Die Aussicht auf meinen Geburtstag stimmte mich dieses Jahr missmutig. Zum letzten Mal würde die Vier vorne stehen. Offiziell alt. Zum Trost plante ich eine Tour gemäß einem Motto, das ich mal auf Facebook aufgeschnappt hatte: Du bist fit, wenn du dein Alter mal zehn genommen in Kilometern fahren kannst. Das schien mir die passende Party. Wenn der Schnee dann weg wäre.

Kurz darauf lanciert Orbit360 die #rideFAR-Challenge: 180 oder 360 Kilometer als selbstgeplante Runde, das Startgeld kommt den #BIKEYGEES und der Ghana Bamboo Bike Initiative zugute. Mein Geburtstags-Track passt zwar nicht so richtig, aber da steht auch nirgends, dass es nicht mehr Kilometer sein dürfen. 

So früh im Jahr hatte ich mich noch nie an eine solche Distanz gewagt. In den Wochen davor war ich eher kurz unterwegs, weil ich die Kälte so satthatte. Muss es halt über den Kopf gehen. Irgendwie war die Zahl auch zu abstrakt, um mir Sorgen zu machen, und außerdem sehnte ich mich tierisch danach, mir mal wieder komplett die Lichter auszufahren.  

Pünktlich am Tag vor meinem Termin (Temperaturen auch nachts bei fünf Grad – ein bißchen Komfort darf sein) setzt das übliche Vor-Start-Elend ein. Ich habe keinerlei Lust, bin unkonzentriert und fiebrig (die vielen Kohlehydrate), und finde den Gedanken an Radfahren im kalten Dunkeln schrecklich.

Ab eins liege ich wach und sehe irgendwann ein, dass es mit der Nachtruhe vorbei ist. Befolge die am Abend notierten Befehle: Frühstück, Brote streichen, Flaschen füllen, Anziehen, los. So funktioniert der frühe Start!

Um 2:55 auf der Straße, eine Stunde früher als geplant, eine Stunde früher zuhause, bestens. Das Gebot der Stunde: 40 Kilometer sind ein Klacks, und das mache ich jetzt einfach zwölf Mal hintereinander.

Es ist mild, kein Auto unterwegs, ich komme flüssig raus aus der Stadt, dort wird es merklich kälter. Wie gut, dass ich dem morgendlichen Impuls, auf dünnere Schichten zu wechseln, nicht nachgegeben habe.

Irgendwo in der havelländischen Einöde stehe ich an einem kleinen Bahnübergang, die Ampel ist gerade angegangen, knabbere am ersten Riegel. Im Winter essen: schwer, zu viel Gefummel mit dicken Handschuhen. Die Kohlenhydrate von gestern liegen mir auch wie ein Stein im Magen (merke: Du sollst kein Viertel Bananenbrot frisch aus dem Ofen essen).

Ich hoffe auf den Sonnenaufgang, aber die Umgebung wechselt nur von schwarz zu grau. Der Puls ist viel zu hoch, aber wenn ich langsamer fahre, friere ich. Erstmal weiter. Bevor nicht 200 weg sind weißt du gar nichts über diesen Tag.  

Knicke die erste Tanke nach 112, die Flaschen noch fast voll. Es nieselt ein bißchen, wo bleibt der versprochene Sonnenschein?

Finde mich hinter Wittstock-Dosse auf der Kapelmuur-Route wieder, grün und schön, denke an David und zack habe ich diesen Song im Kopf. Almost heaven, West Virginia …

Die zweite Tanke ist in Penzlin, ich stopfe den Inhalt einer Phantasia-Tüte in die Oberrohr-Tasche. 200 in unter achteinhalb Stunden. Rollt jut, wa! Die Zivilisierung in der Berliner Randonneursszene schlägt voll durch.

Auf einer ehemaligen Bahntrasse esse ich meine Butterbrezel. Quere das schreckliche Neubrandenburg, schlängle mich nördlich des Zentrums durch, es geht ganz gut, finde es trotzdem hässlich hier. Nichts zu fotografieren, nix country roads.

