Unbedingt wollte ich in diesem Jahr noch die Strecke von „Thüringen erfahren“ unter die Räder nehmen, eine Tour, zu der Frank Bültge schon zum zweiten Mal einlud. Den eigentlichen Termin im Mai hatte ich verpasst und solle darüber auch nicht traurig sein, wie Frank mir schrieb, es sei doch ein überaus nasses Ereignis gewesen.

Die Strecke an sich spukte mir weiterhin im Hinterkopf herum. 520 handverlesene Straßenkletterkilometer von einem, der seine Gegend liebt. Geht es besser? Meine bisherigen Begegnungen mit dem Thüringer Wald waren sowieso allesamt denkwürdig verlaufen.

Harald sinnierte schon im Juli in den sozialen Medien über die Events des kommenden Jahres, und kurzerhand fragte ich ihn über Twitter, ob er nicht erst einmal mit mir nach Thüringen wolle, seit unserem Candy B. Road waren wir kaum miteinander gefahren. Ja, ich will! kam es in hanseatisch-wortreicher Art zügig zurück. Innerhalb von Minuten hatten wir einen Termin festgelegt und die Anfahrt per Bahn gebucht. Fast erschrak ich: ich hatte mir tatsächlich Gesellschaft organisiert.

An einem strahlenden Samstag Morgen kurz vor der Tag-Nacht-Gleiche begrüßen wir uns im Fahrradwagon des ICEs. Hallo, wie geht’s, ich freue mich auf die Strecke! Im Regionalzug ab Leipzig hängen die Bierschwaden der Fußball-Fans. Unser Zugbegleiter sammelt gut gelaunt die leeren Flaschen ein.

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(c) Harald Legner

In Naumburg steigen wir aus, quetschen uns durch das betriebige Städtchen rüber an die Saale, dort ist es sofort schön: grün, Radweg, Sonnenschein. Reiner Fahrgenuß, und ich muss nicht mal Bilder machen. Harald ist der Kameramann.

In Wethau, keine 20 Kilometer, ruft uns einer vom Wegesrand aus zu. Seid Ihr aus Hamburg? Ich will reflexhaft weiterfahren, aber unterwegs mit Harald ist bekanntlich alles möglich. Und tatäschlich, ein Bekannter hat den Vater mit Schild und Lampion auf die Strecke bestellt, den Radlern zum Gruße. Solche Dinge: berührende Geste.

Wir radeln so vor uns hin, noch halten die Höhenmeter sich zurück. Crossen an der Elster, mein liebster Ortsname, bei Gera die erste Pause auf der Brücke über die Weiße Elster, der Kuchenkenner ist mäßig begeistert. Ronneburg mit dem Baumwipfelpfad.

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(c) Harald Legner

Der Weg schlängelt sich von Dorf zu Dorf, eins lauschiger als das andere. Dieses sehr quadratische Fachwerk, und immer wieder anders geformte, sehr hübsche Kirchen. Ist es nicht unglaublich schön hier?

Ich freue mich über die kurvenreichen Straße, Harald findet das lustig. Was ich nur gegen lange, eintönige Gerade haben kann?

Der Duft von Marillen und überreifen Früchten. Pralle Sonne und die Luft, die schon ein bißchen dünner wird. Ein Idyll unter Obstbäumen.

Silberne Fäden spannen sich um meinen Lenker, um meine Arme, zwischen die Räder. Hier ein Hügelchen hoch und dort hinunter. Spät am Nachmittag ziehe ich noch mein langes Unterhemd aus. Es ist einer dieser sehr perfekten Tage.

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Eine Tanke bei Netschkau, 125 km, wie für uns gemacht. Noch lockere 50 Kilometer bis zum Abendessen in Zeulenroda.

Und plötzlich wird die Strecke zu Arbeit. Hoch und runter, das Thüringer Schiefergebirge in seiner ganzen Pracht. Die Anstiege nie so kurz, dass ich sie durchdrücken könnte, und nie so lange, dass sich ein Bergrhythmus findet.

Dazu das Schalten. Ich habe immer noch meine 34er-Ritzel-Sonderkonstruktion von der Superrandonnée. Schalten auf das große Blatt funktioniert nur richtig glatt, wenn ich hinten auf einem kleinen Ritzel bin. Das heißt, hinten vier Ritzel runter, vorne hoch, hinten zwei runter. Ich komme mir vor wie in der Beschäftigungstherapie.

