Wenn ich auf dieses Blog schaue, und damit irgendwie auch auf das radlerische Jahr, dann sieht es so aus, als seien das Jaegher und ich in dieser ganzen Zeit nur allein unterwegs gewesen. Aber das stimmt so nicht. Im schönsten Frühsommer, als die Tage noch unendlich lang waren, habe ich mich mit David auf ein 400 Kilometer langes Brevet begeben.

Das Kapelmuur-Brevet hatten „der schnelle Gerald“, wie er sich nennen lässt, und der auf jeden Fall noch schnellere Tom kreiert. Es führt aus Berlin heraus 80 Kilometer nach Westen, dann nördlich in weitem Bogen über die verwunschene Seenplatte bis kurz vor Prenzlau und wieder geradewegs südwärts zurück in die Stadt. 2019 war ich es aus reinem Pflichtbewusstsein (PBP-Quali!) mitgefahren, aber der Tag war sonnenlos und stumpf und wurde der Strecke nicht gerecht.

Dank Selbständigkeit und unregulären Arbeitszeiten fällt unser Termin auf einen Montag mitten im Juni, wir beschließen 6:00 Uhr, und als ich die Haustür öffne und David auf der anderen Straßenseite in einer Pose vorfinde, die irgendwo zwischen Herumlungern und Kauern changiert, weiß ich, zwei Stunden Schweigen zum Auftakt werden kein Problem sein.

Bedenken wegen der 400 Kilometern habe ich keine, höchstens vor meinem flinken, mit neuen Titan-Rad getuneten Mitstreiter. Also 200 durchhalten, danach wird er sich ja wohl mäßigen.

Wir hangeln uns aus der frühen Stadt. Hinter Paaren im Glien die erste Buckelpiste, Kapelmuur halt, es geht eigentlich, ich hatte das schlimmer in Erinnerung, aber das echte Pavé kommt erst noch. Blick nach unten, und die große Bidon ist weg. Die, die M. mir mal geschenkt hat, die schon immer dabei war, auf der Fahrt nach Frankreich, auf der Superrandonée, bei jedem wichtigen Meilenstein. Ohne groß nachzudenken, dass das jetzt ja auch fünf Kilometer her sein könnte, dass die womöglich komplett unter einem Busch verschwunden ist, kehre ich um, lasse David unschlüssig stehen.

Keine zweihundert Meter weiter werde ich fündig, Erleichterung, so lange bis ich sie aufhebe und feststelle dass sie trielt. Nimmst du halt so eine normale Plastikflasche, die passen ja auch in den Halter, befindet David. Das Herzensstück in irgendeinem schnöden brandenburgischen Abfalleimer zurücklassen? Niemals! Lieber dürste ich diese 400 Kilometer durch die heiße, verlassene Uckermark, und verlassen wird diese Strecke sein.

Nach 80 Kilometern Schild am Wegesrand, irgendwas mit Lilienthal, irgendwas mit Flugzeug, mein Mitstreiter strahlt über das ganze Gesicht. Ob wir hier mal anhalten könnten?

Gerade so warm gefahren, ich bin einfach zu verblüfft, um mich dagegen zu verwehren, M. wagt sowas schon lange nicht mehr. Halten wir also wegen eines Denkmals, alles gut, ich wollte ja in Gesellschaft fahren, ich kann mich arrangieren.

Das Denkmal ist aber nicht auf dem Parkplatz, sondern muss über einen Waldpfad und einige Stiegen erklommen werden, also hoch da, meine Beine schmerzen, das Jaegher lastet auf meiner Schulter und gar nichts ist gut.

Am Denkmal ist immer noch nicht das angekündigte Flugzeug, da geht es noch steiler hoch, glücklicherweise sieht ER davon ab, sein Titan dort hochschleifen zu wollen, so bleibe ich schön dort, passe auf die Räder auf, Alibi-Fotos, denn was tue ich hier, beste Uhrzeit, wir könnten schon Kilometer weiter sein, ich falle total in mich zusammen, das ist das Ende, das hat er doch geplant!

Schließlich kehrt er zurück, blubbernd vor Erlebnissen oder Assoziationen da oben in den Wolken, wer weiß das schon, dieses unendliche schwere Rad schneidet in meine Schulter auf dem Weg bergab, meine Arme gebrochene Flügel, in meinem Rücken fabuliert es dahin, im gleichen Moment schon kann ich nicht sagen, wovon er eigentlich spricht.

Keine zehn Kilometer bis zum ersten Bäcker. Totaler Filmriss.

Wir sitzen über dicken Stücken Streuselkuchen, mampfen einträchtiger, als das Lilienthal-Intermezzo hätte vermuten lassen, das Gaffa-Tape hält die Flasche nicht dicht, und David sagt, so vollgestopft müsse er etwas ruhiger machen. Ein Lichtblick.

