Nächstes Ziel: Brocken, 303 Kilometer. Ich rausche den unseligen Schneeberg hinunter, ein paar Kilometer noch nach Westen, dann ist Wendepunkt, die Strecke biegt ab, ich richte mich auf, hänge mich wie ein Segel in den Wind, trete an, und ab geht’s.

Mit wenigen Tritten erscheint die 30 auf dem Tacho, ich zische nur so die Straße entlang, geil, geil, geil!

Immer wieder neigt sich die Strecke nochmal leicht nach Westen, und dann ist wieder mühsames Kurbeln angesagt. Aber sobald die Kompassnadel nach links weist, geht es wieder ab. Hach, was Balsam!

Eineinhalb Tage stürmischer Gegenwind. So etwas habe ich noch nie erlebt. Einige Zeit denke ich darüber nach, ob das nötig war. Vielleicht hätte ich irgendwann einsehen sollen, dass das Wetter nicht passt für diese Tour. Aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wieder nach Hause zu fahren und nochmals zwei Wochen zu warten. Diese Stunden, bevor ich losfahre, treiben mich in den Wahnsinn. Sie zu überstehen ist viel anstrengender, als unterwegs zu sein.

In Münchberg leitet meine Strecke über Pflaster in die Innenstadt, ich wundere mich noch, was das soll, bis ich plötzlich vor einer Konditorei stehe. Ein paar Regentropfen fallen, Zeit für eine Pause, es ist auch schon wieder Mittag. Ein wunderbares Stück Blaubeerkuchen, eine Fanta. Erst im letzten Moment sehe ich die Eisschokolade auf der Karte, ärgere mich noch Kilometer später, sie nicht doch noch bestellt zu haben. Fülle an der Jet meine Flaschen auf und bin auf dem Weg ins liebliche Thüringen. 75 bis zur Total in Pößneck, 50 bis zum Abendessen in Weimar, und dann so weit in den Harz reinfahren, wie ich komme.

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Der Sonntag Nachmittag tröpfelt dahin.

Im Höllental kurve ich konzentriert über die gekieselten Wege, die hölzernen Brücken über die Selbitz nur aus dem Augenwinkel, die Wanderer springen zur Seite.

Bei Lobe trete ich gegen einen älteren Herren im Blaumann an, der mit seinem E-Bike vor mir eine Steigung nimmt und hinter der nächsten Kreuzung weit voraus ist. Am nächsten Stich hole ich ihn ein, radle locker vorbei, flach atmen, den Gegner demoralisieren, über sowas brauche ich gar nicht nachzudenken. Hinter der Kante hat er mich aber sofort wieder. Nächster Anstieg, gleiches Spiel, aber diesmal lasse ich oben nicht nach. Albern, ja nun. Wenn sowas noch geht, ist alles gut!

In Ziegenrück nehme ich ein kleines grünes Sträßlein hoch nach Paska, es wird steiler und steiler, und langsamer und langsamer, die Insekten umkreisen mich summend an diesem stillen Nachmittag. Oben. Immer wieder: oben.

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In Pößneck an der Tanke endlich eine Bockwurst, ich hocke mich auf den Bordsteinrand, eine ignorante Autofahrerin muss zwei Zentimeter vor meinen Füßen halten. Reg dich nicht auf. Füll dein Wasser ab. Fahr weiter. Senf klebt an der Maske. Noch zwei Anstiege bis Weimar. 600 Kilometer! Und endlich angekommen unterwegs.

Der Burger King in Weimar ist eine Frechheit. Die Bedienung unfassbar langsam, die „Zitronen Bottermelk Fusion“ ungenießbar, die Steckdose funktioniert nicht. Während ich dort stehe und auf mein Essen warte, werde ich so müde, dass ich mich am liebsten auf den Boden legen würde.

Erst nach 21 Uhr komme ich wieder aufs Rad, fahre mich hoch zur Ettersberg-Siedlung wieder ein bißchen wach. Oben großartige Aussicht im Abendlicht.

Und dann rausche ich runter in den flachen Teil von Thüringen, biege im Abendlicht auf die Strecke von Thüringen erfahren ein, Unstrut-Radweg, die Dörfer, menschenleere Straßen, rechts der Vollmond, darunter blinken die roten Lichter der Windräder im Gleichtakt, was für Momente.