Aber die Aussicht! Die Blicke, die sich durch einige wenige Höhenmeter ergeben. Längst sind wir uns einig, eigentlich ist die Strecke viel zu schön für eine lange Nacht.

Und das Abendlicht.

Ein Himmel wie Seidenpapier, die Bäume zarte schwarze Gebilde. Andächtig fahren wir dem letzten Licht entgegen. Grandios, sagt Harald. Hinein in ein dunkles Stück Wald, dahinter orangefarbenes Leuchten. Was ein Schauspiel.

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(c) Harald Legner

Zeulenroda mit den Pizzerien pünktlich um acht, im Toscana ist Betrieb, wir sitzen drinnen. Erster Schock, als ich ein paar Sachen vom Rad hole: Was, so kalt ist das schon? Harald beschwichtigt. Bloß nicht jetzt schon alles anziehen. Er hat sicher recht. Die Hälfte meiner Sachen verschwindet wieder in der Tasche, bevor wir losfahren.

Wir starten in meine längste Nacht. Davor habe ich auf dieser Tour den meisten Respekt. So spät im Jahr bin ich noch nie durchgefahren. Viele Stunden im Dunkeln, müde werden und frieren. Ich bin jetzt schon schläfrig, trotz Kaffee. Gähne heimlich vor mich hin, will meinen Mitfahrer nicht anstecken.

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(c) Harald Legner

Der hält bei einem Bushäuschen an, schlägt vor, zehn Minuten zu ruhen. Ich liege auf der staubigen Bank, kriege sogar die Augen zu. Eigentlich ist mir nicht mal kalt. Das Zittern kommt erst im Weiterfahren. Einen Berg zum Warmfahren, bitte! Es ist noch nicht mal 24 Uhr.

Wir sagen nicht mehr viel. Rechts vom Weg hängt plötzlich der Mond wie ein Stück Zitrone über dem Horizont.

Ich mache einen Deal. Zehn Ortschaften lang nicht gucken, wie spät es ist, oder wieviel Kilometer wir haben. Eßbach, und dann kommt ewig nichts. Immer ist irgendwas ausgeschildert, aber bevor wir das nächste Dorf erreichen, biegen wir schon wieder ab. Crispendorf, schließlich Möschlitz. Wundersame kleine Straßen, kein Mensch weit und breit.

Ganz still ist es oben auf den Bergen. Immer wieder mal ein Schwall wärmere Luft.
Nur Sternenhimmel, das Rauschen der Bäume, Atemzüge. Ab und an das vornehme leise Zischen von Haralds elektronischer Schaltung. Jeder für sich, und doch nicht allein. Mit Harald wunderbar möglich.

Mein Bremsgriff lässt sich etwas anheben, merke ich in irgendeiner der vielen Abfahrten. Nicht gut. Ob ich es einfach ignorieren kann?

In Saalburg bitte ich um einen Stopp, ich will meine langen Handschuhe anziehen. Und ob Harald doch mal einen Blick auf diesen Bremsgriff wirft? Wir stehen direkt vor einer Sparkasse. Mir war nicht bewusst, wie warm so ein Vorraum sein kann. Harald setzt sein Multitool an, mit ein paar Handgriffen sitzt alles wieder fest.

Wir hocken uns hin. Fußbodenheizung? Im Vergleich zu draußen fühlt es sich tatsächlich so an. Ich lehne meinen Kopf gegen die Ecke, bin kurz in der anderen Welt.

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Mein Mitstreiter kommt mit einem Arm voll Kleidung von draußen. Inzwischen ist es bitterkalt. Ich habe meine Winterüberschuhe dabei und bin froh.

Vielleicht noch vier Stunden bis zur Dämmerung. Von außen betrachtet sind das nur ein paar Momente. Wenn du mitten drin bist, düstere Ewigkeit.

Das Dösen hat gut getan. Aber es ist schwer, wieder warm zu werden. Zumal wir langsam die höheren Lagen verlassen und stetig den Berg hinunter müssen. Ein Gegenanstieg, ach, mein Jaegher für einen Gegenanstieg!

Hinter Reitzengeschwenda (allein diese Ortsnamen!) geht es ewig an der Saale entlang, eisig steht die Luft hier über dem Wasser. Ich fahre über die buckelige Straße so schnell ich kann, was nicht mehr schnell ist. Der nächste Anstieg bringt uns etwas zum Schwitzen, schon rollen wir wieder abwärts. Habe ich jemals auf dem Rad so gefroren? Habe ich in diesem Jahr nicht überhaupt genug gefroren? In strömendem Regen in die sizilianischen Berge, im eisigen Regen zur Moselquelle, erst vor einem Monat über den nächtlichen Jura. Die Festive 500 am Stück zu fahren, wovon ich natürlich noch immer träume, kann ich mir definitiv abschminken.

