K. ist hochmotiviert. K. dreht ungefähr zum hundertsten Mal das rechte Pedal etwas umständlich nach schräg vorne, setzt den Fuß drauf, stößt sich mit dem linken Pedal ab, versucht in Fahrt zu kommen, die Balance zu wahren, nach vorn zu gucken.
Die Arme locker zu halten, die Hände nicht zu verkrampfen, in die richtige Richtung zu treten, überhaupt zu treten, geradeaus zu lenken, die Pedale nicht zu verlieren.
Kristin und ich fangen an zu laufen, fast zu rennen, halten K. von links und rechts, aber da ist die Bordsteinkante, da müsste K. gegenlenken, und das ist doch noch zu viel auf einmal.
Etwas abrupter Stop, fast fallen wir aufeinander, müssen dann doch lachen, alle etwas atemlos. Es ist nicht so einfach! K. zerrt unbeirrt das Rad zurück in die Fahrtrichtung. Noch einmal von vorn, immer entlang der kleinen Straße auf dem Verkehrsübungsplatz.
Schon länger hatte ich darüber nachgedacht, ob ich mit dem Radfahren nicht auch mal etwas Sinnvolles machen könnte. Hunderte Kilometer allein und glücklich durch die Gegend rollen ist natürlich äußerst sinnvoll, aber auch etwas egozentrisch.
Aber was? Demonstrieren für eine verbesserte Radinfrastruktur? Mir ein Logo aufs Trikot kleben und mit meinen Kilometern Spenden einsammeln? Alles nicht so meins. Ich wollte es gern etwas konkreter, und das Schöne an Berlin ist, es gibt immer alles. Zum Beispiel die #BIKEYGEES e.V..
Die haben es sich zur Aufgabe gemacht, allen (Flüchtlings-)Frauen ab 14 Jahren, die das möchten, das Radfahren beizubringen. Der Gedanke dahinter: eine günstige und umweltfreundliche Art der Fortbewegung vermitteln, Unabhängigkeit stärken, zusammen Spaß haben. Neudeutsch Empowerment.
Was auch immer – Menschen aufs Fahrrad bringen, das kann einfach nur richtig sein! Eine E-Mail später habe ich Annette Krüger am Telefon, die #BIKEYGEES e.V. zusammen mit Dr. Anne Seebach ins Leben gerufen hat.
Ob ich vielleicht Lust hätte, ein Spendenrad abzuholen? Nicht nur das Radfahren an sich vermitteln die #BIKEYGEES, sondern statten erfolgreiche Trainings-Teilnehmerinnen auch mit einem eigenen Fahrrad aus, wenn genug Material vorhanden ist. Und der Unterricht in grundlegenden Verkehrsregeln absolviert wurde.
Die Besitzerin des Spendenrads ist eine ältere Dame in Marzahn, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr radeln kann. Über die #BIKEYGEES hat sie in der Zeitung gelesen.
Das BBF-Fahrrad mit 7-Gang-Nabenschaltung wartet rührend vorbereitet in der Abstellkammer. Eine Luftpumpe, etwas Werkzeug und die Anleitung für die federnde Spezial-Sattelstütze bekomme ich gleich mit in die Hand gedrückt. Sogar eine Halterung für Trinkflaschen ist mit Klebeband am Sattelrohr befestigt. Das sei doch im Urlaub immer so praktisch gewesen! Nur der zweite Schlüssel für das Schloss ist nicht mehr auffindbar.
Halb im Stehen trudele ich irgendwie zurück in die Stadt, weil sich der Sattel dank der federnden Spezial-Sattelstütze nicht nach unten verstellen lässt, und staune wieder einmal, wie Radfahren auch gehen kann.
Am nächsten Tag um 11 Uhr ist Training auf dem Verkehrsübungsplatz in Kreuzberg. Ein paar andere sind auch zum ersten Mal dabei. Bei den Erfahreneren können wir uns abschauen, wie es geht.
“Hallo, wie heißt du? Sprichst du Deutsch? Englisch? Bist du schon mal gefahren? Hier, probier’ mal, passt das?” Der Helm ist aus Versicherungsgründen obligatorisch und wird solange verstellt, bis er über Kopftücher und Haarknoten passt. Räder werden nach Augenmaß ausgesucht und verworfen, Erklärungen in allen verfügbaren Sprachen ausgetauscht.