Finde ganz Meckpomm öde, das ist doch hier schon Meckpomm? Plattes Land, überall sind die Felder ordentlich bestellt, kaum mal eine spannende Baumgruppe fürs Auge, keine Füchse außer tote. Ich schau sehr viel auf dem Garmin herum, na gut, das schont wenigstens den Nacken. Krame vergeblich nach Ohrwürmern, weil ich wirklich nicht den ganzen Tag diesen blöden Country-Song vor mich hin summen möchte.

Erreiche Ueckermünde, halb vier am Nachmittag. Aus den Augenwinkeln ein Bäcker mit einem Büschel Bananen auf der Theke. Ich kaufe zwei und Kaffee und Pflaumenstreusel und ein Milchbrötchen. Randonneursleben. Was habe ich es vermisst!

Vorn am Strand ist es gefällig urlaubshaft. Eine Frau trägt eine Schale Fritten vorbei, was ein Duft. Keine Zeit. Der Gedanke, nachher im Dunkeln nur noch deutlich unter 150 zu haben, treibt mich vor sich her.

Richtung Süden kommt der Wind von vorn, dafür gefällt mir die Gegend besser, schöne kleine Kirchen, ruhige Verbindungen zwischen den Orten, und immerhin geht es schon heimwärts.

Es dämmert und fängt wieder an zu nieseln, irgendwann sind die Straßen klatschnass und voller Pfützen, alles vorher durchgezogen, was ein Glück.

Bei Casekow ist es dunkel und wird schnell kalt, oder ich bin leer. Ich ziehe die warmen Handschuhe und Überschuhe an. Noch 20 bis Schwedt, sehr gute Wegführung durch den Ort, kaum Verkehr, über die große Kreuzung, letzte Tanke lasse ich rechts liegen. Vorbei an einer Gartenparty, den Hang hinunter, über die Brücke, runter an den Fluss, und da:

Magie.

Das untere Odertal ist überflutet, die riesige Wasserfläche gespenstisch im Vollmond. Links der Blick auf die Lichter der Stadt. Rechts der Radweg, zwischen dem Fluss und der Alten Oder. Ein ohrenbetäubendes Gequake von Hunderten – was – Frösche? Enten?

Vom Wasser zieht es eisig hoch, ich muss weiter. Rolle verzaubert auf dem Damm entlang, muss mich zusammenreißen, um auf den Weg zu achten. Ein Katzensprung ist das jetzt noch, ich fahre und fahre, bis der Garmin plötzlich aufleuchtet. „Strecke verlassen“. Ich sollte links abbiegen, aber links ist nur Wasser, wo soll das gewesen sein?

Ich drehe um und suche, laut Garmin führt der Track dort drüben weiter, aber da ist kein Weg, alles überschwemmt. Auf der Karte finde ich einen Umweg, der mich wieder auf die Strecke bringt. Und wenn der auch nicht passierbar ist? Allzu viele Reserven habe ich nicht mehr, wird mir auf einmal bewusst. Was gerade noch beschaulich schien, fühlt sich plötzlich etwas unheimlich ein.

Ruhe bewahren und weiterschauen. Alternativ kann ich mich rechts halten, das Oderbruch verlassen und über Angermünde fahren (aber es wären hoffnungslose Kilometer mehr). Erreiche die Brücke nach Stützkow, könnte dort hoch.

Links dagegen tut sich ein Nebelfeld auf, das mich verschluckt, in konturenlose Schwaden hüllt. Ein Reh springt zwei Meter vor mir über den Weg, erschrickt mich zu Tode. Jetzt aber!

Aus dem Nichts taucht ein Gatter auf. „Afrikanische Schweinepest“ und „Bitte geschlossen halten“. Seit Monaten ist das Ufer der Oder mit niedrigem Zäunen gesichert, um die Wildschweine abzuhalten, die von Polen aus herüberschwimmen könnten.

Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass sich das Gatter öffnen läßt. Dahinter ist der Weg mit weißer Watte zugestopft. Vorne am Fluss wird sich der Nebel ja wohl lichten?

Ein lautes Platschen von links, ich fahre zusammen. Ist da ein Wildschwein ins Wasser gesprungen?

