Etwas Größeres sollte noch her in diesem Sommer, aber die offiziellen Veranstaltungen waren abgesagt, und auf die wenigen verbliebenen Formate zu bauen schien mir zu unsicher. Also etwas Eigenes planen. Nur was?

Einige Zeit überlege ich hin und her. Zur Verwandtschaft ins Allgäu, unterwegs Schlenker über Freunde und Bekannte, damit die 1.000 Kilometer voll würden? Aber das weite Radeln verträgt sich so schlecht mit Geselligkeit, und dann stehe ich mit dem Rad am anderen Ende der Republik und kann zusehen, wie ich dort wegkomme. An die Nordsee, 4.000 Höhenmeter? Zu wenig Drama. Dann wohl gleich in die Berge, wo es im nahen Umfeld ja an Klettermöglichkeit mangelt?

Zufällig stoße ich auf eine Seite, welche die höchsten Gipfel aller 44 deutschen Mittelgebirge listet, und stelle mit Entzücken fest, eine Linie von Berlin über den Fichtelberg (Erzgebirge, 1.215 hm), den Schneeberg (Fichtelgebirge, 1.051 hm), den Brocken (Harz, 1.142 hm) und zurück ergibt ziemlich genau 1.000 Kilometer und 10.000 Höhenmeter. Okay, das wird’s!

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Es folgen die Suche nach einem Termin, Wetterstudien, Stadlerbesuche. Lange grübele ich darüber, was ich für die Nacht mitnehme. Diesmal will ich mich unabhängig von hell beleuchteten Sparkassen machen, habe auch die Vermutung, den Nackenschmerzen, die mich nach 30 Stunden im Sattel gern plagen, durch „Schlafen“ im Liegen entgehen zu können.

Eine kleine Diskussion auf Twitter erinnert mich daran, dass ich seit letztem Sommer einen dieser Superprofi-Daunenschlafsäcke besitze (505 Gramm!). Der war in meinem Kopf den Graveltouren vorbehalten, aber natürlich passt er in der Lenkerrolle auch ans Jaegher, samt aller verfügbaren Powerbanks, das Rad hat noch immer keinen Nabendynamo. Ob 35.000 mAH reichen? Zwei oder drei Nächte? Ich kann es wirklich nicht einschätzen.

Am vorletzten Tag ist das Fahrrad dran: Kette reinigen, Bremsgummi erneuern. Beim letzten Bremsklötzchen zermatsche ich das Gewinde der kleinen Schraube. Alex vom Pédalage verdreht die Augen und stöhnt, als ich auftauche: „Übermorgen früh will ich los ins Erzgebirge…“ Aber das kleine Schräubchen dreht er mit einem Griff heraus. Und als ich ihn bitte, einen klitzekleinen Blick auf die Bremsen zu werfen, versichert er mir, „sieht jut aus!“ und winkt ab: „Det is och keene Raketenwissenschaft“. Am liebsten würde ich den Mann mitnehmen, aber natürlich hat er keine Zeit.

Am Samstag, den 04. Juli um 06:15 (spontan zehn Tage vorverlegt – wozu noch warten?) drücke ich endlich den Start-Knopf des Garmins. Das übliche Stop and Go südlich aus der Stadt heraus, wenigstens ist der Verkehr okay um die Uhrzeit. Unterwegs sein mit Ausrüstung für ein paar Tage. Große Ferien! Und die große Frage: Was wird das hier werden?

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Zuerst typisches Brandenburg-Feeling: Koppeln und Weiden, Pferde, Mais, Pippi Langstrumpf, endloser Sommer. Schnurgerade Landstraßen, es riecht nach Nadelwald und Sand. Bei jedem Hubbel verrutscht mein alter Saddlepack am Sattelrohr, und mir fällt auch wieder ein, warum ich M. überredet hatte, mir seinen zu überlassen. Der richtende Handgriff nach unten im Fahren wird zum Takt der Tour. Die ersten Kilometer gehen zügig dahin, der erste Flaschenfüll-Halt in Dahme ist im Nu erreicht.

Bis auf den Wind. Nach trockenen Tagen hatte ich Ausschau gehalten, erst kurz vor der Abfahrt registriert, es würde ganz schön aus Südwesten blasen. Na gut, dann hätte ich den gleich auf dem ersten Abschnitt hinter mir.