Unter uns liegen die Ausläufer von Saalfeld, Haralds Bekannter mit dem Lampion-Vater hat etwas von Kaffee geschrieben, aber wer weiß, ob der Mann wach ist; und ich kenne eine 24h-Tankstelle, aber wer weiß, ob die uns rein lässt. Schlotternd den Berg hinunter, noch eine Kurve und noch eine.

Im Unterwellenborner Gewerbegebiet deutet Harald auf ein Sparkassenlogo. Unbedingt!

So warm. Ich will nie wieder hier raus. Mir fällt ein, dass ich ein dickes Notfall-Unterhemd dabeihabe. Definitiv ist das ein Notfall.

Wir dösen wieder, neben dem Geldautomaten. Ich bin zweimal komplett weg, wache nur auf, weil mein Kopf so blöd runtersackt.

Harald checkt die Zugverbindungen. Es ist klar, dass wir nicht mehr die ganze Strecke in unserem Zeitfenster schaffen werden, und da sagt er, ihm reicht es bis hier.

Raus in die kalte Dunkelheit will ich auch nicht. Aber nach Hause? Der Sonntag soll noch schön werden.

Gemeinsam warten wir die Dämmerung und den ersten Zug ab, versuchen, uns auf dem Rad bis Saalfeld aufzuwärmen, was nicht möglich ist, denn es geht immer nur bergab. Ein weißer Kastenwagen blinkt uns an und dreht hinter uns, ich versuche Harald darauf hinzuweisen, aber der hält eisern die Straße.

Der Kastenwagen ist neben uns, offenes Fenster, hey! Thomas hat uns doch noch erwischt.

Ich will nur weiter, mich warm fahren, oder zumindest irgendwo drinnen sein. Am Bahnhof verabschieden wir uns schnell und herzlich.

Und jetzt? Erstmal die Tanke. Fast denke ich, sie hat den Betrieb eingestellt, aber dann finde ich sie doch. Freundliche Bedienung, überhaupt sind die hier sehr freundlich, belegte Brötchen, eins mit Rührei, wer sagt es denn. Draußen ist schönes frühes Licht. Um 7:30 bin ich wieder auf der Strecke, habe zu wenig getrunken (Harald hätte es mir gesagt!), kein Gespür nach der kalten Nacht.

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Und fange, kaum bin ich allein, mal wieder an zu rechnen. Bis zu meinem letzten Zug bleiben elfeinhalb Stunden. 240 Kilometer sind es noch, für die komplette Strecke. 21 Kilometer in der Stunde. Könnte ich nicht …?

Ein paar kleine Anstiege, ein lang gezogenes Tal. Es sieht flach aus, aber die Höhenmeter zählen stetig nach oben. Die Dörfer genauso hübsch wie tags zuvor, wie viele von diesen malerischen kleinen Kirchen gibt es hier eigentlich?

Plötzlich kommt mir Harald auf dem Rad entgegen, ich erschrecke. Wo kommt er auf einmal her, wie hat er mich gefunden? Aber im Näherkommen ist es nur irgendein fremder Radler mit rotem Trikot, Kappe und Gepäck am Rad.

Zwei Stunden, dann drei, und ich schaffe die Kilometer irgendwie, aber es ist mühsam nach der kalten Nacht, und ich will auch mal ohne Stoppuhr stehenbleiben, mich umsehen, ein Foto machen. Wo ist der Hoffotograf? Am Bahnhof Saalfeld abhanden gekommen.

Frank meldet sich, will wissen, wo ich sei, ob wir uns treffen. Mann, ich hab keine Zeit für soziale Zusammenkünfte! Ich will deine Strecke zu Ende radeln!

Aber dann komme ich doch ins Grübeln. Den ganzen Tag Kurbeln, ist es das wirklich? Gestern noch die Erkenntnis, diese Gegend ist zum Genießen. Kilometer zählen kann ich auch zuhause.

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Kranichfeld sieht schön aus. Harald, du verpasst etwas. Die Strecke dreht ab gen Osten, führt leicht abwärts, aber ich muss die ganze Zeit reintreten – der lästige Wind. Wie lang ist dieses Tal noch? Endlos.