Immer geradeaus, eben, Kilometer für Kilometer zieht unter mir weg, ich versuche, etwas Tempo zu machen. Werde mit einem Mal furchtbar müde, dabei ist es erst 23 Uhr. Will noch so weit wie möglich, aber ganz klar bin ich nicht mehr.

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Ein Bushäuschen, das zur Straße hin fast ganz offen ist, kurz ausruhen und dann allmählich etwas Richtiges zum Schlafen suchen. Ich lege mich auf die Bank, decke mich nur mit der Windjacke zu, noch ist es warm. Ein paar Autos dröhnen vorbei. In der absoluten Stille merke ich erst, wie laut die eigentlich sind. Wie lange man sie hört, bevor sie endlich vorbeifahren. Was tut sich der Mensch bloß an.

Nach ein paar Minuten geht es wieder, aber jetzt fange ich zu schlottern. Beschließe, mir den Kyffhäuser mit seinen tückischen Minikurven in der Abfahrt zu klemmen und links vorbeizufahren, in der Hoffnung, irgendwo auf den Dörfern einen Unterschlupf zu finden.

In Bad Frankenhausen hat es natürlich nur verglaste Bushaltestellen. Aus dem einzigen blickgeschützten Häuschen grölt mir Dorfjugend entgegen. Ob die was wissen? Aber dann verspüre ich wenig Lust, herauszufinden, wie die drauf sind.

In Rottleben ist eine kleine Freizeitanlage in einer Seitenstraße. Ich schleife das Jaegher über die Wiese bis zur Picknick-Bank. Es würde gehen, aber drumherum sind überall Häuser, und wer weiß, ob hier noch einer mit seinem Hund durchkommt?

Steinthaleben, Fehlanzeige.

Aber am Abzweig dahinter, direkt an der Straße zwar, aber die sieht hier nicht weiters frequentiert aus: eine überdachte Picknicksitzgruppe. Und kaum habe ich mich häuslich eingerichtet, meinen Schlafsack auf dem Tisch ausgebreitet (wieso sollte ich auch auf der schmalen Bank schlafen?), da faucht der Wind plötzlich heftiger, und es fängt erst leise an zu regnen und dann immer heftiger zu schütten. Ich prüfe noch das Dach, stelle zufrieden fest, dass Teerpappe unter dem Holz klebt, und kuschle mich in den Schlafsack. Ein LKW kommt vorbei, die Lichter streifen meine Schlafstätte, aber wenn der jetzt hier mitten in der Sintflut anhalten muss, ist ihm auch nicht zu helfen. Dann bin ich weg, schlafe kein bißchen schlechter als in meinem Bett zuhause.

Gute zwei Stunden später bin ich wach, es ist halb 5, hell und kühl. Ich esse alles auf, was ich in meinen Taschen finde, verstaue meine Sachen, während ich noch in den Schlafsack eingewickelt bin. Die Straßen sind nass. Heute, sage ich zum Jaegher, bringen wir es zu Ende. Noch 360 Kilometer. Praktischerweise gleich ein Anstieg zum Warmfahren.

Die Tanke in Berga lasse ich rechts liegen, das doofe, vielbefahrene Stück von hier bis in den Harz, erst denke ich, es liegt am Montag Morgen, dann fällt mir ein, beim Sachsen-Brevet war das Samstags früh kein bißchen besser. Bäcker Ließman in Stolberg hat auch geschlossen. Dann eben die Tanke in Hasselfelde.

Passiere das komfortable Bushäuschen in Friedrichshöhe, das ein nistender Vogel im letzten Jahr nur sehr widerwillig mit mir teilte. Der Himmel ist reichlich düster. Lass das einfach noch halten, bis ich wieder unten bin!

In Hasselfelde sehe ich zuerst den Supermarkt, kaufe mir Gebäck und Kaffee und warte ewig an der Kasse. Macht hinne, ich will vor dem Regen hier wieder weg sein! Noch 40 Kilometer, wieso ist das jetzt eigentlich noch so weit?

Ein paar Minuten später weiß ich Bescheid, sehe den Brocken in der Ferne, mit seiner typischen Ansammlung von Gebäuden, zwischendurch geht es auch immer noch mal runter. Aber die Nacht tat gut, und Kilometer für Kilometer nähere ich mich. Tanne, Sorge, Elend, Schierke, es tröpfelt wieder, ich registriere jeden Unterschlupf, falls das doch noch losgeht, und rein in den letzten Anstieg. Die weiten Areale mit den elenden toten Bäumen, C. hatte es erwähnt, es ist wirklich trist.

