Mitten im Sommer hing ich in den letzten Jahren radfahrerisch jedesmal in der Luft. Die großen Events waren im Juni vorbei, und ich hatte keine weiteren Veranstaltungen geplant, die mich bei der Stange hielten.

In diesem Jahr sollte das anders werden. Ein Ausflug mit den Komoot-Bekanntschaften war von langer Hand für Anfang September verabredet. 400 Kilometer wollten wir gemeinsam zurücklegen, das Brevet der Berliner Randonneure nachfahren.

Die Komoot-Bekanntschaften: Da war Michael, dem ich folgte, seit er seine Transcimbrica-Teilnahme von 2017 dokumentiert hatte. In diesem Jahr hatte er sich noch übertroffen, als er die Strecke durch Regen, Schnee und Finsternis als einziger Fahrer zu Ende fuhr.

Und da war David, der als Nachbar auf ähnlichen Strecken wie ich unterwegs war. David kommentierte und applaudierte meinen Touren immer sehr bescheiden, doch ich konnte zusehen, wie sich sein Tempo im Verlaufe einer Saison erhöhte. Und das war schon im letzten Jahr.

Es war klar, dass die Herren, wie der Coach sagen würde, voll im Saft stehen, aber Sorgen machte ich mir irgendwie nicht. Ich war 700 Kilometer am Stück gefahren, dagegen waren 400 doch wohl Butterfahrt!

Per Mail verabredeten wir einen stilgerechten Start morgens um 6 Uhr am Amstel House und 28 mögliche Verpflegungspunkte. Am Abend zuvor packte ich meinen halben Hausstand ein. Die Nächte hatten schon wieder einen frischen Unterton, und man konnte ja auch nie wissen.

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Als ich Samstag morgens aus dem Haus trete, rollt David schon die Straße auf und ab, Ausrüstung unverkennbar. Ich denke, wie seltsam das ist, ich kenne diesen Menschen so gut wie nicht, und in zwanzig Stunden wird das völlig anders sein. Wir sollten die Politiker auf solche Fahrten schicken, schlägt Michael später vor. Eine Nacht zusammen auf dem Rad, und schon wird das eine oder andere vermeintliche Problem keines mehr sein.

Es ist schon hell, als wir schließlich loskommen, ich überlasse die Herren ihren Gesprächen und bin ganz froh, noch ein bis drei Stündchen aufwachen zu können. Die Supernova Airstream fliegt in hohem Bogen auf den Asphalt, ist aber intakt, der Saddle Pack schleift und muss zurecht gezurrt werden. Wie immer: reinkommen. Über das Mühlenbecker Land hoch nach Liebenwalde, jede Kurve im Schlaf bekannt. 30 Kilometer Schweigen, danke.

Als wir den Wald verlassen, bringt die Sonne erste leise Wärme, und wir gehen in Formation. Sich reinhängen und einfach dahin sausen, ohne groß was zu machen – herrlich!

Hinter Joachimsthal die erste Pause, Michael weiß einen Rastplatz mit Blick über die Wildgänse am Grimnitzsee, jeder von uns hat Vorräte für eine ganze Kompanie dabei. Man könnte hier auch einfach sitzen und erzählen, aber wir haben noch ein paar Kilometer.

Auf die Räder gesprungen, und da endet die Butterfahrt abrupt. In den leichten Wellen Richtung Osten ist plötzlich reinhauen angesagt, bei jedem Höhenmeter aufs Gaspedal, volle Pulle, Anschlag, na gut, durchhalten, wie lang kann das schon so gehen? In Angermünde wollen wir Flaschen auffüllen.

Eine Traube tauber Omas besetzt die Schlange an der Norma-Bäckertheke. Im Supermarkt erste Lebkuchen (schon September!). Michael schaut ein bißchen andächtig. Aber was isst man dann erst im November? Aber bis dahin gibt es doch keine mehr! 360 Gramm Gummitiere tun es auch. Wir stopfen uns mit Süßkram voll.

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Trudeln über schmale, leere Straßen rüber zur Oder, die Sonne scheint, die Wege sind holprig, wir haben es gut! Den Oder-Radweg mag ich gern, hier könnte man nun in Ruhe entlang gondeln.

David erzählt von den Alpen, vom Wunder des Pässefahrens und vom Stilfser Joch, da geht Michael vor uns wieder in Position. Ich docke lieber an, dieses Ablegen auf den Aero-Lenker-Aufsatz, das heißt Alarm. Gleich haut er da vorn in die Pedale und wir wirbeln los, und seine Reifen (was ist das, 36er?) klingen, als ob er gleich abhebt, der Mann ist der reinste Windbrecher!

Mein Radcomputer fällt immer wieder aus, mal sehe ich den Puls (zu hoch), dann wieder die Geschwindigkeit, vielleicht ist es auch besser, nichts zu sehen. Kopf runter und treten. Sehe auch nicht, wieviel Kilometer wir schon haben, bloß nicht das Hinterrad verlieren, noch nie war ich hier so schnell durch!

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Im Nu sind wir in Kienitz. Verlassen den Fluß, den ich heute nur bei Hohen Neuendorf gesehen habe, wo der Weg einmal auf den Damm hoch führt. Erst 150, mault der Windbrecher, und gibt uns ein Softeis aus. Schon 150! halte ich dagegen, und werfe Gummitiere obendrauf, bloß nicht zu wenig essen.

Um die Ecke ist der Edeka-Lidl-Netto mit dem Getränkemarkt, die Flaschen voll, hoch die Füße, reingetreten. Kein Mensch kann 400 Kilometer lang so fahren! Oder doch?