Aber allmählich wird er ungemütlicher, macht sich auf den offenen Straßen deutlich bemerkbar. Ich freue mich über jedes Waldstück, in dem ich mich wegducken kann, mustere gleichzeitig misstrauisch die Bäume, nachdem mir der Eichenprozessionsspinner kürzlich einige schlaflose Nächte beschert hat.

Nach 140 glaube ich, doch schon ein gewaltiges Stück geschafft zu haben und stelle rechnend fest, es sind immer noch 300 bis zu meinem südwestlichen Wendepunkt, dem Gipfel des Schneebergs. Aber ewig kann dieser Wind ja auch nicht anhalten?

In Riesa überquere ich die Elbe, 170 km, hatte die Stadt gewählt als Hommage an die Nudeln, nähere mich einer unerwartet hässlichen Beton-Skyline. Ein rennradelndes Paar hat sich vor der Brücke entzweit und brüllt sich von den gegenüberliegenden Seiten aus an. Etwas unangenehm berührt verdränge ich meine gelegentlichen Situationen mit M. Ab jetzt immer handzahm!

Im Netto gibt es keine einzelnen Bananen. Ich kaufe eine Aprikosenschecke, eine Brezel, Lachgummi, viel zu süß, und sattle wieder auf.

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Landschaftlich ist die Strecke schön, die Straßen klein, die Blicke von den Hügeln aus toll, die Temperatur perfekt. Nur gegen diese Böen ist einfach kein Vorankommen.

Auf einem geraden Stück ohne Wald schaffe ich bei festem Reintreten gerade mal 13 km/h. Und das in der Ebene. Manche Ortschaft wird mir auf fünfzehn Schildern angezeigt und allmählich habe ich das Gefühl, ich komme niemals hier weg. Schlecht ist mir irgendwie auch, ich bringe kaum etwas herunter von dem, was greifbar in meinen Taschen ist. Ein Ortsschild namens Memmendorf reißt mich schließlich aus meinem luschenhaften Trott. Jetzt aber mal voran hier, bitte!

Nach 265 km erreiche ich den Penny in Wolkenstein, 20 Minuten vor Ladenschluss. Habe Appetit auf gar nichts, streife lustlos durch die Gänge, nehme Sachen aus den Regalen, finde etwas Besseres, stelle das zuerst Gewählte angeekelt wieder weg. Smoothie, Trinkjoghurt, Buttermilch. Cola, oder doch Bier. Frische Trauben! Allerdings nur im Kilopack, wo soll ich damit hin? Egal, das einzige, was ich mir gerade vorstellen kann.

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Draußen hocke ich mich kraftlos auf den Fahrradständer. Nach der Buttermilch und dem alkoholfreien Bier bin ich pappsatt, das gibt aber keine Power. Was soll das hier werden? Die Nacht überstehen, und dann irgendwie weitergucken? Ein Zimmer nehmen? Aber das Problem ist, die Kilometer sind am nächsten Morgen die gleichen. Ich gieße das restliche Wasser über die Trauben, stopfe in mein rechte Trikottasche, was hineinpasst.

Knapp 20 Kilometer zum MacDonalds in Annaberg-Buchholz. Auf Saschas 600er hatte der ab 21 Uhr nur noch Drive-In. Dann ist es jetzt so, ich habe eh auf nichts Lust. Erstmal dort ankommen. Diese Anstiege, die ich extra eingeplant hatte, damit schon auf dem ersten Drittel genügend Höhenmeter sind. Ich trete nur noch stoisch vor mich hin.

Vor dem McDo hängen die Jugendlichen in Pulks herum, das Jaegher steht außer Sichtweite vor der Tür, es ist mir fast egal. Der Virtual Partner hat die erste Teilstrecke natürlich längst beendet, alter Streber.

Erst als ich dort eine halbe Stunde gesessen und Pommes gemümmelt habe, fange ich an, mich wieder halbwegs normal zu fühlen. Trinke meinen Espresso mit viel Zucker, esse doch noch die Brownie-Stückchen, die ich zuvor aus dem Eis geklaubt habe. Frage mich, wo der Fehler war. Der Wind hat wohl doch mehr ausgelaugt als gedacht.

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Auf der Toilette wasche ich mir den Mix aus Staub und Sonnencreme von Armen und Beinen. 33 Kilometer bis zum Fichtelberg. Ich hatte mir vorgenommen, mit mindestens 350 Kilometern am Tag zufrieden zu sein. Nie hätte ich gedacht, dass ich das nicht schaffen könnte.

