„Ich würde da ja gern in einem Zweierteam fahren“, schrieb Ann-Kathrin im Januar auf Twitter. „Aber da gelost wird, ist ja nicht sicher, ob ich jemanden kenne.“ Bis dahin kannte ich sie nur von Twitter. Hatte mir angehört, wie sie in Marens Podcast von den Girlsrides erzählte, die sie regelmäßig organisierte, und fand sie angenehm aufgeräumt.

Beim Maurice Brocco war ich vor vier Jahren gestartet; ein so genanntes Alleycat, bei dem vier Checkpoints in Eigenregie anzufahren sind, was auf eine Strecke von gut 400 Kilometer hinauslief. Ich hatte so wohlgehütete Erinnerungen an das Event, das ich nie mehr hinwollte. Aber hier war nun die Möglichkeit, eine Frau für die Langstrecke anzufixen. Ich wälzte es 24 Stunden. Dann schrieb ich zurück, ich stünde bereit.

Wir telefonierten, steckten ein paar Koordinaten ab. Wieviel schaffst du am Stück, wann isst du, wie sieht es mit Pausen aus? Für 400 Kilometer muss man nicht schnell sein. Aber wenn noch zahlreiche „ich ziehe meine Jacke aus – nein an – nein wieder aus“-Pausen dazukommen, wird es mühsam. Ann-Kathrin war bisher einmal 204 Km gefahren, aber danach wenigstens nicht am Ende gewesen. Typ Rouleurin, vielleicht.  

Als ich hörte, dass die Austragung wie im letzten Jahr ohne besetzte Kontrollen stattfinden würde, war ich nicht traurig. An den Checkpoints nach rosa Kästen Ausschau halten, in denen die Stempel auf uns warteten, das fand ich eine schöne Variante. Die Planung ergab 435 Kilometer: alle 80 Km ein Supermarkt, für später 24h-Tanken, und von Ann-Kathrin noch ein paar Versorgungsideen dazwischen (und kurz vor Abfahrt recherchierte ich doch noch zwei Sparkassen für die Nacht).

Zum ersten Mal zu Gesicht bekomme ich Ann-Kathrin am Morgen des Events, als ich sie in Leipzig bei Marie abhole. Nervös bin ich diesmal vor allem, weil mir am Tag zuvor erst richtig bewusst wird, was sie sich da eigentlich vorgenommen hat. Was hätte ich ihr alles noch sagen müssen? Zu spät.

Sie hat ein Kärtchen mit den Abständen zwischen den Checkpoints und erklärt mir, wir führen jetzt fünf Touren zusammen. Sie sieht viel jünger aus, als ich von den Fotos her gedacht hätte, hat etwas Zartes an sich, aber ich beiße mir auf die Zunge, bevor ich im Gegenzug hören muss, dass ich in echt viel älter aussehe.

Marie begleitet uns ein Stück, und am Start, dem Vereinshaus des Roten Stern, wartet Felix, den wir auch von Twitter kennen. Ich bin mäßig begeistert, befürchte, dass es in die übliche Losraserei ausartet. Aber Ann-Kathrin lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und fährt ihr Ding, und alle gruppieren sich brav um sie herum.

Die ersten 50 Kilometer fliegen dahin mit leichter Unterhaltung, ungleichmäßigem Straßenbelag, Fotos und kleinen Anstiegen. Als wir eine Baustelle mit viel Schotter erreichen, staune ich, wie munter sie dort reinbraust.

Schließlich dreht auch Felix ab, und wir sind allein mit unserem Vorhaben. Es ist ein milder, aber wolkenverhangener Spätvormittag, es könnte genauso gut schon Abend sein, über der ebenmäßigen Landschaft, dem grau bewölkten Himmel verliere ich jedes Zeitgefühl. Wir knüpfen an unsere Telefonate an. Ann-Kathrins Wahoo piepst bei jeder Abbiegung vor sich hin.

Eine Zeitlang sieht es so aus, als führen wir direkt auf die Regenfront zu, und später sind auch die Straßen nass, aber von oben bleibt es trocken.