Einfach nur noch hochfahren und ankommen. Ich lasse den Körper entscheiden, ob er absteigen möchte. Seit ich angefangen habe, mir Gedanken darüber zu machen, wie ich solche Strecken bewältige, versuche ich, noch mehr mit dem Körper zu gehen. Dieses „Wille gegen Fleisch“ ist eigentlich unsinnig, das eine gibt es ohne das andere nicht.

Aber ich muss gar nicht absteigen, nicht mal im steilen Stück. Wie viel besser das ist, einen Berg in Windrichtung hochzufahren!

Die E-Biker hole ich diesmal trotzdem nicht ein. Egal. Als ich über die letzte Kuppe fahre, möchte etwas in mir platzen, ich juble kurz laut, mir egal, dass da Leute sind. Der dritte Gipfel! 750 Kilometer!

Ich drücke mir den Stempel der Harzer Wandernadel auf den Arm wie bei einem Club-Besuch.

Wieder erbietet sich ein freiwilliger Fotograf, dann stürzen alle in Richtung Brockenbahn, die gerade ankommt. Die Aussicht ist grandios.

Schließlich reiße ich mich los, es ist gegen 11, und ich habe noch 275 Kilometer vor mir. Fahre gen Wernigerode ab, und das ganze System fährt mit runter. Irgendwo kurz vor der Stadt biege ich schließlich in den Wald, eine kurze Pause und ein salziger Riegel, bevor ich mich wieder auf die Straße begebe, die hier eng ist und wild befahren.

Wernigerode selbst dann für Radfahrer das reinste Grausen, schlechter Belag, meine 13.000er-Powerbank springt aus dem Oberrohrtäschchen, Hilfe, nicht drüberfahren!, lächerliche Radwege, und dann kommt noch eine Brücke mit spiralförmiger Zu- und Abfahrt an einer Stelle, wo der motorisierte Verkehr eine unkomplizierte Unterführung nimmt, gekrönt mit dem Schild „Radfahrer absteigen“. Ich fluche. Boykottiere den schäbigen McDo, über den ich die Strecke extra hatte laufen lassen. Bloß weg hier.

Hinter der Stadtgrenze geht es wieder los: Segel in den Wind hängen und ab geht’s! Gott, ist das toll nach all der Schufterei. Noch einmal halte ich an, um Sachen auszuziehen. Blick zurück auf den Brocken, schon wieder so weit weg. Auf nach Hause!

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Allerdings sind es immer noch über 200 Kilometer, und ob das so gut war, die Essensmöglichkeit in Wernigerode auszuschlagen? Noch einmal ein Gegenanstieg vor Huy-Neinstedt, was ein Name. Ob ich die 10.000 Höhenmeter noch voll bekomme, wo ich den Kyffhäuser ausgelassen habe? Immer wieder wechsle ich auf dem Garmin zur Steigungs-Anzeige, da ist diese Frau, die ich mit Höhenmetern füttern muss. Immerzu das Gefühl, schon mit jemandem besprochen zu haben, was an diesem ersten gegenwindigen Tag falsch war. Dabei führe ich seit fünfzig Stunden nur Gespräche mit mir selbst.

Eine winzige Maus sitzt erstarrt auf dem Weg.

Meine Zähne fühlen sich riesengroß und klobig an.

Ich bin mir bewusst, dass die Dinge allmählich etwas merkwürdig sind. Ich fahre einfach weiter, irgendwann komme ich schon an.

Achthundert Kilometer!

In Dingelstedt suche ich den Edeka auf, dessen Bäckertheke endlich einmal Deftiges anbietet: Baguette mit Mozarella und Tomate, Überbackenes mit Camembert und Speck.

Schließlich holen mich doch die fetten Regenwolken ein, ich stehe in einer privaten Hofeinfahrt, streife die Überschuhe über, und dann esse ich alles auf, was vermutlich ganz hilfreich ist.

Um Oschersleben herum ätzender Verkehr, eine Rennstrecke ist ausgeschildert, kein Wunder.

Ab Magdeburg habe ich die Route von radweit.de übernommen. Strecken fürs Fahrrad, die dem Fortkommen dienen, nicht der Flächenerschließung. Ich liebe dieses Motto.