Spare mir die Vierenstraße, die durch den Wald nach Oberwiesenthal führt und einen schlechten Belag haben soll. Mitten in der Nacht geht es auch verkehrsarm über die Bundesstraße, ein paar Kilometer weiter, dafür nicht so steil. Bin wieder etwas frohgemuter. 300 Kilometer.

Ein Hammer-Vollmond erscheint.

Ich passiere die Sachsenbaude, die nächtliche Auffahrt erinnert mich sehr an den Chasseral, Schweizer Jura, im letzten Jahr. In der Nacht einen Berg hochfahren, ganz allein mit dem weiten Himmel, unbezahlbar. Die letzten beiden Kehren ziehen sich, kein Wunder nach diesem Tag.

Oben auf dem Gipfel ist es sehr stürmisch, ich fotografiere schnell das Rad vor dem Holzbähnchen, ziehe die Windjacke über und kehre wieder um. Den kleinen Umweg zur tschechischen Grenze will ich mir schon klemmen, aber dann sehe ich das Schild und kann nicht widerstehen. Weltchallenge!

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In der Ferne erscheint auf der Gegenfahrbahn ein Auto, aber ich höre keinerlei Geräusche, wie kann das sein? Dann kapiere ich plötzlich, es sind tatsächlich vier Radler auf nächtlicher Tour, vielleicht auf der Stoneman-Strecke, die hier entlangführen müsste. Schweigend fahren wir aneinander vorbei. Wie seltsam, nachts habe ich noch nie jemanden getroffen, wie verhält man sich da?

In Breitenstein schiebe ich über die fiese Baustelle, Bagger versperren den Weg. Der Wind hat sich gelegt. Ich denke noch, ich sollte es nutzen und Kilometer machen, aber ich bin auch müde von diesem anstrengenden Tag, und morgen wird der schon nicht mehr so schlimm werden.

In Erlabrunn wieder geräuschlose Lichter, ich bin schon vorbei, da ruft eine Frauenstimme meinen Namen. Wen um alles in der Welt treffe ich hier mitten in der Nacht? Ich drehe um, und im Schein der Lampen erkenne ich D. aus Dresden.

D. kannte ich vom Sehen, bis wir vor einem Jahr eine lustige gemeinsame Zugfahrt von Camburg nach Leipzig hatten. Zuvor war sie an einem der unendlichen Anstiege des Sachsener 600er-Brevets an mir vorbeigerauscht, schimpfend wie ein Rohrspatz ob dieser unmöglichen Strecke, Bäckertüte und Windjacke wehten verwegen von ihrem Saddlepack. Ich wünschte mir, fünfzehn Jahre jünger zu sein, und ließ sie wehmütig ziehen. Ach D., zusammen hätten wir das zu Ende bringen können! Im nächsten Ort entschied ich mich fürs Abbrechen und traf sie am Bahnhof, wir mussten beide lachen, und das war vielleicht das Beste an diesem vermurksten Brevet.

D. also fährt mit ihrer Begleitung gerade den Maurice Brocco 400, der in diesem Jahr terminunabhängig stattfindet, was für ein irrer Zufall, wie habt Ihr mich überhaupt erkannt, ich sehe nur immer die hellen Kreise und dahinter nichts. „Man scannt halt so durch, wer nachts unterwegs sein könnte“. Der Begleiter flucht auf den Südwestwind, das belegt mir, dass ich die Anstrengung des Tages nicht geträumt habe. Dieses kurze, nette Wiedersehen mitten im dunklen Nirgendwo, es macht mich noch kilometerlang froh.

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Bei Oberwildenthal sehe ich aus dem Augenwinkel eine Bank in einem Bushäuschen, halte kurzerhand an. Es ist zwei Uhr, die beste Zeit zum Schlafen. Vor ein paar Jahren hätte ich mich noch gegruselt. Jetzt muss ich immer an Stromberg denken: Trifft ein Wolf im Wald einen anderen Wolf, dann denkt er sich, ah, ein Wolf. Aber wenn ein Mensch im Wald einen anderen Menschen trifft, dann denkt er, ah, ein Mörder.

Ich rücke die Bank in den Schatten, verschließe die Essensreste in der Lenkerrolle, um keine Tiere anzulocken, und krieche in den Schlafsack. Obwohl meine Sachen nass sind, wird mir gleich mollig warm. Die Lehne drückt im Rücken, es ist ein etwas unruhiger Schlaf, aber kein Vergleich zum Dösen im Sitzen in der hellen Sparkasse.

