Was gibt es jetzt dazu zu schreiben, sagt Christoph zum Abschied. Ist ja nichts Spektakuläres gewesen. Wir hatten beschlossen, zusammen 400 Kilometer zu fahren, am Stück und in offizieller Brevet-Zeit. Ich wollte zum östlichsten Punkt des Landes, aber dann hatte Christoph die viel bessere Idee: Fahren wir nach Görlitz, da kann ich meine Oma auf dem Friedhof besuchen. Ja!

Lange ist unklar, ob es klappt, ich konnte ja nicht aufs Rad. Anfang Juni verabreden wir uns, da bin ich immerhin mal 200 gefahren, und eine meiner geheimen Durchhalteparolen aus besseren Zeiten lautet, doppelt soviel geht immer.

Die Herausforderung: Ein paar 24-Stunden-Tankstellen für nachts im Lausitzer Niemandsland, auch Sparkassen sind dort spärlich gesät.

Am Abend davor muss ich mich ein bißchen heiß machen. Mein zehnter 400er, flach dazu, was soll schon sein. Aber wenn man so denkt, wird es erst recht schlimm.

Setze mich also an diesem strahlenden August-Samstagmorgen kurz nach sechs faul in den Regionalzug nach Erkner. Dort angekommen stellt sich heraus, C. ist bereits von zuhause mit dem Rad gefahren, 18 km im Plus, okay.

Wir fahren auf der Holly-Strecke Richtung Südosten in den goldenen Morgen. Auf ein nicht asphaltiertes Wegstück biege ich sehr vorsichtig ein, das findet er gleich lustig. Hallo, 25 mm?

Eigentlich sind wir uns schon ewig bekannt, nachdem C. mir irgendwann für Notfälle in Brandenburg seine Adresse auf den Blog kommentierte. Jetzt macht er Bekanntschaft mit meinem lauten Freilauf, mit dem ich die Fußgänger verscheuche, und beäugt mein Hinterrad mit einem Blick, den ich nicht deuten kann. Nervt es so sehr? Dafür piepst sein Wahoo immer, wenn wir nicht abbiegen müssen. Das gibt sich wirklich nichts.

Es ist nicht so heiß wie in den Tagen davor, perfekt zum Fahren. Es ist schön, mal wieder in Gesellschaft unterwegs zu sein, selbst mit M. war ich in diesem Jahr kaum auf dem Rad. Die ersten Kilometer ziehen weg. Bis Storkow noch etwas Verkehr, danach nur noch Felder und 100.000 Fichten. Tschick-Gebiet. Erst um Cottbus herum wird es kurz etwas hektischer.

Ein Stop in Burg, der Bäcker hat noch zehn Minuten offen. Pflaumenstreusel, und am Ortsrand das erste Chausseehaus. Wir haben auf unserem Weg zwei zu fotografieren, habe ich erfahren. C. pflegt da so ein Projekt, und für solche Sammeleien habe ich natürlich zu haben.

Der Plan ist, das Tageslicht so ausgiebig wie möglich zum Fahren zu nutzen. Wann wirst du nachts müde, frage ich. Zehn Uhr. Ich um zwei, das passt doch.

An der Talsperre Spremberg kauft Christoph ein Schnitzelbrötchen, ich nehme eine rote Brause und sonst nichts, weil ich denke, wir sind doch grad erst los, und das ist eine dieser nicht so guten Entscheidungen. Es duftet nach Sommerurlaub, nach den Nadelwald-gesäumten Straßen auf dem Weg zum Atlantik mit M.. Aber da ist kein Meer hinter diesen Fichten.

Dafür ein See, an dem wir sitzen. Ich sage, dass die Radwege hier erstaunlich gut sind. C. erzählt, dass sich das hier als Urlaubs-Gebiet rausmacht. Ich sage nicht, dass ich nicht sicher bin, warum man hierher in Urlaub sollte, wo hinter diesen duftenden Fichten gar kein Meer wartet. Aber die Radinfrastruktur ist wirklich gut.

Ich frage Christoph nach der Oma, höre eine abenteuerliche Familiengeschichte. Ich denke an meine eigene Oma, und wie seltsam das war, nach ihrem Tod die alten Fotos durchzusehen. Lauter Menschen, die keiner mehr kennt.

