Ich hatte die Idee, kurzen Prozess mit den Landkreisschildern im Südosten der Republik zu machen. Von kurz konnte allerdings nicht wirklich die Rede sein. Meine Beine, nein, eigentlich auch der Rest war seit Wochen zu nichts zu gebrauchen. Trauriges Streckengeknubbel, keinerlei Druck auf dem Pedal. M. hatte mich mehrmals stehenlassen.

Etwas Erholsames musste passieren. Rail and Ride, dachte ich mir, dazwischen Landkreise einsammeln. Von Pegnitz, das man mit drei Regionalzügen erreicht, runter bis Passau, dann mit der Bahn von Kreis zu Kreis hüpfen und die verstreut liegenden, offenen Schilder einsammeln. Baue mir gerissene Abkürzungen ein, nur für den Fall.

M. empört sich. Die Gegend wollte er auch sehen! Jetzt würde ich da durch hasten und alle Geschichte und Kultur achtlos am Wegesrand liegen lassen. Ich bin nur die Vorhut, verspreche ich. Ich sehe nur schon nach, wo wir dann später mal richtig entlang fahren.

Für die nächsten Tage ist viel Regen angesagt, aber da habe ich es mir schon in den Kopf gesetzt. Kurz vor der Abfahrt dann plötzlicher Unmut. So lange Stunden mit der Bahn. Was ist denn das wieder für eine dämliche Idee.

In Dresden am Bahnhof friert mich, ich habe leises Heimweh, ich habe ja nicht mal warme Socken. Ich könnte gerade umkehren. Noch nicht.

Die Züge sind schön leer so unter der Woche, die Landschaft allmählich fremd. Endlich löst sich der Blick von innen und wandert aus dem Fenster in unendliches Grün. Tharandt, da war ich doch mal zum Radmarathon, letzte große Fahrt mit dem Verago. Das muss ewig her sein.

Je einsamer die Gegenden, desto redseliger die Menschen. Zwei Herren fachsimpeln bereits am Jaegher, als ich zum Aussteigen dazu komme. Ich hätte aber mal wenig dabei!

Was stimmt. Diesmal nur der Saddle Pack; kein extra Paar Schuhe, keine Daunenjacke, kein Biwaksack. Ich werde mich bequem in Rathausstuben und dergleichen betten. Einmal Jäger-Pfandl für zwei, bitte!

Draußen sieht’s gar nicht so nass aus. Aufsitzen in Pegnitz, da fängt es gleich an zu schauern. Kappe und Überschuhe, die Jacke braucht es noch nicht, nass werde ich eh.

Ich habe nur 100 km am ersten Nachmittag, eigentlich ist das nichts, aber diese Beine sind so breiig. In der Mitte habe ich mir einen Ausweg eingebaut, Zug bis Freihöls, der fährt aber nur um 16:25.  

Nach 9 km das erste Schild. Hurra, es steht! Ob das immer so sein wird, hier unten? Ab jetzt nur noch quer rüber nach Südosten. Ich bin unterwegs! Das Ankommen im Fahren, es zieht sich.

Dafür läuft es. In weichen Wellen, bergauf und bergab, aber mit Rückenwind. Auerbach, Sulzbach. Zugfahren schon wieder? Ach nein, noch geht’s.

Bis hinter Amberg, da wird die Landstraße wieder eine Autobahn-ähnliche Zumutung. Ich fahre ein paar Schlenker, bis ich einen Radweg finde, der parallel zur Straße führt. Wieso nimmt Komoot den nicht? Hinter mir türmt sich ein Gewitter. Endlich schüttet es wirklich. Unter einem Baum anhalten, einen Mandel-Honig-Riegel und M. schreiben.

Der will wissen, ob es das Wackersdorf sei, wo ich heute übernachten werde. Es ist das Wackersdorf. Hier in dieser beschaulichen Gegend, wo alles grün ist, und ein wenig spießig, und so überaus freundlich, hier gab es solch massive Proteste, dass ein halb errichtetes Endlager für Atommüll dann doch nicht in Betrieb genommen wurde? Ich bin beeindruckt. Das waren eben auch die 80er. Nicht nur toupierte Haare und Stulpen! 

Auch von den Rathausstuben am Ort. Ich verstehe nicht, was die hier reden, aber gastfreundlich sind die. Salzbrezeln und Pantoffeln auf dem Zimmer, Frühstück ab 6:30 und zum Nachtisch die leckersten Apfelküchlein mit Vanilleeis, die ich mir nur ausmalen kann. Sachsen-Anhalt, da kannst du noch was lernen! Tag 1, 100 km, zwei Schilder. Ich bin’s zufrieden.

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Tag 2: Um kurz nach 7 sitze ich auf dem Rad, ich brauche Puffer für den angesagten starken Regen und die Breibeine. Schilder bei km 23, 25, 60. Fürs Erste.