Die Kurve nach Norden und der Wind kommt so garstig von der Seite, dass er auch gleich von vorn kommen könnte. Eine Ahnung, dass wir vielleicht doch andersherum hätten fahren sollen.Vorher noch versichert, der Puls müsse einigermaßen unter 150 bleiben, wenn das den ganzen Tag halten soll, jetzt egal, bloß nicht lumpen lassen.

An der nächsten Tanke will ich einen Snack, David schraubt an seinen Schuhen herum, wir vermissen unseren dritten Mann im Wind und finden heraus, dass unsere Geburtstage einen Tag nebeneinander liegen, ach schön!

Wittstock/Dosse finden wir beide doof. Danach, hatte ich in Erinnerung, geht es in den Wald (Windschutz) und dort hübsch kreuz und quer, bis wir dort im Osten wieder herauskommen, aber weit gefehlt. Offenes Land und der Wind jetzt endlich direkt von vorn. Wir fluchen und lachen, weil die Strecke auch so lieblich ist. Weil das so ein Luxus ist, sich, wo andere in die Arbeitswoche starten, einen Tag für das allerschönste Hobby zu nehmen.

Bei Rechlin in den Supermarkt, der letzte vor 100 Kilometer Wildnis. Wir müssen essen, essen, essen! Ich kaufe Buttermilch, Banane, Brötchen. David erbeutet ein Glas Spreewaldgurken und 300 Gramm Haribo. Von solchen Touren käme man ja immer mit mehr Vorrat zurück, als man beim Losfahren bei sich hatte, ich finde das sehr treffend, gut, dass es jetzt einige Stunden nichts mehr gibt. Ob ich eine Bockwurst wolle? Klar will ich! Also essen wir auch noch Bockwurst im Brötchen, und David isst alle Gurken bis auf die zwei, die ich esse (mit klebrigen Fingern aus dem Glas gefischt, Radfahrer sind Schweine, würde meine Mutter sagen), und dann erklärt er allen Ernstes, das Gurkenwasser werde er jetzt auch noch trinken.

Ich dachte, mir würde schlecht vom Essig, aber eigentlich sind diese Gürkchen ganz erfrischend.

Vorbei an Kratzeburg, und ich revanchiere mich für den Lilienthal, indem ich David haarklein auseinandersetze, wie ich hier im letzten Jahr den jungen Ole hinter mir lassen konnte, wenn man ehrlich ist, ja auch nur, weil der seinem Vater vorschlug, bei dieser letztmöglichen Gelegenheit doch noch auf ein Eis einzukehren und wusch, weg war ich, kroch schon ein paar Meter weiter selbst auf dem Zahnfleisch bis zum großen Glück der Geheimkontrolle an der namensgebenden Kapelle, wo Ralf seinen Gabentisch aufgebaut hatte, den ich bei federleichtem Smalltalk mit den anwesenden Radlern unauffällig abräumte, ich war nämlich blank, hatte keinesfalls mehr Vorrat dabei als beim Losfahren.

Erzähle ich alles in einem nicht endenwollenden Redeschwall, mitgefangen, bitteschön, ich hätte dann sicher vor, schneller zu sein als im letzten Jahr, meint David (bitte wie, nach dem Lilienthal?), aber nein, dieser Tag gehört uns ja als Team, und längere Pausen machen mir sehr viel Spaß, sobald da jemand zum Reden ist.

Und was für ein Tag! Bester, hellster, aber nicht zu heißer Juni. Wo die Farben leuchten wie im Frühling, aber die Temperatur bis in die letzte Niederung stimmt. Und diese Strecke. Mir fällt wieder ein, dass ich 2019 nicht darüber geschrieben hatte, weil mir Fotos fehlten, weil es nämlich überall sehr schön war, aber nie dieses eine besondere Motiv zu geben schien.

An der Kapelle – Halbzeit – müssen wir natürlich auf das Berglein steigen, weil die Aussicht dort oben im Jahr vorher so toll war (nachdem mir jemand gesagt hatte, ich bekäme sonst keinen Stempel, haha, vielen Dank auch), das Bauwerk ist noch immer eingezäunt, und wir sind uns einig, dies alles ist sowas von schön.

Aber auch spät. Blick auf die Uhr, wo haben wir die letzten Stunden gelassen. Auf dem Netto-Parkplatz. Egal, ich habe heute nichts mehr vor.

Wir labandern so vor uns hin, es geht hoch und runter, der Gegenwind nervt, aber wenn das alles ist. David rast vorbei, lässt die elektrische Schaltung zischen und ich kann das Weingummi riechen, dass er sich mit vollen Händen hinter meinem Rücken in den Mund geschoben haben muss.

Dass er zuhause gefragt wurde, warum wir so was machen, jetzt mal ernsthaft, erzählt er. Und ich schwadroniere sofort los. Die Natur, und wie toll es unterwegs ist und an einem Tag bis an die Müritz und zurück und überhaupt und sowieso, höre mich reden und schwafeln und gleichzeitig fällt mir ein, dass es genau einen einzigen Grund für das alles hier gibt.