Einfach aufeinander zu gehen und loslegen. Ich finde diese Frauen gut! Anders funktioniert es wohl auch nicht. Die Lernenden wollen aufs Rad, da reicht die Zeit nicht für langes Zaudern.
Kristin ist auch Helfer-Neuling. Zusammen mit K. drehen wir Runde um Runde in der Miniaturverkehrswelt, sammeln Tipps von denen, die schon länger dabei sind. Das Anfahren klappt schon ein bißchen, aber K. hat Mühe, die Füße auf den Pedalen zu halten. Zu ungewohnt das runde Kurbeln. Zu viel was man beachten muss. Der Blick wandert immer wieder zu den Füßen. Und plötzlich ist der Lenker wieder schief und die Balance verloren. Eine Übung auch in Geduld.
Annette kreiselt gut gelaunt zwischen all den Grüppchen, hat für jeden ermutigende Worte, bedankt sich bei uns fürs Mitmachen.
Währenddessen wird die Marzahner Radspende gecheckt. Die Schrauberin der #BIKEYGEES ersetzt die Spezial-Sattelstütze. Ein Helm, ein Fahrradschloss und eine Tasche für den Gepäckträger wird zusammen mit jedem Rad ausgehändigt. Die neue Besitzerin ist glücklich.
Ungefähr 90 Fahrräder samt Zubehör konnten die #BIKEYGEES bisher übergeben. Knapp 500 Frauen haben mit ihrer Hilfe in den letzten zwei Jahren Radfahren gelernt.
Und vielleicht bald noch eine mehr. K. dreht etwas umständlich das Pedal nach vorn, stellt einen Fuß drauf und stößt sich mit dem anderen vom Boden ab. Fährt schlingernd los, wird schneller. Kristin und ich fangen an zu laufen. K. hält die Balance und fährt, wir traben neben dem Rad entlang. K. hält den Kurs. Das längste Stück! Es wird.
Zwei Stunden sind um, das Training für diesen Samstag zu Ende. Ich hoffe, K. kommt wieder. Ich werde auf jeden Fall da sein!
***
Ich finde es super, was die #BIKEYGEES machen und fände es toll, wenn Ihr sie auch ein bißchen unterstützen wollt.
Geldspenden sind besonders erwünscht, um Material und theoretischen Unterricht zu finanzieren. Alle Infos zu Spenden findet Ihr hier, eine Bescheinigung wird ausgestellt.
Radspenden sind ebenfalls willkommen – gesucht sind möglichst kleine Alltagsräder, die sich in Berlin befinden, damit die Wege zum Abholen nicht zu weit sind. Funktionieren sollten die Räder auch, die Kapazitäten fürs Reparieren oder Umbauen sind beschränkt.
Bekanntheit ist für gemeinnützige Vereine angeblich so etwas wie bare Münze. Daher freue ich mich in diesem Fall noch mehr als sonst, wenn Ihr diesen Blog-Post teilt! Oder Ihr teilt oder liked einfach gleich die #BIKEYGEES e.V. auf Facebook. Ich schreibe dann künftig auch wieder was Schönes für Euch (ich bemühe mich!), versprochen.
Vielen lieben Dank!!
Wer erst noch etwas mehr über das Projekt wissen will, findet hier ein Factsheet zum Verein.
21/11/2017 at 20:50
Tolle Aktion. Tolle Unterstützung 🙂
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21/11/2017 at 20:59
Super, Eva! Du hast die absolut richtige Entscheidung für ein Engagement getroffen: zumindest tausendmal sinnvoller, als sich in zähen Sitzungen mit unwilligen Verkehrsplanern rumzuärgern … 👍🏻
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22/11/2017 at 0:26
Mein Opa hätte an dieser Stelle wohl den Spruch von den Tierchen und den Pläsierchen bemüht … jeder macht halt, wie er kann 🙂
Ernsthaft, ich glaube, diese Aufgabenteilung zwischen uns passt!
