Nach der großen Fahrt hatte ich mich mit wachsendem Unmut auf den Hausrunden herumgetrieben. Die Beine waren nicht mal so schlecht, und war ich erst einmal unterwegs, machte es auch Spaß. Aber aufzubrechen fiel mir zunehmend schwer.

Da ich fürs Erste mehr Zeit mit dem Mann verbringen wollte, hatte ich abgesagt oder verpasst, was im Herbst noch Abwechslung versprochen hätte: Eine Fahrt zum Brocken mit Joas und Jochen, angedacht im Rahmen des Awol-Unmeetings, einen privaten 400er in illustrer Gesellschaft von Zingst aus, das Candy B.-Helfertreffen, ja selbst den guten alten Prenzlauer Hügelmarathon.

Sobald all das vorbei war, wurde mir klar, dass es das für dieses Jahr doch nicht gewesen sein konnte. Noch einmal eine richtige Tour! Noch einmal dieses Gefühl, den schmerzenden Körper in die warme Badewanne zu hieven. Als wäre man verprügelt worden, aber auf die gute.

Harz mit Brocken, fantasiere ich mir zusammen. Letztes Vorhaben auf der Liste fürs Jahr. Hin und zurück 530 Kilometer, Ausstieg möglich am Bahnhof Magdeburg nach 385.

Klingt toll auf dem Papier! Allein, das Loslegen.

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Mitte Oktober passt das Wetter. Alles packen, Wecker auf 4 Uhr. Lange liege ich mit Herzklopfen wach und grüble über die nicht zu bewältigende Aufgabe. So viele Stunden im Dunkeln fahren, oje! Nacht im Herbst ist irgendwie dunkler als Nacht im Sommer. Zack-bumm Rolladen runter statt stundenlanger Dämmerung in allen Regenbogenfarben, wo man sich einreden kann, es sei noch fast halb Tag.

Als es schließlich Zeit zum Aufstehen ist, fühle ich mich wie ausgespuckt. Nach fünf Minuten am Küchentisch krieche ich wieder zurück ins Bett. M. lacht nur. Wenigstens lacht er freundlich.

Der Wille. Wo ist er hin? Eigentlich hatte ich gedacht, ich würde mir bei der Fahrt nach Frankreich körperliche Substanz runterfahren, aber die Beine sind es nicht. Es ist der Wille, den ich abgenutzt habe. Wie geht so was? Der Wille ist doch immer verlässlich. Mein Wille hat zu wollen!

Der Coach sagt, ich sei zu viel allein unterwegs gewesen. Mag sein. Aber wer fährt jetzt schon spontan mit mir zum Brocken?

Die Zeitschriften sagen, im Winter Alternativsport. Joggen könnte ich, gern dann bei Neuschnee und Minusgraden. Auch Yoga täte dem Radlerkreuz sicher gut. Täte, könnte, sollte. Es ist doch noch gar nicht Winter, es darf noch nicht Winter sein!

Was würde ich zu jemandem sagen, der mir das erzählt? Ich würde sagen, hol’ dir den Spaß zurück. Also gute alte Oderradweg-Runde, 225 km, Abfahrt lässige 9 Uhr an einem dieser sonnigen Tage.

Mit Rückenwind geht es nach Norden aus der Stadt heraus. Ich finde den schönsten Baum des Herbst, ich finde einen betörend herbstlich gefärbten Wald. Das fahle Naturreservat an der Oder, das ausgeblichene Schilf, die scheuen Vögel, dieser blaue, ach so blaue Fluß.

Dazu an diesem geschenkten Tag in kurzen Klamotten unterwegs. Es geht doch! Es ist vielleicht ein Anfang.

Brocken also, nächster Versuch. Und weil der Wind ständig von West nach Ost weht, fahre ich eben mit der Bahn bis Magdeburg. Muss ich wenigstens nicht gegen die Uhr fahren, um die letzte Verbindung zurück zu erwischen.

Wecker auf 4, der erste Zug geht um 5:22 Uhr. Ich laufe los wie ein Uhrwerk, verlasse das Haus pünktlich, bin 10 Minuten vor Abfahrt am Bahnhof.

Allein, es fährt kein Zug.

Wann fährt der Zug? 5:11 Uhr. Verwirrt laufe ich zum Bahnsteig und sehe die gerade so verpasste Regionalbahn davonbrausen. Der Wille ist kein Muskel. Der Wille ist ein ernstzunehmender Gegner. Der Wille ist Unwille! Noch mal heim? Lieber gleich am Bahnhof bleiben, wer weiß, ob ich sonst überhaupt wiederkomme.

Nutzlos sitze ich herum, versuche mich nicht zu ärgern, denn das ändert ja nichts mehr, und fühle mich trotzdem dämlich.

20 Minuten vor Abfahrt des nächsten Zuges (zu spät, noch mal nach Hause zu fahren) fällt mir auf, dass ich die Warnweste vergessen habe. Riesenspaß, so ohne durch die Nacht. Die reinste Kopf-Sabotage. Das gibt’s doch nicht!

Egal, 6:11 Uhr, ich fahre, zumindest fahre ich Zug. Zusammen mit den frühen Pendlern. Im Abteil ist die Heizung ausgefallen. Allmählich habe ich eiskalte Füße. Draußen der Dunst auf den Feldern, der rote Himmel. Wäre vom Rad aus schön gewesen, aber nun.