Im Anstieg hinter Kahla ist mir endlich so warm, dass ich die ersten Lagen ausziehe. Schichtwechsel im Saddle pack, alles am Wegesrand verstreut. Ein Rennradler kommt vorbei, fragt, ob ich Hilfe bräuchte. Ein Schild nach Stadtroda, 10 Kilometer. Es war doch schön, so in Gesellschaft.

Oben rufe ich Frank an, der beschreibt mir den Weg zu sich nach Hause („abbiegen vom Track und rechts den Berg hoch“, na vielen Dank!), ich sei auch fast schon da.

Die 10 Kilometer ziehen sich natürlich. Hier noch ein Berg und da noch ein Berg.

Wie ich da so fahre, kommt mir schon wieder Harald entgegen. Typ mit Bart und Kappe, aber irgendwas stimmt nicht: die Packtasche ist rot, nicht die Windweste, und Harald hatte ja auch gar keine Packtaschen. Was sind das für Verwechslungen? Vielleicht ist er einfach auf diese Art bis zum Ende dabei.

In einer Abfahrt beugt sich ein Mann über ein weißes Canyon, Reifenheber in der Hand. Kann ich helfen? Er blickt auf, „so sieht man sich wieder!“ Definitiv nicht Harald, ich weiß also gar nicht, was der meint. Bis mir Sekunden später klar wird, er hat mir vor ein paar Kilometern Hilfe angeboten.

In Stadtroda schaue ich noch mal bei Google, will nicht den falschen extra Berg hochfahren. Frank und seine Frau begrüßen mich wie alte Bekannte, schon sitze ich am Tisch, esse Nudeln, trinke Kaffee und habe kaum Zeit, mich zu fragen, wie ich eigentlich dazu komme, wildfremde Menschen aufzusuchen, nachdem ich 25 Stunden geschwitzt habe. Aber neben der großen Herzlichkeit ist das Tolle an solchen Sportlerfamilien natürlich, dass sie genau wissen, was man nach diesen 25 Stunden braucht.

So sitze ich länger als geplant und habe die Zeit komplett aus den Augen verloren, als ich satt und träge wieder aufs Rad steige. Wann geht ein Zug, in drei Stunden? Gute 50 Kilometer, wenn ich bei Porstendorf abkürze, kein Problem.

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Ich verfahre mich erstmal aus dem Ort raus, dann nehme ich einige kleine Umwege, als der Track mich über Schotter führen will. Und dann muss ich fünfmal nachsehen, wo ich denn nun eigentlich abkürzen wollte, und wie weit es noch ist bis dahin?!

Bei Neuengönna biege ich auf die Bundesstraße. Es wird schon wieder knapp. Ich drücke den Radweg entlang, solange ich 25 km/h schaffe, sollte es reichen, aber nein, da biegt der Weg wieder gen Hügel, wieder schalten, kurbeln.

So ist das nix. Bei einer gemütlichen Picknick-Bank am Wegesrand hinter Camburg halte ich ein letztes Mal an. Noch zwanzig Kilometer. Eigentlich ein Witz. Aber wozu? Rührei, Sonnenschein, Bültgesche Gastfreundschaft und zwei imaginäre Haralds: Das Beste von diesem Tag habe ich ja wohl mitgenommen.

Von hier aus kann ich eine halbe Stunde später die Rückreise antreten. Und Camburg als Endpunkt gefällt mir irgendwie, habe ich doch hier im letzten Jahr eine andere Radfahrseele gefunden.

Sehr zufrieden besteige ich in der frühen Abendsonne meinen Zug in Richtung Berlin. Irgendwann werden die Tage schon wieder lang genug sein, um zurückzukommen.

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(c) Harald Legner

Strecke auf Komoot

Fazit Thüringen erfahren: Radelbefehl!

Die nächste Ausgabe mit neuer Strecke findet am 30.05.2020 statt. Ich glaube, Frank freut sich über alle Teilnehmer und besonders Teilnehmerinnen – auch über solche, die sich zwischendurch auf den Weg machen.
Es gibt auch einen Strava Club.

Allerherzlichsten Dank an:

  • Harald für die erprobt gute Gesellschaft – ich bin sehr froh, dass wir es wieder mal geschafft haben!
  • Frank für die wunderschöne, absolut fahrenswerte Strecke und das nette Kennenlernen.

Es war ein tolles Wochenende mit Euch!