Am Fluss ist die Sicht kein bißchen besser. Doch zurück? Aber wohin? Ich fahre in Schrittgeschwindigkeit und mit laut klopfendem Herzen. Jede Müdigkeit ist dahin. Schau auf den Weg! Hier brauche ich nun wirklich keine Panne. Noch einmal muss ich das Hintergelände queren, auf einer Strecke, die ich nicht kenne, hoffentlich ist es dort nicht auch überschwemmt. Ganz nahe schreit ein Tier, es geht mir durch Mark und Bein. Dieses überdeutliche Erleben des Moments ist mir ein bißchen zu viel. Bitte mach, dass ich nicht zurückfahren muss!

Ich taste mich dahin, linse über meine beschlagene Brille hinweg, der Schnitt ist wahrscheinlich komplett dahin. Endlich der Abzweig auf dem Garmin. Ich suche den Weg, fädele mich erst auf einen Pfad ein, der ins Nichts mündet, nächster kurzer Schreck. Aber dort drüben, da ist es!

Gesperrt. Ein Schild von der anderen Seite. Für einen Moment sinkt mir das Herz. Ich muss hier wieder raus!

Dann sehe ich den Öffnungsmechanismus, zerre das Rad durch. Nochmal sind Straßenschäden angezeigt. Schau! auf! den! Weg!

Schließlich in Lunow, aus einem Bushäuschen grölen mir ein paar Jugendliche hinterher. Wie profan Zivilisation dann wieder ist.

Noch 80. Der Nebel ist weg, aber die Luft feucht und kalt. Ich bin wach, erledigt, ich friere und mir ist irgendwie mau. Einmal austreten brennt wie die Hölle, das auch noch, danach zittere ich am ganzen Körper.

Ich frage mich immer, wie Kletterer eigentlich wissen können, dass sie diese stundenlangen Routen schaffen. Dass ihnen nicht irgendwann einfach die Kraft ausgeht, oben am Fels. Ich könnte mir hier ja wenigstens noch ein Bushäuschen suchen (und dort erfrieren).

Aber ich weiß es auch. Trotz allem weiß ich es, sonst ginge es nicht.

Ich steige wieder auf. Teile mir die Strecke in vier Etappen. Ab hier kenne ich jeden Meter. Das Geschlängel über Oderberg und Liepe bis Niederfinow. Es riecht nach Holzkohleofen, es ist nicht so steil wie befürchtet. Schau auf die Straße, Frau!

Ich muss an eine liebe Radbekannte denken, die beschrieb, wie sie unterwegs vor Erschöpfung schluchzen musste. Ich versuche, mir das vorzustellen. Kaue auf dem Wort herum, finde es seltsam und schön.

Hoch nach Heckelberg. Vor vielen Jahren bin ich hier manchmal hergekommen, um Höhenmeter zu sammeln. Jetzt könnte ich schieben. Aber bitte, alles hat seine Grenzen.

Halte hin und wieder an, um ein Stückchen Salty-Peanut-Riegel zu mümmeln. Im Fahren keine Chance. Rollt nicht mehr janz so jut. Wenigstens scheint der Mond und es ist nicht ganz so finster. 

In Freudenberg Kopfsteinpflaster, sehr konzentriert auf den schmalen, kaputten Gehweg biegen. Mit aufgeregten Hunden rechnen. Von Dorf zu Dorf denken. Hinter Börnicke auf die kleine Abkürzung.

Bei Lindenberg die Lampen voll aufdrehen, das Stück mit den Asphaltkanten.

Wiedereintritt in die Stadtatmosphäre. Das letzte Geschlängel durch den Kiez, die Kilometer jetzt doch noch exakt voll kriegen. Lachen, frieren, high sein. Mich sehr freuen, dass eine weitere Hürde gefallen ist. So schwer zu erklären, was es mir bedeutet. 

„Und Eva, hast du eigentlich das Rennrad schon aus dem Keller geholt?“ – „Ich denk schon!“

Tour auf Komoot

Die #rideFAR-Aktion ist gerade bis nach Ostern verlängert werden – Ihr könnt also mit Euren Touren noch fünf Tage lang für ein kleines Startgeld in selbstgewählter Höhe etwas Gutes tun! Zur Anmeldung geht es hier.