In Magdeburg ist es hell, holprig, viel befahren und mit zu hohem Puls geht es aus der Stadt. Stimmt, da war noch Wind. Aber da ist auch ein erstes Landkreisschild! Jetzt kann der Tag losgehen.

Über die Dörfer, die Route zusammen gestückelt aus dem, was die Bundesstraße übrig lässt. Hier Pflaster, dort Platten. Sollte das 600er-Brevet der Berliner Randonneure im nächsten Jahr wieder auf den Brocken gehen, sind die sicher mit drin. In der Ferne schon der Berg. So wild sieht er nicht aus. Das kommt von den Alpen, immerhin.

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Nachladen an der Tanke, Sperrung im Zentrum von Wernigerode, Ausziehen am Anstieg. Ich komme nicht so recht voran. Es schauert ein bißchen, das sollte doch erst später kommen. Ich habe vergessen, dass die neuen Schuhe sich gerne vollsaugen. Der Saddle pack knüllt sich seltsam, der verstärkte Boden scheint sich aufzulösen. Anhalten, neu packen. Der Anstieg geht, trotzdem zieht er sich. Höhenmeter sind das auch, und Wind von vorn.

Weiter oben haben die Stürme der letzten Monate übel gewütet. Ganze Schlachtfelder von ausgerissenen Bäumen samt Wurzel, fast erwarte ich den weißen Zauberer hinter der nächsten Biegung. Knipsen kann ich beim Abfahren, jetzt erst mal da hoch. Die Brockenbahn tutet vorbei. Mountainbiker, Wanderer. Erst weit oben wird es steil.

Und stürmisch. 100 Meter vorm Gipfel faucht der Wind so stark von der Seite, dass ich absteigen muss. So etwas habe ich noch nie erlebt. Fast haut es mir das Rad aus den Händen. Ich klammere mich daran fest, während ich versuche, ein bißchen von der Aussicht zu erhaschen. In Richtung Heimweg ist graue Suppe.

Kaum kriege ich die Jacke über die Arme, sie wird mir über den Kopf davon gerissen. Mikroabenteuer? Was ist hieran bitte Mikro? Schnell wieder runter!

Es regnet jetzt richtig, aber schlimmer ist die Nässe von unten, die meine Schuhe durchweicht. Ich schlottere bergab, freue mich über jede 100 Meter Höhe, die ich verliere. Keine Muse für Baumfotos. Bei Schierke scheint plötzlich die Sonne durch die Wolken, ich jubele ihr zu. Was eine Wohltat, das bißchen Wärme. Sonne, bitte bleib!

In der Ebene ist mir wieder halbwegs warm, bis auf die Füße in der nasskalten Sockenmatsche. Zurück Richtung Halberstadt, mit ordentlich Rückenwind. Wurde auch Zeit. Essen, Wasser auffüllen, fahren. Oder anhalten und Fotos machen, weil das Licht am späten Nachmittag so toll über den Feldern liegt.

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Noch drei Stunden bis es dunkel ist.

Sehr einsame Straßen jetzt. Und da vorne ein Schild, ein Landkreisschild! Das vom Harz, endlich. Kleine Belohnung fürs Aufraffen. In die andere Richtung müsste man fahren, dort ist dramatischer Sonnenuntergang. Wenigstens warm genug ist es, bis auf die Füße. Die sind seit Stunden nasse Eisklötze.

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Ganz selten noch schießt einer von hinten heran, mein Rücklicht leuchtet brav vom Saddle pack, an jedem Ortsausgang checke ich, ob es noch tut. Über seltsames rautenförmiges Pflaster geht es, mehrfarbig angeordnet, noch nie gesehen. Über solche Wege ist kein Vorankommen. Der Rückenwind ist auch verschwunden.

Noch 30 Kilometer bis zur Tanke bei Schönebeck. Dort sehe ich weiter.

Die Tanke leuchtet heimelig wie ein Weihnachtsbaum, als ich absteige, ist mir auch sofort kalt. Einmummeln, Vorräte aufstocken, essen. Es ist 19:30, und noch 160 Kilometer bis Berlin.

Theoretisch. Denn wie ich da so sitze über Bockwurst, Senf und Schrippe, hat der Unwille schon das Telefon gezückt, die Verbindung nach Hause gecheckt und mich mit sanfter Hand zum Bahnhof gelenkt, wo zufällig gerade jetzt ein Zug geht.

Diesmal ist es angenehm warm und leer im Wagon, und sofort gähne ich mit mir selbst um die Wette. 225 Kilometer also. Meine neue Obergrenze.

Weiß nicht, ob ich seufzen oder lachen soll, esse meine Gummibärchen und lache dann doch. Ein bißchen Abenteuer hatte ich ja. Und wer weiß schon, was mir das alles sagen will.

***

Der Brocken ist zehn Tage her. Inzwischen hat es doch noch zu einer längeren Tour gereicht (nicht dass mir hier Understatement vorgeworfen wird). Der Unwille und ich haben einen brauchbaren Kompromiss gefunden. Sobald ich nicht mehr so getan habe, als sei der ein fremdes Wesen, wurde es irgendwie einfacher. Die 350 km taten trotzdem weh. Aber so war das ja auch gedacht.

Touren auf Komoot:

Gute alte Oderradweg-Runde, 225 km

Brocken, abgekürzt, 225 km

Längere Tour, 353 km

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