In Boxberg vorm Supermarkt werden wir per Megaphon begrüßt, Achtung, Achtung, die junge Frau auf dem Rennrad usw., auf sowas höre ich ja nicht. Die Dorfjugend scheint am hellen Nachmittag reichlich geladen zu haben. Sie tun mir schon leid. Groß werden in so einem Ort? Die Platte rundum sieht nur halb bewohnt aus. Boxberger Nächte sind vermutlich nicht so lang.

C. sagt was von Görlitzer Bergen, und ich frage mich, was noch kommt.

Wir fahren durch Militärsperrgebiet, ein toller neuer Radweg entlang einer tollen neuen Straße. Flüsterasphalt und kein Mensch zu sehen. 9,5 Stunden für 200 km, wir sind uns einig, der Tag ist bisher spektakulär unspektakulär.

Zehn Kilometer vor dem Fastfood rupfe ich doch das belegte Brötchen aus dem Saddlepack, letzte Rettung. M. und ich haben so einen Running Gag über den Besuch des McDoof in Lindenberg, ca. 12 km vor Zuhause. So ist das jetzt hier.

C. erwirbt Käsebrötchen-Nachtvorrat im Kodersdorfer Edeka, während ich versuche, knipsend den tiefblauen Himmel mit den hübschen Wölkchen einzufangen, die sich in der Scheibe spiegeln. Lebensgefährliche Straßenüberquerung für ein Foto am Ortsschild Görlitz. Aber das braucht es.

Im McDoof ist das Eis ungenießbar, und irgendwie sitzen wir da auch etwas kurz, finde ich. Alle Pausendisziplin ist dahin.

Ob er das Grab noch finden wird, fragt sich C.

Die Oma liegt aber radlerfreundlich gleich neben dem Eingang. Wir sagen ein paar nachdenkliche Sachen am Grab. Ich kannte die Oma ja nicht. Aber es ist schön, dass wir es heute hierher geschafft haben.

Um 18:15 Uhr verlassen wir den Friedhof und treten die Heimreise an, das ist sehr gut, noch drei Stunden Licht. Und was für ein Licht. Es strahlt immer goldener, geht über in eine sanfte Dämmerung, der letzte orange Schein bleibt für eine Ewigkeit am Himmel stehen.

Mein Freilauf surrt. Cs. Wahoo piept. Irgendwann knirscht auch irgendwas bei mir. Die Sattelstütze, tippt er. Der Blick schon wieder.

Wir stolpern durch ein Dorffest, Rothenburg? Fahren mit den Rädern direkt zwischen Bühne und Publikum hindurch. Danach über eine Baustelle, ich halte hinein in den Sand, damit es nicht wieder heißt, ich würde mich vor fehlendem Asphalt scheuen (25 mm!!).

Wir erreichen die Tanke in Weißwasser im letzten Lichthauch, und es fühlt sich gut an, die ersten 274 km weg zu haben, ehe der nächtliche Vorhang fällt. Der Mann hinter der Theke wedelt mit Desinfektionsspray herum und sieht mich verschwörerisch an. Wir haben doch noch nicht mal geschlafen, schon so schlimm? Dann bemerke ich einen verwahrlost wirkenden Menschen vor uns und hoffe einfach, er meint den.

Hinter Weißwasser soll ein Turm im Wald sein, und C. will vielleicht dort schlafen (am Wasser? viel zu kalt!), oder zumindest dort hoch. Es wird immer dunkler, es geht auf und ab zwischen den Bäumen, ich kann nicht aufs kleine Blatt schalten, weil die Kette dann nicht mehr hoch kommt, die Mini-Hubbel sind plötzlich anstrengend.

Irgendwann verabschiedet die Kette sich, im Dunkeln sehe ich nicht, wo sie hängt ist, hab vergessen die Stirnlampe rauszuholen. Dieser Turm, wo bleibt er nur?

Auf einmal sind wir auf der Lichtung, irgendwelche Laute von oben, C. sagt, Bikepacker, aber wo sind die Räder, na die haben sie auf die erste Plattform geschafft, ich hätte das so gemacht.

Der Mond spiegelt sich wir irre auf dem Wasser.

Ich gehe kurz in den Wald, einfach ein paar Meter weiter, Stirnlampe aus und hinhocken. Das Gerüst des Turms, irgendwelche Stimmfetzen, alles unwirklich.

26 Kilometer zur nächsten Tanke, dann noch 26 weitere zur Sparkasse. Ich erzähle Christoph, dass M. mich gestern gefragt hatte, wann ich attackieren würde, er findet das auch lustig.