Dafür ist es zusammen wirklich schön. David kommt angefahren und wir grinsen uns an. Es ist, als machten wir das hier schon seit zwanzig Jahren. Finde ich nicht selbstverständlich, sage ich den Jungs. Wie denn – Radfahrer sind doch alle nett! Hm, aber weißt du noch, der eine, der sich da so zwischen uns gedrängt hat, der war schon komisch…

Bei 200 haben wir einen Tubeless-Platten, die Dichtmilch zischt und sprüht, hab ich das auch mal erlebt. Schlauch einziehen, Gummitiere essen, knipsen. Der Nachmittag ist grau in grau im Landkreis Oder-Spree, niemals würde ich ohne die Herren heute so viele Kilometer sammeln.

Kohlensäure zischt aus meinen Radflaschen, Michael zuckt zusammen, das einzige, was den Mann heute aus der Ruhe bringt. Ich klebe an seinem Hinterrad und denke 10. Klasse Leichtathletik-AG, Waldschleichergang. Ich muss doch öfter mal Gas geben.

Aber es geht, irgendwie geht es, selbst nach 230 Kilometern noch, als wir auf Beeskow zu eilen. Sportlerklause, dort will der Windbrecher hin, aber die hat geschlossene Gesellschaft, wir essen im Stehen vor der Tanke, Wiener Würste und Brötchen und eine Banane und etwas Süßes und noch ein Smoothie und eine Brezel. Wie das mit den 700 Kilometern war, will David wissen. Ob die Beine sehr weh getan hätten? Nee, eigentlich nicht. Die tun mir ja nie mehr weh.

Trotzdem, man könnte jetzt etwas langsamer fahren. Könnte man.

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50 Kilometer bis zur nächsten Tanke. Der Sprintzug zieht wieder an.

Es fängt an zu nieseln, die Straßen sind nass. Rechts vor uns ist der Himmel hell, da wollen wir später hin. Links vor uns ist es düster, das kommt zuerst. Also so schnell wie möglich da durch, was sonst. Wann die Jungs wohl mürbe sind? Ob sie jemals mürbe sind?

Die Sonne sinkt, scheint unter der Wolkendecke durch, und plötzlich ist alles wieder golden, oh und ah, wir zücken die Handys und machen unsere Fotos. Sausen an der Tanke in Golßen vorbei, dann halt nach Dahme rein, da war ein Döner-Laden, die Ansprüche sind schon lange gesunken.

Das Gute an der Geschwindigkeit: Die Momente, in denen mir die Lunge platzt, die sind auch schnell wieder vorbei.

Die Qualität der Esswaren ist vernachlässigbar, aber es ist warm und die beiden Verkäufer freundlich (wo musst du hin? Fahr vorsichtig!), und David kauft uns Kaffee.

James Hayden hat beim Transcontinental seine Zähne auf dem Rad geputzt, erzählt Michael. Vergleichsweise nehmen wir uns wirklich Zeit.

Wieder draußen fröstelt es mich. Der Sommer ist sicher vorbei.

Im Dunkeln tasten wir uns entlang der Baustelle durch den Ort. Wowolltannhinn!?!, ein breiter Brandenburger Dialekt führt seinen Hund spazieren, David erläutert mit ausgesuchter Höflichkeit, ich bin entzückt.

Stockfinster die Nacht. Kein Stern am Himmel, kein Widerschein von der großen Stadt. Nur unsere Lichtkegel und seltsame Konturen auf Windjacken und Leuchtwesten.

Nachts fahre ich immer langsamer, das muss so sein, habe ich nie in Frage gestellt. Heute nicht, heute wird auch im Dunkeln gebrezelt. Was sonst!

Niemals um Gnade flehen, so lange du dich nicht übergibst, habe ich mir 2014 vorgenommen, als ich wieder aufs Rennrad stieg. Wegen der Härte. Ich wundere mich, dass es noch geht, nach 350 Kilometern.

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Letzte Tanke in Trebbin. Wir erwischen genau die halbe Stunde, in der aus technischen Gründen keine Transaktion möglich sei, aber die Tankwartin kommt ans Fenster geschlurft und verkauft uns Getränke. Ich finde ein verknautschtes Stück Pflaumenkuchen in meiner Tasche, es ist nicht sehr appetitlich, und in diesem Moment formt sich ganz bestimmt Kameradschaft, denn ich esse das, begleitet von herzlichem Gelächter, natürlich esse ich das!

Noch 40 Kilometer. Der Mond erscheint gelb und zerzaust zwischen den Wolken, wir müssten schon in der Stadt sein und fühlen uns wie auf dem Lande. Über Kleinmachnow und Zehlendorf gelangen wir auf breite Straßen, David und ich zählen auf 400 hoch, es ist erhebend, und erst gegen 1 Uhr, wir sind unter 19 Stunden, Bestzeit für alle.

Clayallee, diese Endlosschleife. So viel Stadtverkehr mitten in der Nacht.

Und schließlich biegen wir ab von der originalen Route, U-Bahn Spichernstraße, noch schnell ein Gruppenfoto, und lasst doch bitte einmal im Jahr ein dickes Ding zusammen fahren. Schon trennen sich die Wege, Erkner versus Prenzlauer Berg.

David und ich rollen zurück in unsere Nachbarschaft und sinnieren über das Gefühl von Zeitlosigkeit und Verbundenheit, das sich an solch einem Tag einstellt. Vor zwanzig Stunden als Fremde aufgebrochen. Jetzt sind wir wohl – etwas anderes.

Oder wie der Berliner sagen würde: Schön war’s gewesen!

Am nächsten Tag tun mir die Beine weh.

Tour auf Komoot

Danke an die Komoot-Bekanntschaften für diesen tollen Tag!