Eigentlich versuche ich immer, etwas Besonderes aus den Festive 500 zu machen, seit ich 2015 zum ersten Mal mitgefahren bin. Aber nachdem der Traum vom inonego einmal mehr den niedrigen Temperaturen zum Opfer fiel (null bis drei Grad, definitiv unter meiner Leistungsschwelle), wollte mir nichts mehr einfallen.

Stattdessen sorgte das Jaegher für Überraschungen. Kurz vor Weihnachten hatte ich die Kette gewechselt und merkte bei der Testfahrt, dass sie über sämtliche untere Ritzel rutschte, die ich in meinem Waldschleichergang gern zusammen mit dem kleinen Kettenblatt nutze. Festive auf dem großen Blatt?

Mühsamer als gedacht. Nach 60 Kilometer falle ich fast vom Rad, Hungerast, als sei ich ein halbes Jahr gar nicht gefahren, nur selbst dann kann ich normalerweise noch kleinmaschig vor mich hin kurbeln. Aber dieses große Blatt, das kriege ich einfach nicht rund gedreht. Ich bräuchte sechs Wochen zur Eingewöhnung, habe aber nur vier Tage, und die Radläden sind zu oder überlastet. M. bietet mir generös sein Hinterrad an, aber dem traue ich nicht, gefühlt bei jeder zweiten Ausfahrt produziert es einen Platten.

Ein paar Stunden später: Wird schon irgendwie gehen, fahre ich langsamer, esse öfter.

Der 24. ist zu nass zum Fahren. Am 25. stehe ich früh um 6 gestiefelt und gespornt auf der Straße, als eisiger Regen einsetzt. Wieder rein, Tee, Wecker stellen, um 9 gebe ich auf. Was soll auch der Stress, noch sechs Tage für knapp 600.

Am 26. fahre ich los, als ich soweit bin. Der Rückenwind soll die erste Hälfte richten, nach Hause komme ich schon. Ein neu entdeckter Abschnitt vom Niederfinower Schiffshebewerk aus nach Bralitz, Alte Schleuse, Trampelpfad, zerfetzter Asphalt, wildeste Natur. Ein Stück altes Oderland. Seit ich einen wunderbaren Roman* über die Trockenlegung dieses einstigen Sumpfgebiets für mich entdeckt habe, berührt mich diese Gegend noch mehr.

Esse brav mein Weingummi, und dann kommt der Rückweg gegen den Wind. Rien ne va plus. „Alte Frau an alter Oder“, sollte ich diese Tour nennen. Ich überlege, die 50 Höhenmeter aus dem Bruch heraus zu schieben, so anstrengend ist das. Macht dir das eigentlich noch Spaß?

Die Achillessehnen beginnen zu schmerzen, wahrscheinlich schneiden die Überschuhe ein, ich habe die dicke Winter-Version über die engeren aus Neopren gezogen, wenigstens warme Füße. Ab Haselberg noch zehn Dörfer. Eigentlich kann ich es nicht mehr sehen, so oft bin ich diesen schnellen Zubringer zum Fluss in diesem Jahr gefahren. Schaffe es mit dem letzten Buchsenlicht über das Kopfsteinpflaster in Beiersdorf. Dann knapp oberhalb des Horizonts eine Handbreit oranges Abendlicht zwischen düsteren Wolken und ich weiß wieder warum. 185 Km weg.

Sonntag nur ausradeln, eine Route nach Schloss Schwante mit dem Skulpturenpark, im Sommer von M. verschmäht. Mit Sturmtief Bella nach Norden, nach 12 Kilometern hört die linke Achillessehne auf zu schmerzen, nach 24 Kilometern die rechte, zumindest rede ich mir das ein.

Es ist so kalt, dass ich nur einmal die Handschuhe ausziehe, um ein Foto zu machen. Eine Joggerin warnt mich, da seien richtig dicke Äste im Schlosspark runtergekommen, ich sehe andere Fußgänger und fahre natürlich dort lang, wie dumm ist der Mensch. Auf dem Rückweg bezweifle ich, jemals heimzukommen, brauche eine Stunde länger als gedacht, auf 85 Kilometer. Aber der Radweg über Marwitz ist hübsch. Überhaupt, die menschenleeren Straßen. Zwischen den Jahren fahren ist toll! Nur die rechte Sehne gefällt mir gar nicht.