Aus Wackersdorf raus geht es auf wunderbaren kleinen Wegen hoch in den Bayrischen Wald. Es regnet, natürlich regnet es. Denke sofort an Bölts, Trainieren im Regen ist ja gut, weil die anderen derweil auf der Couch sitzen. Und solange so wenig Verkehr ist, und da vor mir immer ein bißchen Licht am Himmel. Erstmal bis Wörth an der Donau, dann im Tal entlang, dann sehen wir weiter.

Kann ein bißchen was abkürzen, weil die Schilder sehr zuverlässig an jeder Grenze stehen. Schlängle mich so durch die Dörfer. Ach schön ist es hier! Und wenig Autos. Nur die, die da fahren, die haben es in sich. Dafür wird der Regen dünner.

Vom Radweg im Donautal bin ich dann ein bißchen enttäuscht. Links neben mir nur Laster in der Ferne, rechts nichts zu sehen. Die Füße nass.

Ich ziehe die Überschuhe aus, hoffe, die trocknen dann ab. Werden aber nur noch kalt dazu. Dafür hab ich bei km 100 schon vier Schilder. 

Nach Deggendorf und Kaffeepause geht’s hoch auf den Berg. Hoch wie in hoch-hoch. Direkte Linie, Auto um Auto zischt an mir vorbei. Die Beine würgen wieder was zusammen. Grau umgibt mich. Meine Warnweste und ich, und alle Lichter an. Als der Nebel noch dichter wird, und weiß, überlege ich ernsthaft, wie schlau das hier noch ist. Wegen eines Landkreisschildes?! Aber jetzt müsste ich doch bald oben sein. Ich hätt‘ über den Ulrichsberg fahren sollen, Komoot-Highlight, das sah besser aus als die Ruselhochstraße. War aber weiter.

Endlich aus dem Nebel raus, und da vorn … da steht es! Landkreis Regen, wie passend. An die Leitplanke gedrückt irgendwie knipsen, und ab.

Kaum bin ich von der Straße weg, ist alles gut. Einsame Landschaft, ein Reh bricht direkt vor mir aus dem Gebüsch, immer wieder Anstiege, immer wieder rasante kleine Abfahrten. Ah, diese Freiheit! Dick türmen sich die Wolken vor mir, noch ist es trocken. Noch 70 bis Vilshofen, von dort im Zug nach Passau, ich hätte ja auch noch weiter können, hätte, würde, könnte, ach was soll’s. Sieben Schilder, 175 km, großer Tag.

Am Bahnhof kaufe ich mir eine saure Zunge, der Mann hinter der Theke schmunzelt. Passau am äußersten Zipfel des Landes ist schön. Ort der Niederschrift des Nibelungenlieds, Kultur bitteschön, lies das, M.!

Mein Hotel ist im Glasmuseum, die Rezeptionistin unglaublich nett, wie ich da so stehe, schmutzige Frau, schmutziges Rad. Habe das niedlichste Zimmer der Welt. Und endlich eine Methode, wie die Radhose doch trocken wird bis zum nächsten Morgen (waschen und auswringen, in ein trockenes Handtuch einwickeln und auf dieser Rolle so lange herumtrampeln, bis die Füße nass sind).

5:50 geht der Zug nach Wasserburg am Inn, guten Morgen, ich bin’s, der Phileas Fogg von Bayern. Fasane und Rehe ducken sich in die Felder. Die höflichen Dorfkinder, die sich über Integralrechnung unterhalten und mich fragen, ob ich das Fenster schließen möchte: “Entschuldigen Sie bitte…”. In Berlin würden die nur drauf zeigen und „Zu!“ blaffen. Sollte wohl hierher ziehen.

Steige in Gars schon aus, kleiner Bahnhof, schneller auf der Straße, langsam werde ich zum Profi. Eine Brezel und ein Milchkaffee, dann mäandere ich mit viel Puffer dahin durchs Revier der Ciclista (Schilder: Rosenheim, Traunstein). Was herrliche Gegend! Sitze irgendwo auf einer Leitplanke in der Sonne (Sonne! Trockene Füße!) und rechne rum, ob der Vormittag doch noch fürs Berchtesgadener Land reichen könnte. Dies Zugfahren steigt mir langsam zu Kopf. 

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Wasserburg am Inn finde ich dann wieder fast verstörend. Auf der Karte sah das nett aus, in Wirklichkeit schlängelt sich die unendliche Autoreihe stop and go durch die kleine aufgemotzte Stadt. Am Bahnhof wieder Kaffee und Kuchen, Kalorien überholen Kilometer.