In Cottbus ausgiebiger Halt, jetzt ist es Nacht, jetzt ist es egal. Christoph scheint wenig euphorisiert von seiner neuen längsten am Stück gefahrenen Strecke. Er kommt mir auch nicht wie ein Neuling vor. Aber als GST-Veteran ist er das wohl auch irgendwie nicht.

Dann unendliche Wege in der Finsternis. Breite Straßen, guter Asphalt. Ruckelig durch kleine Ortschaften. Eine schmale Fahrspur, irgendwann nur noch zwei weiße durchgehende Markierungen eng beieinander in der Dunkelheit, dahinter Wasser, Wald oder Wiese? Wir quetschen uns mit unsern Fahrrädern dazwischen.

Plötzlich eine Stelle, wo mehrere schmale Flüsse ineinanderfließen, gegenüber ist ein Kran und irgendwelches Bauzeug und alles angestrahlt von so unwirklich grünem Licht, als sei gerade ein Ufo gelandet. C. ist flugs vom Rad für ein Foto. Ich ziehe noch mehr an und esse Katjes, mir ist kalt und auf einmal bin ich müde, so müde, dass mir schlecht ist. Seit wann bin ich wach? Kann nicht fassen, dass wir tatsächlich ganz normal über eine Brücke können und weiter fahren.

Mollig warm ist es in der Sparkasse in Straupitz. C. mummelt sich in seinen Biwak-Sack, ich lege mich auf meine Regenjacke, ziehe die Schuhe aus und schiebe die Beinlinge runter, damit ich nachher was zum Anziehen habe.

Mache die Augen zu, aber Schlaf passt nicht so recht auf die Mauigkeit.

Eine Kellerassel läuft an meinem Gesicht vorbei. Das ist also, was du willst? In deinem Alter hier auf dem schmutzigen Boden liegen?

Um 3 Uhr ist der Tiefpunkt erreicht. Ich fühle mich vom Dösen erfrischt, hab aber wenig Lust, stundenlang im kalten Dunkeln herumzufahren. Wir haben 49 Kilometer bis zu einem Edeka mit Bäcker, der schon offen sein könnte, und weitere 9 bis zur sicheren Tanke. Ich mümmle mein letztes Brötchen und hoffe, es reicht.

Wir ziehen alles an. Was ist das nachts so kalt, jetzt im August.

C. sagt, dass er verzweifelt überlegt, wo er morgen in A. asiatisches Essen herbekommt. Ich sage, dass mir die ganze Zeit drei Sekunden vom Refrain eines Songs im Kopf rumspucken, aber ich kann den Text nicht erkennen und hab keine Ahnung, wie ich den Song ausfindig machen kann. An einer alten Automaten-Tankstelle keine 15 km weiter ziehen wir die Jacken wieder aus.

Dann setzt diese unfassbare silbern-orange Dämmerung ein, und es wird noch kälter.  

Es zieht sich schrecklich dahin.

Wie ich dann doch noch mal halten muss, einen Riegel essen, die Banane gleich hinterher. Merke: Auch auf flachen Strecken sollst du ausreichend essen.

Wie es am Edeka schon so gut nach frischem Hefezeug riecht, aber natürlich ist noch geschlossen.

Wie ich prompt den Bäcker übersehe, weil ich C., der die geschlossene Tankstelle ansteuert, mit meinem „Siehste“-Gesichtsausdruck foppen will (dort: Eibrötchen! Pecannusstasche!)

Wie ich eine Minute lang vergeblich mit dem Schlüssel an der Toilettentür herumkratze, bis ich auf die Idee komme, dass das Strichmännchen bedeuten könnte, es gibt eine separate Damentoilette.

Und dann kommt das Eibrötchen doch noch in den Beinen an, wir haben die vierhundert voll, und C. fährt vollkommen unbeeindruckt weiter.

Wir gelangen auf das bekannte Streckenstück, auf den unbefestigten Radweg, die letzten leeren Straßen vor Erkner.

Am S-Bahnhof ist ziemlich genau 8 Uhr, das Ziel mit reichlich Puffer geschafft. Wir umarmen uns, komm, ein Foto noch, dann fahren wir beide unserer Wege, nach diesem spektakulär unspektakulärem Ausflug. Ja, was soll man dazu nur schreiben.

Danke Christoph, und danke, liebe unbekannte Oma. Das war ganz exzellent. Bis zum nächsten Mal!

Tour auf Komoot

P.S. Und danke für das Titelfoto, das so perfekt trifft, was Brevetfahren für mich ist 🙂