Leicht war in diesem Sommer nur, immer wieder zu vergessen, wie viel Mühe das Langstreckenfahren macht, wenn man nicht wirklich trainiert ist. Lass es halt für dieses Jahr, dachte ich stets aufs Neue, im Erzgebirge, im Harz, in der endlosen Lausitz. Aber dann ließ mich das Görlitz-Abenteuer mit dieser Sehnsucht nach nächtlicher Landstraße zurück. Und es war ja auch schon August.
Eine Route zur dänischen Grenze und zurück hatte ich mir zurechtgelegt, 1.000 flache Kilometer, das Schild fehlte mir noch. 60 Stunden, dachte ich, das müsste doch zu machen sein. Wenn man da einfach nur immer weiterrollte.
Zehn Tage nach Görlitz atmen die ganz heißen Tage einmal durch, findet sich eine Lücke im Kalender, bis zum Taunus Teaser ist eine knappe Woche Zeit zum Wundenlecken.
Eigentlich will ich gar nicht so früh am Morgen los. Aber die Fähre bei Travemünde (Kilometer 320) fährt irgendwann um zehn Uhr abends das letzte Mal. Also sitze ich an einem Dienstag Mitte des Monats um kurz nach fünf im Sattel, bugsiere das vollbepackte Rad Richtung Spandau über leere Straßen, die allmählich ins Unbekannte übergehen.
Die ersten hundert sind einfach. Ich kurble wohlgemut vor mich hin, lasse die Tanke links liegen, habe kaum den Fuß am Boden. Bin trotz des leichten Rückenwindes nicht so richtig schnell. Ein paar tausend Kilometer habe ich zusammen. Aber mir fehlen in diesem Jahr die zwei bis drei Monate konstanter Fahrerei, die irgendwas Gutes mit meinem Fettstoffwechsel machen.

Und da ist auch das Ding mit dem Rücken. Ich weiß nicht, wie lange der hält. Schon mit einer Verspannung im Nacken losgefahren, ich rudere mit den Armen durch die Luft, hampele auf dem Rad herum.
Es ist schwülwarm, aber nicht so schlimm wie in der Stadt. In den endlosen Fahrradstraßen durch die Brandenburger Wälder hält sich die Nässe vom Regen. Ich mache kein einziges Foto, denn ich habe nicht vor, auch nur eine Silbe zu schreiben. Diese Tour gehört mir ganz allein.
Meine Zehen schmerzen viel zu früh. Kurz zuvor habe ich die Pedale ausgetauscht, vielleicht liegt es daran. Auf meinen Schienbeinen ist eine dicke Schicht aus Sonnencreme und Wegschmodder.
Irgendwo mittendrin ein Stopp, ein Brötchen. Wenn ich schon nicht richtig fahren kann, so hatte ich mir zurechtgelegt, könnte ich wenigstens richtig essen. Hatte bei den Verpflegungsstellen diesmal auch notiert, was wo zu erwerben und zu verzehren sei. Sieben Bananen auf 400 Kilometer. Mal sehen.
Kilometer 210 (etwas über neun, keine nennenswerte Pause, außer dem Auffüllen der Bananenstaude beim Rewe in Pritzwalk), und der Zeitplan bekommt erste Risse.
Die Friedrichsdorfer Moore, der Weg führt zwischen den Fischteichen hindurch, ich passiere einen kleinen Holzturm, halte auf der Brücke, kurz die Schuhe ausziehen. Hier war ich noch nie. Ein Mann kommt mit einer dicken Kamera vorbei, „gehen Sie mal hoch, großartige Aussicht“.



Und auf einmal ist das mit den 60 Stunden nicht mehr so wichtig. Auf Strümpfen laufe ich rüber, zwischen weggeworfenen Kippen durch zur Treppe. Rundum der Blick auf friedliche Gewässer, die im Mittagslicht gleißen. Der Fotograf ist verschwunden, kein Mensch zu sehen. Ich denke an die Umweltkatastrophe an der Oder, die Tonnen gestorbener Fische, die sie dort gerade aus dem Wasser ziehen, und fühle etwas Zuversicht, weil es Naturschutzgebiete wie dieses hier gibt. Schade, dass erst früher Nachmittag ist.
Kilometer 240, Schwerin, erstes Fast Food. „Wie du das immer nur runterbekommst“, diesmal frage ich es mich selbst. Ich putze meine Beine mit Papierhandtüchern ab (hält wahrscheinlich ganze zehn Kilometer), sitze im gekühlten Innenraum.

Das Schweriner Schloss liegt dann weiß und golden im Licht des späten Nachmittags.
Um Viertel vor fünf bin ich beim Bäcker. Aber bevor die Kundin vor mir und ich bestellen dürfen, müssen erst draußen die Schilder und Stühle abgebaut werden. Ich beschwere mich nicht. Noch 80 Kilometer bis zur Fähre.