Beim ersten Checkpunkt in Großkagen – „Zuhause bei Tagträumern“, 85 km, sagt Ann-Kathrin, sie sei noch nie so viel gefahren, ohne zumindest mal abzusteigen, und ich bin ganz angetan. Ein paar Fotos, erste Weintiere, wir machen uns auf zum Bäcker in Meißen, der mit 4,8 bewertet ist und samstags geschlossen hat. Schlampige Planung! Dann eben der Netto. Ann-Kathrin zögert vor der Bäckertheke. Da sei nichts, was sie gut im Fahren essen könne. Mir wird klar, wie dieses Langstreckenfahren wirken muss. Die paar Minuten, um ein Stück Kuchen im Stehen zu essen, die haben wir schon.

Die zweite Etappe: 84 Kilometer. Etwas mühsamer nun, wir umfahren Dresden im Norden, die Straßen in Stadtnähe verkehrsreicher, und hier verstecken sich auch die meisten Höhenmeter, wir sind absichtlich gegen den Uhrzeigersinn unterwegs, damit sie in der ersten Hälfte kommen. Der Nachmittag fluppt dahin, der Himmel immer freundlicher.

Wir schießen uns auf den Rewe in Bischofswerda ein, haben unabhängig voneinander realisiert, dass wir den McDonalds am Cottbuser Bahnhof (geöffnet bis 21 Uhr) eher nicht schaffen. Aber wir kommen flüssig voran, und da ist auch schon wieder ein Checkpunkt in wenigen Kilometern.

In Bretnig nimmt unsere Route einen kleinen Umweg parallel zur Hauptstraße auf einer Anhöhe, ich sehe auf dem Garmin, dass wir genauso gut unten bleiben können. Frage mich gerade, ob wir Aussicht verpassen, da taucht vor uns ein Rennradler auf, oranges Trikot, nein eine Rennradlerin, blonder Zopf – Steffi, hurra! Wir wussten, dass sie am gleichen Tag von Lauchhammer aus in gegensätzlicher Richtung unterwegs sein würde, aber nicht, ob unsere Routen zueinander passten. Großes, schönes Hallo, es ist ein bißchen wie Kirmes. Kilometerlang schwärmen wir noch von dieser Begegnung, jetzt, sagt Ann-Kathrin, haben wir zumindest alle wichtigen Personen getroffen.

In Bischofswerda die erste Buttermilch und Bananen und noch eine Brezel. Ann-Kathrin klemmt sich unsere überzählige Sprudel-Flasche auf den Saddle pack, beim nächsten Pflaster rattert sie übers Parkett.

Auf nach Cottbus. Gleißendes Licht am Abend, wir passieren vornehm hergerichtete Anwesen, gepflegte Gärten, die Lausitz ist eine einsame Gegend, aber bei weitem nicht so trist wie Brandenburg. Ich bin außerdem allmählich wirklich begeistert, wie Ann-Kathrin das alles macht. Pedaliert in ihrem Tempo stetig vor sich hin, jammert nicht, braucht keine zusätzlichen Haltezeiten, ist in fünf Sekunden abfahrbereit. Die Frau ist ein Uhrwerk.

Die Esso bei Bautzen lassen wir großzügig aus. Ein Fuchs quert die Straße mitten in der Stadt. Ann-Kathrin verteilt das Wasser aus der Flasche. Wir rollen. Die Landschaft ist so schön, das Wochenende fühlt sich an wie ein heißer Nachmittag am Baggersee, nur dass wir mehr ackern, es ist Sommer.

Hinter Hoyerswerda direkt auf einen Abzweig mit großen Schildern „Betreten verboten“ und „Lebensgefahr“. Das Uhrwerk brettert ungehindert rein, ich will zumindest wissen, um was es hier gehen könnte. Militärgebiet? Am Ende werden wir hier bei irgendwelchen Übungen angeschossen? Aber doch nicht am Samstag Abend. Oder ist das hier irgendwie kontaminiertes Gelände? Mir ist nicht ganz wohl, solange ich keine Erklärung für diese Schilder habe.

Schließlich gelangen wir an einen Kanal, und ich meine zu verstehen, dass es sich um eine Warnung für den Fall einer Flutung handelt. Friedlichste Abendstimmung am Spreetaler See.

Die Sonne jetzt immer tiefer, die bewaldeten Straßenstücke werden allmählich zu dunklen Tunneln. Wir schalten die Lichter ein, ich gebe Ann-Kathrin den reflektierenden Gurt. Erlebe mich plötzlich einen Schwall Ärger loswerden, den ich über eine private Sache hege. Geht doch mit der Langstrecken-Nähe.