Finde die Fahrten in der kleinen Südostbayernbahn (für Fahrräder kostenlos) viel beschaulicher als im EC, der mich nach Günzburg bringt. Ein Mitfahrer, der alle Zettel kontrolliert und beim Schaffner bemängelt, dass da Räder am falschen Platz stehen. Oh Gott, das ist so deutsch! Bin froh, als ich aussteige. Endlich mal wieder Radfahren.

100 km in Schleifen bis Heidenheim. Fotografiere brav die Gedenktafel für den Leipheimer Haufen. Deutscher Bauernkrieg und so. Günzburg hat auch ein Schild! Ich freue mich so.

Oberhalb von Ulm geht es hektisch zu. Ich fahre über Schotterwege, plane im Sattel um, es geht hier nur einsam über die Felder oder an den Straßenrand gedrängt.  

Fahre also über Pfingstfreitag-Nachmittag-Autobahnen oder quer durch Hinterhöfe. Einmal mitten durch einen Polterabend, die Keramik zerdöppert auf dem Durchfahrtsweg, ewig nicht gesehen.

Passiere einen ausgesprochen geschmacklosen Deko-Laden mit Namen Unseld. Erinnert mich an die ehemalige Familien-Zahnärztin, Schrecken meiner Kindheit. Wie die einem immer mit ihren trockenen Fingern im Mund rumfummelte, schlimm. Der Laden würde jedenfalls passen. Mein Bruder ist ihr einmal nachts auf dem Rückweg von der Tankstelle begegnet, die Arme voller Süßigkeiten. Ich muss da jetzt noch grinsen. 

Eine Tankstelle brauche ich auch, leer auf einmal. Die erste in drei Tagen. 

Die Abendstimmung zwischen den verlassenen Hügeln ist der Hammer. Großes Fahrglück.

Heidenheim dann ein sehr seltsamer Ort. Auf den Straßen Halbstarke und Glasscherben, Autocorso, “um-zz um-zz” an jeder Ampel. Selten so wenig Lust verspürt, das Hotel noch mal zu verlassen. Meine Bettdecke misst mindestens zwei mal zwei Meter. Wickle mich ein und schlafe bis 7. Kaum ein Bäcker hat auf, dafür fährt die Polizei schon Streife. Der Zug heute erst kurz vor 9.

Wieder so eine kleine Bahn mit zwei Waggons. Vom Fahrradabteil kann ich durch das Fenster des Fahrers bis auf die Schienen sehen. Der hat schlechte Laune, wir sind ein paar Minuten zu spät. Herrscht einen Fahrgast an, der noch an der Tür rüttelt, als die Bahn schon anfährt, schimpft auf seine Lok. “Gib Gummi jetzte!” Wir brettern über die Schienen. Vor Crailsheim taucht eine Horde Kerle auf und skandiert vor seiner Kabine. “Daaaas ist unser Lokführer, Lokführer, Lokführer!” Zug fahren, oh Mann.

Mein letzter Abschnitt (zwei Schilder) ist dann ausgesprochen schön: Wieder wellige Landschaft, sehr grün, stundenlang kein Auto. Habe zwar ein paar Stunden Zeit für die 95 Kilometer, aber Gegenwind. Halte mich ran.

Irgendwann habe ich so viele verlassen liegende Dörfer gequert, dass ich mich frage, ob ich seit neuestem allein auf der Welt bin. Bin doch hier in Baden-Württemberg, da hat’s doch mehr Menschen. Hab ich was verpasst?

Endlich wäscht da einer sein Auto im Vorgarten, der Spuk ist vorbei.  

Ab Ochsenfurt wird es deutlich belebter. Ewig fahre ich den Radweg in die Stadt hinein, lande beim Versuch, den Main zu queren, unter einer Autobahnbrücke, unter der ich vorletztes Jahr schon mal stand.

Also doch wieder über die Alte Mainbrücke, mitten hinein in unerträglich viel Mensch, die süffeln dort Weinwein am frühen Nachmittag, sitzen freiwillig herum und machen Selfies. Ich schiebe das Jaegher hindurch Richtung Bahnhof. Schlechtes Gewissen, weil ich mich wieder nicht bei Jochen melde. Baue darauf, dass er gar nicht erst soweit liest.

Und dann ist es auch schon vorbei. Die Beine ausgeruht, 16 Schilder eingeheimst. Aber vor allem wieder ein Stück Landkarte erschlossen, eigene Bilder geformt, dieses ganz besondere Vergnügen. Ich vermisse es schon, als ich noch nicht mal im Zug nach Hause sitze.

4 Tage, 500 km, 5.500 hm

Strecken auf Komoot:

Tag 1: Pegnitz – Wackersdorf

Tag 2: Wackersdorf – Vilshofen an der Donau

Tag 3: Gars am Inn – Wasserburg am Inn, Günzburg – Heidenheim: nicht getrackt 

Tag 4: Crailsheim – Würzburg