Flasche am Gartenwasserhahn füllen und raus aus dem Ort in die Dämmerung, wieder die Gleise, diese öden Kilometern, jetzt aber, noch schnell Strecke machen, bevor der Wind wieder Fahrt aufnimmt und mir auf dem letzten Stück entgegen kommt!

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Bei Meißen bin ich falsch, bleibe auf der Straße oberhalb vom Fluß, nix mit lang Schauen jetzt, das wird in Bewegung korrigiert, da vorne kann ich abbiegen, bin aber 30 Meter oberhalb meines Weges, das Jaegher eine Treppe runterzerren, vorbei an einem Mann, der eine Frau im Rausch die Treppe runterzerrt. Bild vom Dom im Fahren, wie hell das schon ist, keine Zeit zu vertändeln! Muss lachen, als mir einfällt, dass M. mir aufgetragen hatte, die Gegend zu scouten. Ja, ich kriege voll viel mit!

30 Kilometer geht es gut, bis wir die Elbe verlassen und nochmal Höhenmeter kommen. Schnelle Fotopause, kurz verschnaufen und weiter.

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Der letzte Checkpoint nach dankbaren 50 Kilometern. Dort stehen übernächtigte, angetüdelte Dorfbewohner und warten auf Unterhaltung auf zwei Rädern. Ich sei die dritte Frau, und überhaupt sind erst 36 durch, und wo eigentlich mein Mann sei. Nein danke, wirklich keinen Sekt für mich, aber den selbstgebackenen Kuchen nehme ich gern! Und noch mehr Brote. Wieder so lecker.

Ach und an 37. Stelle? Bei über 100 Anmeldungen? Och ja!

Und die 400 in 20 Stunden, schaffe ich das? Ich kann nicht mehr rechnen. Um 6:15 aufs Rad, die Paußnitzer brüllen mich auf die Strecke. Hinter mir kommt gerade eine Gruppe an, Vicky hat Mitfahrer gefunden. Dritte Frau! Liebe Vicky, dir würde ich es gönnen. Aber ich gönne es mir gerade noch viel mehr!

Ich gebe Gas, wie ich’s auf der Hausrunde nie tue. Vergiss den schlauen Hans! Was nach 360 noch so geht. 367! 372! Aufwärts, aufwärts ist gut, da sind Gruppen langsamer, noch mal aus dem Sattel, noch mal mit Kraft, es ist noch was da!

Die Kilometer flutschen durch, die Dörfer flutschen vorbei, jetzt in gleißendem Licht. Vergeblich versuche ich mich zu erinnern, wieviel Strecke ein Feld pro Minute gut machen kann. So das Feld das überhaupt will. Egal! Vor der Baustelle beschleunigen und gerade noch bei Dunkelgelb in die Verengung. Kreuzungen checken und im vollen Fahren nehmen. Über Pflaster donnern. Ballern halt. Und es tut weh. Es tut echt weh!

07:59 ist es, als der Tacho von 399 auf 400 Kilometer springt. 20 Stunden! Unendlich lang, unfassbar schnell vorbei. Lachen oder Weinen, ich weiß es nicht.

Die letzten Kilometer rein nach Leipzig sind reine Strafe. Ich schleife mich dahin. Ich zähle laut mit, ich zähle sogar die Nachkommastellen. Radweg nutzen oder nicht? Jeder Bordstein eine Qual, an der roten Ampel Erleichterung und Nervosität. Ich will nicht mehr eingeholt werden!

Dann, endlich endlich endlich die verdammten Schrebergärten. Durch zentimetertiefen Kies. Gib mir Gravel, jetzt nehme ich auch das! Fahre ein in den KV Immergrün, Klatschen, Johlen, Limonade, gerne doch!

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Erschöpfte Fahrer liegen auf der Wiese, entspannte Unterhaltung, Nacht-kleine Augen. Du bist allein gefahren, ach echt. Wie war’s?

Gut, sage ich.

Aber später im Zug, und dann im Café mit M., und selbst noch, als ich am Abend beinahe am Küchentisch einschlafe, da habe ich das blödeste Grinsen der Welt im Gesicht.

So ist das wohl beim Radfahren. Manchmal passiert gar nichts, und dann wieder alles.

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  • Danke an den Coco Fahrradladen! Für das Event, für die tolle Organisation, die super Verpflegung, die so liebevolle Versorgung. Ihr habt mich becirct. Ein dickes, herzliches Dankedanke!
  • Ein bißchen albern, aber trotzdem: danke an mein Jaegher. Weil es mich nie im Stich lässt.
  • Und nicht zuletzt allerliebsten Dank an den Endspurt-Alex für den Tipp! Was drei Worte und ein Smiley ausmachen können. Unglaublich. Allein dafür lohnt sich das Blog schreiben.
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Der ganz links ist der Endspurt-Alex.

Tour auf Komoot, 414 km, 3.680 hm (der Garmin hat natürlich nur 3.150 gemessen, faules Stück).
Mehr Stimmung in Bildern eingefangen hat Maik Regestry hier.