Ich steige ab, ein freundlicher Hund trottet mir entgegen und gähnt. Vielleicht kann ich mich hier am Col du Maison du Festre wenigstens kurz hinlegen, obwohl ich schon im Stehen anfange vor Kälte zu zittern.

Während ich mit meinen zwei USB-Kabeln und der Powerbank versuche, dem Garmin neues Leben einzuhauchen, geht innen im Haus das Licht an. Eine Frau erscheint an der Terrassentür. Vous êtes avec le Mille? Und ob ich reinkommen will und etwas essen?

Mais oui! Aber sowas von oui! Packe meine ganzen Geräte und Klamotten und tauche ein in die freundliche Wärme des Gastraums, bekomme ein herrliches alkoholfreies Bier.

Stephane kommt herein, auch er hat gefroren in der Abfahrt, klagt über das ständiges An- und Ausziehen an diesem Tag, wir setzen unser seltsames Gespräch fort, ich verstehe sein bretonisches Französisch nicht, sein Englisch vielleicht noch weniger, aber unser Tonfall sagt alles.

Mein Omelette mit Schinken ist köstlich, das Brot verspeise ich bis auf den letzten Krümel, Schwarztee mit viel Zucker hinterher. Die Geräte laden wieder, und da ist ein Händetrockner im Bad, mit dem ich Socken und Schuhe in einen zumindest feuchten Zustand zurückverwandle. Ich bleibe viel zu lange, aber es ist beruhigend zu sehen, wie die Energieprozente des Garmins wieder steigen.

Stephane entscheidet sich dafür, in der angebotenen Jurte zu schlafen, aber ich habe Horror davor, danach hinaus in die kalte Nacht zu müssen, will erst runter in die Ebene, wo es sicher milder ist.

Ziehe an, was ich dabei habe und stelle draußen fest, so kalt ist es gar nicht. Ein letztes Winken, im Maison gehen die Lichter wieder aus, und ich bin in der Abfahrt, fünfzehn wunderbare Kilometer lang.

Dann geht es erneut bergauf, nur 300 Höhenmeter, und da ist es auf einmal nicht mehr gut, es ist gar nicht gut. Ich hangele mich mühsam die Straße entlang, habe das Gefühl, hier nur aus Jux über etwas abseitiges, kurvenreiches geleitet zu werden, das ich nach 850 Kilometern viel zu kompliziert finde. 

Straßenrand, Linie, festgeklopfter Kies, dahinter schwarz. Ich gehe in der Nacht, ich muss weiter, immer weiter. Alle paar Minuten checke ich Komoot, wie lang geht es noch hoch. Wo ist eine Bank, nirgends, hier gibt es nichts außer den fünf Metern Straße im Licht der Lampe. Merke, dass ich allmählich den Kopf nicht mehr oben halten kann.

Nach einer Unendlichkeit wird es flacher, aber jetzt in der Abfahrt sind die vielen kleinen Kurven ein echtes Problem, was ist das hier für ein bekloppter Umweg und wozu, ich finde es scheißgefährlich, erahne den Weg nur, navigiere nur noch nach dem Garmin, halte den Lenker eisern gerade und bewege mich trotzdem in Schlangenlinien, die Straße verschwindet immer wieder vor meinen tränenden Augen.

Ich liege auf dem Rücken am Straßenrand. Neben mir ein Häufchen von irgendeinem Tier, erst im letzten Moment gesehen, nicht hineinlangen, alles andere egal. Den Nacken entspannen, ich schaue in einen klaren Sternenhimmel, und der kalte Boden, das holt mich zurück, in der endlosen Nacht bin ich wieder bei mir, rapple mich auf, es können fünf Minuten gewesen sein, oder fünfzig.

Ich muss dringend schlafen.

Hinter dem nächsten Ort endlich ein Haltestellen-Häuschen, ich rolle direkt hinein, zehn Sekunden warten auf den Hund, kein Gebell, Schlafsack raus, schon liege ich. Keine Plane, kein Wurschteln.

Kein Wecker. Wie sollte ich auf so einer schmalen Bank länger schlafen als 90 Minuten?

Drehe mich ein paar Mal glücklich auf den Rücken und wieder zurück, jedesmal wundervollstes, kuschlig warmes Wegdämmern.

Schließlich Blick auf die Uhr. 4:17 – ich war vier Stunden weg! Noch 140 Kilometer und sieben Stunden, es könnte gerade noch gehen!