Hinter Biederitz hänge ich wieder im Wind. Liebe die geraden, einsamen Straßen, ein paar Platten entlang einer Bahnlinie, dann wieder astreiner Asphalt, immer gerade nach Osten, immer weiter, etwas eintönig vielleicht, aber egal, solange der Wind von hinten kommt, ich gehe aus dem Sattel, so oft ich kann, ich richte mich auf, balanciere den Lenker mit den Fingerspitzen, der Nacken ist wirklich noch gut für über 800, aber die Hände nicht, nein, die gar nicht.

Es ist ein schöner Abend, gutes Licht. Denk dir Geschichten aus, freu dich, singe. Du schaffst das. Du schaffst das. Wie viele Stunden nachher im Dunkeln? Immer wieder rechne ich, habe etwas Sorge, dass mein Strom nicht mehr reicht für die Lampen und den Garmin. Der Musiker würde mir bestimmt entgegenkommen, mit seinem Flutlicht die Nacht verbannen, aber wie kann ich fremde Menschen fragen, wenn ich den eigenen Mann nur im äußersten Notfall aus dem Bett hauen würde?

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Am Ortsschild Ziesar (105!) mache ich ein Foto für Radfreunde, die dort kürzlich rumgekurvt sind. Im Edeka der letzte Einkauf. Ich esse abgepackte Putenbrust-Ei-Sandwiches, etwas Deftiges, es ist so lecker. Ein kleiner Laster hält neben mir, läßt minutenlang den Motor laufen. Heikle Situationen im Fahren hatte ich dankenswerterweise so gut wie keine, dafür scheinen mir überall, wo ich stehe, Kraftfahrzeuge auf die Pelle rücken zu wollen.

Erinnere mich nicht mehr, wie ich meine Strecke nach Berlin hineingeplant habe. Stundenlang fahre ich eine schnurgerade Allee durch den Wald, helles, weiches Gras auf dem Waldboden, sitze einmal direkt am Rand, nie hier gewesen, plötzlich bin ich in Lehnin, über irgendwelche Felder, am Ende sind da noch Hügel, wieder die Frau im Garmin füttern, könnte eng werden, könnte reichen.

Mitten in Werder spuckt mich der Track auf die Straße, viel zu viele grellbunte Flächen im Dunkeln, viel zu hohe Bordsteinkanten im Schatten, ich sehe das alles nicht gut, ich fahre auf der Straße, keinerlei Verkehr, schon seit Stunden ist alles wie ausgestorben, ewig geht das so, wie lang kann ein einziger Ort sein? Dann führt der Fahrradweg in den Wald, stockfinster und unklar, ob ich je wieder herausfinde.

Potsdam ähnlich verwirrend, das ist nicht gut, aber nun bin ich schon in der Stadt, wo soll ich mich jetzt noch hinlegen, und das war ja von hier aus auch nie mehr weit?

Ich merke, dass ich mich jetzt wirklich noch mal zusammenreißen muss, fange an, laut mit mir zu sprechen. Da ist dieser unendlich lange, dunkle Anstieg hinter Potsdam. Der Abzweig, wo ich für ewig mit Harald und Joas stehen werde und den erhofften Kaffee nicht finde. Einer fährt an mir vorbei und biegt in die Krone ein, ich versuche, dran zu bleiben, und da sind plötzlich auch die tausend Kilometer voll, und das Rücklicht in der Ferne, zwischen den Mauern aus Bäumen, die sich immer enger um den Weg schließen, halt dich fest, halt dich bloß fest! Will die Krone zu Ende fahren und die Heer- und Bismarck-Straße nehmen, da fällt mir ein, wie schlecht dort der Asphalt ist, und dass ich schon seit Stunden jeden Hubbel meide.

Endlich die Unterführung, die Villen, die Brücke. Kuhdamm, taghell, sehr brauchbar, Taxen überholen mich. Fahr eine gerade Linie!

Die Budapester runter, zur Goldelse, Richtung Brandenburger Tor, Reichstag, Reinhardtstraße, Linienstraße, Weinbergsweg, letzte Ampel, bremsen, absteigen.

67 Stunden, 1.022 Kilometer, 10.024 Höhenmeter. Meine Knie tun so weh, dass ich das Rad kaum die Treppe hochbekomme.

Aber ich bin glücklich. Und noch so viel mehr.

Strecke auf Komoot, Fahrzeit: 51,5 h, Pausenzeit 15,5 h

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Danke fürs Mitfahren!