Am Montag ein wenig durch die Stadt, jemand hat mir verraten, wo die Ortsteilschilder Rummelsburg und Friedrichsfelde stehen, danach sind es auch keine 300 mehr, die könnte man dann vielleicht in einem, das tägliche Aufbrechen in die Kälte ist ja unerträglich.

Lande auf der hässlichen, ewig langen Treskowallee, kurbele so locker ich kann, und doch treibt mir die unzufriedene Achillessehne die Tränen in die Augen, und da wird mir klar, es ist totaler Blödsinn, diese Festive 500 zu Ende fahren zu wollen. Ich werde furchtbar mürrisch, das passt mir überhaupt nicht in den Kram. Hadere und wüte vor mich hin, am Betriebsbahnhof Rummelsburg entdecke ich plötzlich die versprochenen Schilder, wenigstens das.

Beschließe, auf dem Rückweg beim Pédalage zumindest zu fragen, ab wann es wieder Termine gibt. Während ich noch im Rucksack krame, steht Alex schon an die Tür, heute eigentlich nur Buchhaltung, aber das Ritzelpaket, das wechselt er gern, und grinst hinter der Maske, das mach ich jetzt gleich.

Jetzt gleich? Jetzt gleich!

Justiert noch hier was an der Schaltung, träufelt da etwas Öl in den Bremsgriff, das Rad und der Mann, die erkennen sich irgendwie.

Keine zwanzig Minuten später sause ich durch die Stadt, der Antrieb greift wieder, da ist noch unbenutzte Muskulatur, auf dieser kleinen Übersetzung, das geht null auf die Achillessehne, buchstäblich alles ist wieder möglich!

Am nächsten Morgen um halb 9 sitze ich auf dem Rad, früh hat es geregnet, und kalt war es in der Nacht, egal, jetzt nur noch Jahreskilometer hochzählen.   

Erst nachdem mir das Hinterrad zum zweiten Mal beim Anfahren wegrutscht, erkenne ich das Ausmaß. Überfrierende Nässe, Frost, Eis. Gleich wieder einen Gang rausnehmen, sachte um jede Kurve, warm wird mir auf die Art leider nicht, die schönen neuen Radwege nach Bernau und Rüdnitz plötzlich glatt und gefährlich, und die Sonne steht weiß und kalt am Himmel. 

Und dort, während ich mich frierend und verzagt durch die eisige Landschaft hangele, ist es an der Zeit, mich der Frage zu stellen, warum ich es nicht einfach sein lassen kann mit dieser angefressenen Sehne. In den letzten Jahren ist es mir doch ganz gut gelungen, loszulassen, wenn ich keine Freude mehr hatte, oder wenn die Gemeinschaft wichtiger war als das Kilometerziel, oder wenn mir die Wetterbedingungen zu schwierig erschienen. Was muss ich hier beweisen?

Nichts, natürlich. Es schmeckt mir schlicht und einfach nicht, einer körperlichen Schwäche nachzugeben. „Zeichen von Kontrolle und Disziplin“, hat jemand eine meiner Touren kommentiert, und innerlich habe ich laut und etwas bitter gelacht. Eine Sache, mit der ich mich wohl mal beschäftigen sollte. Aber nicht heute. Heute mache ich die letzten Tausend voll, so ist das jetzt.

Und dann wandert der Blick nach außen, und da ist frostiges Licht auf den Feldern und Raureif in den Gräben. Hinter Biesenthal auf dem Wirtschaftsweg, die ganze braune Farbpalette des Winters. Am Werbellinsee entlang hoch nach Joachimsthal und in den Wald bei Parlow, wo ich wie immer die Zeit vergesse, Meter um Meter, und irgendwann schalte ich die Anzeige um und weiß nicht mehr, wie weit ich bin und finde es schön.

Bis Angermünde fast eine Flasche geschafft, bei unter zwei Grad, an der Tanke Bananenbrot reinstopfen und über Stolpe rüber zur Oder.

Dort geht mir das Herz auf, dieser Blick über den Fluss und die Auen, vor mir der Weg, der sich einsam dahinzieht, ach diese unendliche Weite! Ab und zu dick eingemummelte Spaziergänger, ich grüße alle, der Asphalt endlich trocken.

So oft es geht fahre ich oben auf dem Deich, gegen den Wind, die Aussicht grandios, die Uhrzeit vergessen. Der Track leitet mich durch das restliche Jahr, ich esse mein Brötchen im Fahren und halte nur für ein paar Fotos.