Stopfe den Schlafsack zurück, haste aufs Rad, Kurve, garstiger Gegenanstieg, zu spät geschaltet, der Schmerz fährt mir ins Knie.

Falsch abgebogen.

Da komme ich zur Besinnung. War es das mit dem Zeitlimit. Was soll‘s.

Fahre langsam in den Morgen hinein, genieße jedes abfallende Stück, wo ich nicht viel zu treten brauche, die kurzen Anstiege bremsen mich immer sofort aus, und es wird hoch und runter gehen bis zuletzt.

Aber das wirkliche Problem ist der Nacken. Der schmerzt, ich kann den Kopf nicht mehr anheben, schiebe ihn mit der Hand unterm Kinn nach oben, 120 Kilometer, irgendwie werde ich das überstehen.

Lasse Sisteron rechts liegen, wer braucht hier schon noch Nachschub.

Irgendwo fahre ich Ralf und seinen beiden Mitstreitern über den Weg, am Abend vor mir gestartet, unterwegs ein Stück mit dem Zug. Finde sie trotzdem nicht weniger zermantscht von der Nacht als mich selbst.

Der vorletzte Kontrollberg, 400 Höhenmeter. Es ist schön hier, goldener Morgen, alles flach, auch sehr warm, trotzdem, jedes Prozent ist zu viel für mich. Ich weiß nicht, wie oft ich absteige, alle 50 Höhenmeter, oder alle 30. Irgendwann muss ich auch alles wieder ausziehen, schaue mir die restliche Steigung auf der Karte an. Und wenn ich dort hochkrieche. Nichts kann mich aufhalten. Mille du Sud fast geschafft. Gleißendes Glücksgefühl!

Endlich doch oben, schaue auf meiner Liste nach, wann das letzte Kontrollfoto kommt. Und da sehe ich es. Col d’Espreaux, bei 854. 77 Kilometer hinter mir.

F…. ! Ich habe die Kontrolle übersehen!

Das gibt es doch nicht. Das kann einfach nicht sein!

Ich kann auf keinen Fall zurückfahren, nicht mit dem schwachen Nacken, ich bin froh und glücklich, wenn ich diese 75 noch schaffe. Ich könnte auf der Stelle heulen.

Ich hätte doch den Track, schreibt M., und sonst sei es ja auch egal. In den Regeln steht, Track wird nicht akzeptiert, man weiß auch, Sophie ist eisern, ich kann mir vorstellen warum.

Plötzlich macht es Sinn, dass sich das in der Nacht so geschlängelt hat. Der Berg mit der vorletzten Kontrolle.

Schließlich fällt mir ein, dass ich einen schlechten Schnappschuss vom letzten Bushäuschen gemacht habe, weil P. so gern über meine Schlafgelegenheiten lacht, und das ist mit Ortsangabe. Vielleicht geht das. Vielleicht.

Und wenn nicht, dann ist es eben so.

Biege irgendwo rechts ab zum WC an einem Sportplatz, putze mir schon wieder die Zähne, verteile die letzte Creme. Man kann sagen, ich habe 1.000 Kilometer lang wirklich gehaust auf dem Rad, aber Mund und Hintern waren stets gut gepflegt.

Es ist ein heller, heißer Sommertag. Es ist zu warm in meinem Wolltrikot, das über die letzten Tage so perfekt war.

Ich rolle dahin, die Hand unterm Kinn. Ich schiebe das Jaegher über den Markt in Riez, den meine Strecke heute zweiteilt. Ich finde für bergab eine Art Denkerhaltung: Kinn auf die linke Hand stützen, linken Arm auf dem Knie abstützen. Und die ganze Zeit habe ich dieses Summen im Brustkorb, dieses Helium im Kopf. Wenn du kaum vorankommst und trotzdem fliegst.

An einem winzigen Anstieg (120 Höhenmeter? 80?) lasse ich mich von einer Gruppe Senioren-Radler in Vereinstrikots überholen, der erste ruft mir noch irgendwas zu, die anderen nicht mehr, wahrscheinlich bin ich völlig unglaubwürdig in meinem Nicht-Tempo, was völlig egal ist, denn ich fahre hier gerade die Mille du Sud zu Ende, meine Herren!

Es ist die reine, dauerhafte Ekstase. Kannst du nicht erklären.