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22/11/2017 at 7:12
Ich glaube das nicht: Schon vor Jahren hat sich ein Bekannter von mir aus dem Beirat zurückgezogen mit den Worten: „Da helfe ich lieber einer Oma über die Straße …“, und ich kann es ihm nicht verdenken …
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22/11/2017 at 8:37
Aber Du bist immerhin noch dabei! In so ein Gremium hätte ich wohl gar nicht erst einen Fuß gesetzt …
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22/11/2017 at 8:37
Bist halt die Klügere … 😉
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22/11/2017 at 15:36
Respekt! Du hast dich ganz real und ganz nutzbringend und sehr menschlich für Menschen engagiert. Das hilft allemal mehr als „zähe Sitzungen“ mit Verkehrsplanern. Aber es gilt wohl auch: Das eine ersetzt nicht das andere. Ich bin mittlerweile auch bei Engagements im politischen Bereich zurückhaltend. Und du hast mich auf jeden Fall durch dein Tun auch wieder angestoßen, endlich auch was zu unternehmen. Dran bin ich an dieser Initiative: http://radelnohnealter.de.
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22/11/2017 at 18:06
Hallo Dietmar, es braucht beides, ganz klar. Und ich finde den Jochen in den zähen Sitzungen gut eingesetzt, weil ich denke, er wird die Verkehrsplaner an die Wand diskutieren! Ich wäre dafür weniger geeignet. Und so ist es doch gut, wenn jeder und jede das macht, wo man am meisten bewirkt, wenn man es nun schon in der Hand hat.
Über RadelnohneAlter habe ich vor ein paar Tagen erst mit einer Freundin gesprochen. Finde ich super! Ich hoffe, mir verhilft auch mal jemand zu Fahrtwind, wenn ich selbst nicht mehr kann 🙂 Mach‘ das, und berichte bitte mal! Liebe Grüße, Eva
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23/11/2017 at 13:04
Hallo Eva
Es ist eine hervorragende Idee, Menschen dieses geniale Verkehrsmittel nahezubringen.
Außerdem schenkt soziales Engagement beiden Seiten sehr viel Zufriedenheit.
Ich war gestern Abend auf einem Klassentreffen, zu dem ich die 30 km je Weg mit dem Rad gefahren und war ein wenig entsetzt von einigen ernsthaft als bescheuert eingestuft zu werden. Es waren sogar welche dabei die nicht einmal ein Fahrrad hatten….
Okay, ich wohne auf dem Land und dort scheint das Auto wohl für viele alternativlos zu sein.
Mach weiter so
Viele Grüße
Thomas
Ps. Was ist eigentlich aus deinem Gravelbike geworden.
Kann mich nur an einen Satz von dir erinnern, das dieses graveln eh völliger Mist sei…
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23/11/2017 at 15:23
Hallo Thomas, schön von Dir zu hören 🙂
Diese Kommentare kommen mir bekannt vor. Ich hatte vor ein paar Wochen Besuch von einer Freundin, die in meiner Wohnung gefilmt (!!) hat, weil sie nicht glauben konnte, dass ich vier Fahrräder habe, die ich alle brauche. Und die kennt mich sogar ganz gut! 30 km sind eben für viele ein ganzer Tagesausflug. Andererseits ist es ja auch krass, wie schnell man beim Radfahren die Distanzen hoch drehen kann.
Und meinem Soma geht es gut, danke der Nachfrage! Es wartet in seiner Ecke brav darauf, dass der Winter endgültig hereinbricht und es übernehmen darf. Das ist dann meine Alternativsportart für die kalte Zeit. So ernst war der „völlige Mist“ dann doch nicht gemeint…
Lieben Gruß! Eva
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24/11/2017 at 8:21
Hallo Eva
Hm, wenn ich unser gemeinsames Tandem mitzähle, sind es auch vier…
Unsere beste Neuanschaffung ist allerdings das Tandemnachläuferrad für die 2 Kleinen.
Jetzt geht es eigentlich nur noch darum den Kindern gute passende Zweiträder (neben den Schulgurken) zu besorgen, damit sie dabei bleiben.
Gruß
Thomas
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11/08/2018 at 11:35
Hallo Eva, seit gestern wieder zurück in Berlin, habe ich den Morgen mit Lesen deines blogs verbracht. Super!!! Einiges kommt mir bekannt vor, besonders Frankreich und Schweiz……
Und dass du die bikeygees so toll unterstützt hast…..Chapeau!
Bist du beim nächsten Training dabei? Würde mich sehr freuen, dich kennenzulernen.
LG Konnie
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11/08/2018 at 13:08
Hallo Konnie, willkommen zurück und danke schön 🙂 Ich denke, ich werde beim nächsten Training dabei sein. Bis dahin!
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