An der Küste ist es schon ruhig, die Wege verlassen, ich kann alle Wellen mit Schwung nehmen. Irgendwo biege ich in eine Stichstraße zum Strand ab, bestaune mit anderen Sonnenuntergangshungrigen das Panorama. Es ist schön.
Erreiche Priwall, muss an den Hansegravel mit Joas denken. Sehr zufrieden, dass ich die einzige Deadline auf dieser Tour weg habe. Ab jetzt ist völlige Freiheit. Kinderschokolade an der Aral und auf in die Nacht.
Glücklicherweise ist es Nacht. Am Timmendorfer Strand flanieren immer noch Menschen ohne Ende über die Promenade, sitzen auf den Terrassen, plaudern, lachen.
Danach über dunkle Landstraßen, der Wind rauscht laut in den Bäumen, es ist nicht ganz die erwünschte kuschelige Sommernacht. In den Dörfern sind die immer noch auf den Straßen, am Quatschen oder führen ihre Hunde aus, an Schlafen ist nicht zu denken. Ich dachte, hier oben reden die nicht.
Wieder am Meer suche ich den Radweg hinter der Düne, von Harald persönlich als Komoot-Highlight angelegt. Aber überall steht „Radfahren verboten“. Nach einigem Hin und Her merke ich, der Weg ist noch weiter draußen, führt direkt hinter den Sandaufhäufungen entlang. Hier Hinlegen wäre schön, aber ich sehe nichts Überdachtes.
Erst als ich wieder landeinwärts fahre, als die 400 gerade voll sind, fällt mir an einem Abzweig ein Bushäuschen auf. Ein bißchen zu nah an einer hellen Laterne, aber rundherum ist alles still. Ich krieche in meinen Schlafsack, im letzten Moment noch eingepackt, nachdem ich eigentlich Sparkassen-Hopping vorhatte. Jetzt bin ich froh über die Unabhängigkeit. Bin nie ganz weg, der Puls zu hoch wie immer in der ersten Nacht. In der Nähe fängt ein undefinierbares Wesen an, laut und anklagend zu rufen.
Drei Stunden später sitze ich wieder im Sattel, stelle erfreut fest, die nächste Sparkasse wäre eine Niete gewesen (vollverglaster Vorraum, Schlafen auf dem Präsentierteller).
Und dann fahre ich direkt in die Waschküche rund um Kiel.
Kurve dort durch ewige Betonschluchten, habe eine Tanke auf dem Plan, die ab 5 Uhr auf hat (ich bin zu früh) und einen 24h-MacDoof, der ab 6 Uhr Frühstück anbietet (ich bin zu früh). Dann eben Fritten, die nach Pappe und Fett schmecken, und ich glaube, ich habe mir essensmäßig selten etwas so Ekliges angetan. Mümmle vor mich hin, nuckle am Tee, bleibe viel zu lange dort, mir ist kalt und mau und draußen ist es feucht. Bin schon jetzt aus meinem tollen Zeitlimit und überhaupt nicht ausgeruht.
Missmutig mache ich mich irgendwann auf den Weg, finde aus der Stadt heraus, ich mag dieses Kiel nicht, daran ist aber nur meine komische Strecke schuld.
Der Nebel bleibt, wird womöglich noch dichter, ich taste mich durch trübe Suppe, irgendwo in undurchsichtigem Hinterland, schaue über den Rand meiner beschlagenen Brille hinweg, sehe immer nur ein paar Meter weit und komme gar nicht mehr voran. Anhalten und Brille trocknen nutzt nichts, die ist sofort wieder dicht. Kalt bleibt es auch.
Kilometer 467, es soll einen schönen Blick aufs Meer geben, für mich endet der zwei Meter hinter dem Ufer. Im Rewe von Eckernförde sind alle muffig, aber alle tragen auch Maske, immerhin. Es dauert, bis die Sonne rauskommt.
Irgendwo bei Süderbarup ist dann die Straße gesperrt, man schickt mich kilometerweit über Ackerwege, nach einiger Zeit finde ich es unverschämt. Nur weil ich hier 1.000 Kilometer fahre, bin ich nicht bereit, wegen einer lumpigen Baustelle nochmal zehn drauf zu packen! Fahre irgendwo wieder auf die Straße, wo gerade gebaut wird, zumindest auf dem Radweg geht es.
Kilometer 520 (wie hab ich es überhaupt bis hier geschafft?), und ich gelange auf die ekelhaft befahrene Straße nach Padborg. Aber egal. Das Schild!
Kurz vor 12 Uhr, und ich bin da. Brauner Rasen, ein Auto hinter dem nächsten, reichlich unspektakulärer Ort, ich mache trotzdem achtundzwanzigtausend Fotos. Bin ein bißchen überwältigt. Irgendwie weiß ich ja, ich kriege diese Kilometer notfalls irgendwie hin. Aber es muss immer erstmal getan werden.