Und: 250 Kilometer! Ab jetzt kann man sich eigentlich entspannen und nur noch vor sich hin radeln. In Cottbus werden wir doch sicher etwas Anderes zu essen finden?

In die Stadt hinein ist die Strecke unglücklich gewählt, rechts die Tramgleise, hinter uns hupen die Autofahrer, weil wir dort nicht fahren wollen. Ich schaue immer nur auf dem Garmin nach dem Abzweig. Das Stadion im Dunkeln, Ann-Kathrin hat Vereinsheim-Bratwürste halluziniert, aber außer den Beats ein paar Wohnblöcke weiter ist hier weit und beit nichts dergleichen.

Auf zum Bahnhof, dort wird irgendwo eine Imbissbude sein. Aber nein. DAK und Radisson Blue. Wir kommen einen weitläufigen, unpersönlichen, in der Nacht ausgestorbenen Teil der Stadt entlang. Und als ich ein paar hundert Meter weiter doch nachschaue, wo nun diese letzte Tanke vor der Nacht kommt, stelle ich fest, sie liegt weit hinter uns. Und jetzt?

Auf keinen Fall zurückfahren, sagt Ann-Kathrin unbeirrt. Von Tiefpunkt keine Spur. Wir ziehen warme Sachen an, checken die Vorräte. Gut 50 Kilometer bis zur nächsten Tanke. Das sollte zu machen sein, dann eben ohne Fritten.

Kurz vor Kolkwitz stolpern wir über eine unerwartete JET, etwas Warmes gibt es nicht. Dafür Cola und Bifi. Noch scheint alles gut.

Wir zweigen ab auf die dunklen Wege, wo sich vor dir nur ein schwarzes Loch auftut und die Nacht alles verschluckt, außer dem Rauschen der Bäume. Der Moment, den ich möglicherweise am meisten mag am Fahren durch die Nacht.

Und dann wird es doch zäh. Ann-Kathrin mit einem Mal sehr schweigsam, ich krame in meinem Kopf vergeblich nach Themen. Ich kann dich durch die Nacht bringen, Unterhaltungsprogramm ist leider nicht eingebaut. Ärgere mich über mich selbst, weil ich nicht besser aufgepasst habe, dass wir in Cottbus gut versorgt sind. Versuche, in die andere Richtung zu gähnen, wenn ich gähnen muss, damit es nicht so ansteckt. Neben mir das Piepsen des Wahoos und das leise Schniefen.

Finsterwalde ist das Ziel, nächste Tanke, danach die Sparkasse. Wir rollen durch die Nacht, sehr bedächtig. Hey, wir haben 300 Kilometer! Eigentlich musst du doch völlig ausflippen, wenn du zum ersten Mal in deinem Leben 300 Kilometer am Stück gefahren bist? Für ein paar Minuten hält das vor.

Der Mond kommt heraus, fast voll, fast orange, dicht über dem Horizont. Ich filme sie ein bißchen beim Fahren durch die Dunkelheit, zumindest das. Noch 12 Kilometer. Ann-Kathrins Rücklicht fällt aus, wir ersetzen das beim nächsten Halt. Fahre ich so lange hinter dir.

An der Tanke ein Mars-Snickers für jede von uns, ein warmes Getränk. Gleich nach uns reiten schwungvoll ein paar Maurice-Brocco-Hipster ein, vermuten, dass wir in die Gegenrichtung fahren, Ann-Kathrin entlarvt das umgehend als unlogisch.

Wir finden die Sparkasse, sie liegt auf dem Boden, als hätte sie nie etwas anderes gemacht, Stirnband über die Augen, stellt den Wecker auf 30 Minuten. Ich stelle mir genüsslich vor, wie die Hipster durch die Nacht hetzen und sich fragen, wann sie die schnellen Frauen endlich einholen.

Nächster Checkpunkt in 15, wir sind wieder etwas lebhafter. Davor das Stück „alpines Gelände“, ich war schon gespannt. Ist aber auch nur Schotter. Im Dunkeln die Suche nach dem rosa Kasten. Sicher schön, hier am Strandbad Erna tagsüber durchzukommen. Und irgendwie auch nicht, wie willst du dich da wieder losreißen. Wir jedenfalls brechen auf zur letzten gemeinsamen Tour: 105 Kilometer.