Ramponierter Asphalt, ein Foto von den Rädern vor der alten Lok, der Pfad durch den Wald. Es zieht sich rüber nach Prenzlau, irgendwann ist dann auch gut mit Pflaster, Kapelmuur, Belgien, Pavé, wir haben es kapiert. Aber schön ist es, wir können das nicht oft genug erwähnen.

In Prenzlau an der Tanke viel Eis (Davids Idee), und immer geht einer von uns nochmal rein und holt Nachschub. Der Gurt vom Saddlepack ist kaputt, fällt mir zufällig auf, David lästert schon wieder, als ich die Kabelbinder aus der „dicken Tasche“ ziehe, natürlich hätte ich die dabei! Ist mir aber egal, das bestätigt sich hier ja von selbst, wer ist jetzt bitte die McGyverin!

Die Sonne senkt sich dem Horizont entgegen, der Wind hat sich schon zu Ruhe begeben, als wir ihn endlich im Rücken haben, letzte 120 Kilomter. Wir gondeln durch eine vergoldete Landschaft. Der Mohn leuchtet so rot im späten Licht, wie man sich das im Winter nie mehr vorstellen kann.

In der Luft vage Pläne, was wir noch so fahren könnten, zusammen ans Meer oder Richtung Brocken, aber zuerst, höre ich mich laut sagen, müssten die 1.000 km fallen (nicht mal der Coach weiß das), David befindet, ich stünde ja gut im Saft, meint der etwa, ich sei fett?!

Ein Dachs steht am Wegesrand, als warte er auf einen Bus, ich bin ganz aus dem Häuschen, David behauptet, ich hätte vohin das süße kleine Bambi übersehen, weil ich stur auf den Tacho gestartet hätte, echt. Irgendwann kommt dieser Klassenfahrt-Moment, da ist es egal, was man von sich gibt. Am Morgen noch höflich die News ausgetauscht, jetzt könnte ich auch anfangen zu singen, vielleicht habe ich das sogar gemacht.

Wir sind spät dran, später als im Jahr davor, wo ich mich beeilt hatte, weil ich noch im Hellen durch den Wald hinter Altenhof wollte, den ich immer ein bißchen gruselig finde. David flucht auf die kaputte Straße bei Altkünkendorf, die wollte er nie mehr fahren, jetzt aber halt doch, ich nehme einen kleinen Anstieg mit voller Wucht, manchmal ist es toll, wenn da noch was ist in den Beinen, nach 300 Kilometern.

Bei Joachimsthal ist es schon finster, alle Lampen an, meine sind kläglich gegen Davids Flutlichter, die Schatten auf der Straße, wie ein rasanter Glühwurm zischen wir über die Wellen, ohne irgendeine Verabredung, mal zieht es uns auseinander, dann wieder sind wir ein Vehikel aus vier Beinen und vier Laufrädern, surrende Reifen in der Finsternis, magisch.

Im Wald froh über die Flutlichter.

Letzter Halt in Marienwerder, ich brauche meinen Saftvorrat aus dem Saddle pack. Inzwischen bin ich müde, David ist erfreut und überlässt mir den Inhalt einer Flasche.  

Dieses letzte Stück ist mir so langweilig, Ruhlsdorf, Prenden, Lanke, ein Dorf vergesse ich immer, und dann sind es doch noch 4 Km mehr. Habe keine Beinlinge mit und frage mich, ob ich die doch noch brauchen würde.

Aber irgendwann sind wir da durch, biegen bei Zepernick zum Müllberg ab, von da aus ein Katzensprung. Keine fünf Kilometer vor der Haustür zählen wir hoch auf die 400 (eine Stunde schneller als beim letzten Mal, hat unser dritter Mann soviel gequatscht?), und ich beglückwünsche David zur Fahrt, und dann springt auch bei mir die Anzeige um, David beglückwünscht mich, und irgendwie ist es seltsam, sonst macht das niemand.

An der Ecke verabschieden wir uns, Team für einen langen Tag, lädst du das dann hoch, besserer Schnitt?

Am nächsten Tag sehr malträtierte Beine, ein paar Stunden schwelge ich vor mich hin, dann ein wichtiger beruflicher Termin, und danach ist die perfekte Fahrt („bis auf den Wind!“) in weiter Ferne.

Aber jetzt, wo die Sonne so selten zu sehen ist und ich mich wundere, wohin das Jahr verschwunden ist, erinnere ich mich gern an diese Farben, an die Freiheit und an den Geruch von zerkautem Weingummi. Bestimmt machen wir das wieder.

Und die kaputte Bidon steht natürlich auch noch hier rum.

Tour auf Komoot herzlichen Dank an die Scouts Gerald & Tom für die Strecke und den Ara Berlin fürs Ermöglichen.

Und natürlich an David für dies wunderbare Radsportfest. See you in Börnicke!