Oben Rundum-Panorama-Blick, ich stehe schon wieder viel zu lange, mache Alibi-Fotos. Mein Körper will einfach nur noch, dass es vorbei ist, aber ich verstehe, warum man auf den letzten Metern anfängt zu trödeln, wenn das Zeitlimit erstmal überschritten ist. Alles ist so klar und lebendig.

Oben bei Montmeyan (und bitte, bitte, lass es jetzt endlich nur noch bergab gehen!) hocke ich am Wegesrand, esse mein letztes Stück Baguette und mein letztes Stück Riegel, schüttle die letzten warmen Tropfen aus meinen leeren Flaschen und merke zum letzten Mal, dass da schon wieder nicht viel Essbares war in den letzten zwölf Stunden.

Kein Brunnen, dafür ein kleiner Laden um die nächste Ecke. Ich haue mir eine Dose Cola rein, und dieses eine Mal gehe ich doch zurück und kaufe noch eine. Den fiesen Anstieg zum Basecamp werde ich keinesfalls hochschieben!

In der letzten langen Abfahrt (kein Auto weit und breit, ein Glück) kauere ich mich irgendwie vorn seitlich auf den Sattel und steuere mit einer Hand, so dass ich fast aufrecht sitze, nur so geht es noch. Darf M. niemals sehen, aber immer noch besser, als mir irgendwas vom Gepäck (die Rolle?) unters Kinn zu klemmen.

Ortsschild Cotignac. Ich halte an, da muss ja wohl ein Foto her, aber die Wahrheit ist, ich muss mich noch ein wenig sammeln. Seit Stunden dieses Gefühl zwischen euphorischem Geschrei und Freudentränen.

Der Anstieg ist dann doch nicht so schlimm, vielleicht die Cola. Oder es relativiert sich nach acht Zweitausendern.

Einmal halte ich an, schreibe M., dass ich jetzt käme.

Dann stehe ich am Schild für das letztes Kontroll-Foto. M. lässt den Champagnerkorken knallen, alle die dort rumsitzen, klatschen. Ich bin da.

***

Wenn eine Tour so lange so wichtig war, ist es gar nicht so einfach, sie mit einem Satz zu beenden. Was bleibt, ist das Gefühl, viel mehr schaffen zu können, als ich mir zugetraut hätte, und damit meine ich gar nicht zuerst die Leistung. Das war schon öfter so, aber dieses Mal, so kommt es mir vor, ist da irgendwie eine andere Mauer eingerissen worden.

Sascha und Falk haben natürlich nicht aufgegeben. Ich habe auch nicht ernsthaft damit gerechnet. Ihr Tretschweine! Danke vor allem Sascha als Mille-du-Sud-Veteran für den Austausch um das Event herum (hier sein Bericht).

Sophie hat mein Ersatzfoto vom Bushäuschen in Barcillonnette akzeptiert. Das Gespräch mit ihr bleibt als besonders in Erinnerung. Sie scheint eine Person zu sein, die keinerlei Gewese um sich macht. Ich hätte mich gern noch länger mit ihr unterhalten. Ihr und den Provence Randonneurs bin ich dankbar für dieses Abenteuer.

Meine Zeit von 102 Stunden und 45 Minuten bedeutet, ich habe „nur“ als Touristin gefinisht, nicht als Randonneurin. Meinem Hochgefühl tut das nun wirklich keinen Abbruch. Angenehmerweise wird bei der Mille du Sud auch jeder Finisher gleich gefeiert.

Zu danken habe ich auch meinen unsichtbaren, Rhythmus-gebenden MitfahrerInnen (die ich nicht namentlich erwähne, da sie das in diesem Zusammenhang vielleicht nicht so toll finden). Und auch allen anderen, die mich – die meisten unwissentlich – darin bestärkt haben, mich an der Mille zu versuchen.

Am allermeisten M. mit seiner Chill-du-Sud-Einstellung. Zeig mir einen Mann, der sich ohne mit der Wimper zu zucken einem Haufen Randonneure als Spielerfrau vorstellt.

Und natürlich bin ich froh und dankbar, dass Kopf und Körper es am Ende hergegeben haben, vor allem nach den Vorbereitungskilometern überwiegend im flachen Brandenburg. Zumal ein Pass im Hochgebirge auch nicht ganz dasselbe ist wie zweimal den Brocken hochzuradeln. Vielleicht fahre ich doch nochmal rüber zum Teufelsberg, stelle mich dort einfach nur hin und lache.

Tour auf Komoot

Website zur Veranstaltung