Als ich den Fluss verlasse dämmert es schon. Entlang der Felder, hie und da ein einsamer Hof, seit Stunden nur Rauschen im Ohr. Ein Fasan flieht ins Unterholz, kurz vor der Dunkelheit. 

Bei Golzow beginnt es zu nieseln, erst zart, dann, als ich anhalte, um die Stirnlampe aufzuziehen, immer dichter, was soll das jetzt? Habe meinen östlichsten Punkt passiert und bin auf dem Weg zurück, aber das sind immer noch 110 Kilometer.

Ich fahre weiter, alle Lichter auf volle Pulle, vor meinen nassen Brillengläsern verschwimmt die Straße, pechschwarz ist der nasse Asphalt in der Dunkelheit, erkenne kaum noch eine Wegmarkierung. Ich orientiere mich am Garmin, versuche jede Unebenheit zu erahnen, einen Platten nachts bei zwei Grad hatte ich kürzlich schon, das brauche ich bei Regen wirklich nicht (ob das Erknersche Angebot noch gelten würde, mich jederzeit irgendwo einzusammeln?)

Bestandsaufnahme, das beruhigt. Ich habe genug gegessen, mir ist warm, im Saddle pack sind trockene Klamotten. Kein Auto weit und breit, das mich im Dunkeln über den Haufen fahren könnte.  

Schlecht: Ich sehe nicht gerade viel und komme auch nicht wirklich voran. Erst einmal weiter tasten, vielleicht hört es irgendwann auf. Notfalls in Fürstenwalde in den Zug (aber die Kilometer!).

Landstraße, Fahrradstraße, dunkle, nasse Abzweige in finsteren Dörfern, kaum zu unterscheiden, wo ich lang muss. Abbiegen über Kies, bloß nicht vom Weg abkommen. Ewig geht es so. Irgendwann wird der Regen schwächer, wieder stärker, und wieder schwächer. Schließlich nur noch ein leises Nieseln.

Ich bin so erleichtert, dass ich voll durch eine tiefe Pfütze brettere. Ein Schwall ergießt sich über meinen linken Schuh. Das war es wohl mit warmen Füßen.

Im nächsten Dorf erstmal Weihnachtsbeleuchtung fotografieren. Es ist gerade mal sechs. Das Rad knirscht und sandelt vor sich hin. Madame Achilles verhält sich still, aber die Quittung kommt sicher noch. 

Auf einer Fahrradstrasse halte ich an, Lampen aus, hocke mich an den Wegesrand, hoffe, dass nicht ausgechnet jetzt jemand vorbeikommt. Komme mir auf einmal vor wie eine dieser Abenteuer-Frauen, die ich bewundere. Ein paar Menschen kenne ich ja immerhin, die hier jetzt nicht unterwegs wären.

Vor Fürstenwalde weit oben am Himmel der Vollmond, du Depp, wo warst du vorhin? Lasse die zweite Tanke rechts liegen, zu kalt zum Absteigen, keine 80 mehr.

Ich fahre und fahre, hatte die lange Gerade hinter dem Städtchen vergessen, endlich der Abzweig in das Geschlängel bei Hartmannsdorf, das ich so mag. Von hinten blendet schon wieder einer auf, aber es ist nur der Mond, der mir hell und kühl über die Schulter blickt und jeden Flecken Frost im Wald erleuchtet. Und weiter vorn bewegen sich stumme Gestalten über die Straße, die üblichen Verdächtigen.

Schließlich spült mich der Track bei Schmöckwitz ans Ufer, Ortsschild Berlin, und vorbei ist es mit der Dunkelheit.

Adlergestell hoch, dumme Planung, egal, es ist geschafft, nur noch nach Hause, alle Handgriffe schon im Kopf, Badewasser hochheizen, Teewasser aufsetzen, nasse Klamotten weg. Und ein wenig jubeln. Denn dieses Mal war besonders für mich, auch wenn es nichts Besonderes war.

Festive Touren auf Komoot:

Alte Oder: https://www.komoot.de/tour/297741619

Schloss Schwante: https://www.komoot.de/tour/298111630

Der ganze Rest: https://www.komoot.de/tour/299056442

Frohes und vor allem gesundes Neues Jahr Euch allen. Haltet den Kopf oben. Seid fair zu anderen Lebewesen. Und vor allem: Habt eine gute Zeit auf dem Rad!

*Norman Ohler: Die Gleichung des Lebens