90 Minuten später fühle ich mich ausreichend erfrischt. Esse eine Banane, putze mir die Zähne im Gebüsch, bin um 4:40 Uhr wieder auf dem Rad. Es ist frisch, aber da kommen auch schon die nächsten Anstiege. Ich lasse es ruhig angehen, steige ein paarmal ab, mache Fotos mit den Wichteln, sitze an einem Feld voller duftender Kamille auf dem Boden. Der Wind ist gleich wieder zurück. Nach 24 Stunden gerade mal 370 Kilometer geschafft. Ein Witz.

40 Kilometer bis zur Tanke in Hof, extra mit Umweg eingeplant. Irgendwie schaffe ich es dorthin, seit 130 Kilometer nichts zum Nachfüllen, ein winziger Schluck Wasser ist noch in der Flasche. Die Tanke ist eine Automatentankstelle, der Shop öffnet erst um 10. Ich fluche. Dann eben weiter in Richtung Oberkotzau. Beim Planen noch über den Namen gelacht. Jetzt nicht mehr.

Drei Kilometer weiter die Offenbarung: eine Bäckerei, ich rieche es, bevor ich sie sehe. Erdbeerschnitte, großer Kaffee mit viel Zucker, Zitronenlimo und ein Hörnchen auf die Lenkerrolle. Auf der Toilette das Gesicht waschen und Sonnencreme. Noch über 30 Kilometer dieser beschissene Wind, bis hoch auf den Schneeberg. Und andererseits, schon 415 Kilometer in diesem beschissenen Wind geschafft. Da muss das doch jetzt auch noch gehen!

Bei Kirchenlamitz ergibt sich ein großartiger Blick auf die Berge. Ach Gott, noch so weit. Und so hoch!

Hinter Schönlind wird es dann steil und geht einfach immer nur geradeaus hoch, bis man die Passhöhe der Schneebergstraße erreicht. Und dann biegt man ab, und es geht noch steiler hoch. Hier haben sie, wie Tino sagen würde, den Asphalt einfach vom Berg runtergekippt, und porös ist der auch, und der Punkt auf dem Garmin bewegt sich nun wirklich überhaupt nicht mehr.

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Ich schiebe, stemme das Rad gegen den Wind, liege dabei fast auf dem Oberrohr. Ich denke an die vielen Male, die ich auf dem Rad dachte, ich kann wirklich nicht mehr, und in denen sich herausstellte, irgendwie geht es doch. Ich denke an Olaf Hilgers, der die Sachsen-Brevets organisiert. „Dass du dich hier noch mal blicken lässt“, dieser bescheuerte Satz im letzten Sommer, die Wut keimt wieder hoch.

Ich versuche, mich überhaupt an alle Situationen zu erinnern, in denen mir irgendein Mann zu verstehen gab, dass er mir irgendetwas nicht zutraute. Dass ich halt nichts groß hermache. Dass ich mal besser M. frage. Kommt ja her! Legt euch bloß mit mir an! Ein Fuß vor den anderen. Da vorn wird’s flacher, da kann ich wieder fahren. Schneeberg, verflucht. Dich schreibe ich sowas von in mein Gipfelbuch!

Oben seien laut quaeldich.de Crosser-Fähigkeiten gefragt, um den Aussichtsturm zu erreichen, aber es sind dann nur ein paar Meter über einen Pfad voller Steine und Wurzeln. Neben mir steigt einer erschöpft von seinem E-Bike, und ich frage mich, was der nun zu stöhnen hat. Ein anderer E-Biker bietet sogleich an, ein Foto von mir mit dem Rad zu machen. So schmale Reifen, die seien ja für die Tour de France geeignet, aber doch nicht für dieses Gelände! Und Jaegher, sagt er nachdenklich. Kenne er gar nicht. Vielleicht muss ich auch nicht immer denken, jemand sei eine total verkorkste Persönlichkeit, nur weil er halt ein Elektrorad fährt.

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Sehr vorsichtig steige ich die schwindelerregenden Stufen des Aussichtsturms hoch. Oben ein wahnwitziger Panomara-Blick sehr weit über das Land, und so wenig mir der Weg hier hoch gefallen hat, für das hier hat es sich gelohnt.

Allerdings sind da auch in jede Richtung dicke, dunkle Wolken. Lieber schnell wieder runter und nach Norden, mit der Aussicht auf Rückenwind. Endlich!

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