Zur Tanke in Falkenhain, 392. Allmählich dämmert es. Auffällig viele Katzen, schon die ganze Fahrt über. Vielleicht fällt es mir so auf, weil wir ein paar mal über ihre „Katzys“ sprechen. Müde fühle ich mich nicht, trotzdem halte ich eine für ein Wildschwein.

Ann-Kathrin verlangt nach einer Bank. In Bad Liebenwerda scheint der Bäcker offen, morgens um fünf. Ein paar Typen lungern herum. Ein weiteres Auto fährt vor, laute Gespräche. Ann-Kathrin legt sich hin, macht die Augen zu. Irgendwann fängt das Gegröle an. Ey Määädels, wo wolltan hin? Sie finden das totenkomisch. Ich ärgere mich, dass ich nicht gleich etwas gekauft habe. An Schlafen ist so auch nicht zu denken. Genervt fahren wir wieder los.

Und mitten hinein in die schönste Morgenstimmung. Golden scheint uns die Sonne von hinten an, es ist noch kalt, aber es ist der nächste wunderbare Sommertag, neu und frisch. Radeln geht. Nur tut mir vom langen Sitzen der Rücken weh.

Bei Mühlberg an der Elbe die nächste Bank. Ich lege mich auf die andere Seite des Picknick-Ensemble, bin kurz weg. Es sollten jetzt bitte einfach schon weniger als 75 restliche Kilometer sein, sagt Ann-Kathrin. Aber hey, wir haben schon über 350!

An der Tanke in Falkenhain brauche ich ewig, um meine Sachen zu sortieren. Schlage Ann-Kathrin vor, noch mehr zu essen. Eis um neun Uhr morgens, wann gibt‘s das schon. Felix schreibt auf Twitter, in einer Stunde seien wir am Ziel, und wir müssen beide lachen. Die 24 Stunden werden wir nicht einhalten, aber diese Strecke, verdammt nochmal, das schaffen wir. Das schaffen wir!

Die Kilometer trudeln dahin. Ann-Kathrin beißt stillschweigend vor sich hin. Es ist ein bißchen quälend, das mitzuerleben und nichts tun zu können. Aber dann kommt sie wieder angerollt als wäre nichts.

Bei Wurzen und Bennewitz eine unmögliche Kombination aus Straßenabschnitten, die fürs Rad verboten sind, und anschließenden Straßenquerungen. Ein paar Höhenmeter auch noch. Dafür nur noch 30. Solange ich es in meiner Nähe Piepsen und Schniefen höre, ist alles gut. Meine Pedalplatte ist lose, ich muss den Fuß immer weiter nach außen drehen, um ausklicken zu können. Bis ins Ziel hält das doch jetzt bitteschön! Wir schleichen weiter. Von meiner Begleiterin ab und an ein Redeschwall, dann wieder kämpferische Stille.

Endlich das Schild Leipzig. Noch acht Kilometer. Ewig geht das durch den Ort. Marie, die fast die ganze Nacht Menschen am Start-Ziel-Checkpoint abgepasst hat, ist schon wieder auf den Beinen. Ich vergrößere den Zoom auf dem Garmin, bis ich das Ende des Tracks sehe. Habe etwas Gänsehaut angesichts meiner jungen Begleitung, die sich das hier einfach mal gegeben hat. Von 204 auf 436 Kilometer. Was eine starke Nummer.

Die letzten Kurven. Gleich geschafft! Zusehen, dass wir gleichauf fahren. Da vorn steht schon Marie. Und endlich: Maurice Brocco 2021, finito! Eine Umarmung. Ohne dich wäre ich jetzt nicht hier, sagt Ann-Kathrin. Na, und ich ohne dich auch nicht.

***

  • Danke, Maurice Brocco 400, für diesen wunderbaren Langstreckenzauber – am Ende hast du mich doch wieder gekriegt.
  • Danke Marie für deine tolle Unterstützung online und in Leipzig, danke Felix für die netten Kilometer!
  • Und danke vor allem Ann-Kathrin für dieses schöne gemeinsame Abenteuer!!

Tour auf Komoot, Heimfahrt auf Komoot