Auf der gleichen lauten Straße zurück, von der ich bloß weg will, lasse Tankstellen und Supermärkte links liegen, obwohl es schon wieder heiß ist und mir das Wasser ausgeht. Der Wind jetzt von vorn, sofort mühsam. 485 nach Hause klingt plötzlich auch nicht mehr nach Katzensprung.
Bei Frörup, an der neu gemachten leeren Straße, stolpere ich über eine einsame Tankstelle. Kalter Sprudel, ein Eis.
Südlich von Schleswig wartet Der Große Planungsfehler. 20 Kilometer Radweg an einer super lauten Schnellstraße, in einem Highlight als Pendlerstrecke angepriesen, ich kann es nicht fassen. 20 gerechnet auf 1.000 sind eigentlich nichts, aber so ist das hier nicht. Das hier ist einer der nervtötendsten, langwierigsten Streckenabschnitte, die ich je erlebt habe. Zu Anfang begleitet von noch lauterem Getöse, ist hier eine Rennstrecke in der Nähe? Verhängt wenigstens ein Tempolimit, damit das nicht so laut ist!
Passend dazu geht auch in den Beinen nichts mehr, ich bin einfach nur kaputt, sieben Bananen hin oder her. Wie konnte ich nur denken, ich mach das einfach mal so. Kopf allein reicht nicht!
Kilometer 602, schrecklich kompliziertes Rendsburg, ich kapiere die Radwegführung überhaupt nicht, Ausklicken fühlt sich auch jedes Mal an, als ginge es um Leben und Tod, ich biege in den Park, lande an der Unterführung des Nord-Ostsee-Kanals.
Frage einen Mann, ob ich das Rad mit auf die Rolltreppe nehmen kann, am Bahnhof darf man das nie. Die Rolltreppe ist sehr steil und sehr lang, hinab in kalten Untergrund, ich habe Mühe das Rad festzuhalten, und da merke ich auf einmal, wie müde ich bin.
In Bad Bramstedt schreibe ich M., dass ich mich morgen bis Wittenberge durchschlage und von dort aus den Zug nehme. Dass ich mich übernommen habe.
Supermarkt, Saft, Burger King zum Abend, keine Fritten, kein Foto vom Tablett. Aber irgendwie geht es mir danach ein kleines bißchen besser. Und da ist noch etwas vom Tag übrig. Fahre ich noch fünfzehn Kilometer. Und dann, vielleicht, nochmal fünfzehn.
680 Kilometer, mitten im Wald, in der Ferne blitzt es ein paar Mal im Dunkeln, fängt dann innerhalb von Sekunden an zu pladdern, donnert und kracht, fliegt das Wasser vom Himmel, kommt von vorn, kommt von der Straße, nimmt alle Sicht, ich trete in die Pedale so schnell ich kann, zähle atemlos nach jedem Blitz die Sekunden, da muss bald der nächste Ort kommen, da hinten ist Licht!
Da ist nur ein Haus mitten im Wald mit Laterne, hoch umzäunt, ich kauere mich unter eine Tanne. Gekrümmt über dem Handy nachsehen, zwei Kilometer bis Duvenstedt, als das Gepladder etwas nachlässt wage ich es, nur um jetzt voll in den Wasserschwall hineinzugeraten, zwei Km können nicht ernsthaft solange sein?
Die HASPA ist die erste Sparkasse, die ich jemals aufgesucht habe, bei der man nur mit Karte reinkommt. Ich probiere es nicht mal, ist eh noch zu belebt, ich stehe einfach hier unterm Vordach und warte.
Schließlich flaut der Regen ab, ich steige wieder auf, frisch die Luft jetzt, Schlenker zur Autobahn wegen der Tanke, unnütz die, ich brauche nichts.
Die Wege trocknen langsam ab, in der Ferne grollt es. Zum Schlafen gibt es nichts. In Siek bin ich fast so weit, mich gegenüber der Kirche in die plexiverglaste Bushaltestelle zu legen.
Verlasse den Ort langsam auf der glitschigen Pflasterstraße, als es auf einen Schlag wieder losgeht. Links und rechts Zaun und Mauern, ich kann nur weiterfahren. Gelange auf eine Fahrradstraße, unter den Bäumen noch weiße Flecken auf dem Weg. Aber da kommt immer mehr Wasser vom Himmel, schmeißt sich durch die belaubten Äste auf den Boden, und als ich schauen will, wie weit es zum nächsten Ort ist, da reagiert das nasse Garmin-Display nicht mehr.
Kilometer 707, ich stehe dicht an einen Baumstamm gedrängt und drücke das Rad an mich, trotzdem werde ich nass und nasser, das Wasser rauscht und gluckst, steht längst in meinen Schuhen, kriecht langsam an meinem rechten Arm hoch, wo ich das Jaegher halte, immerhin der einzige Körperteil, der langsam kalt wird. Der Garmin ist komplett ausgefallen, nachdem er irgendwelche verrückten Kartenausschnitte zeigte, per Handy kann ich mich nicht leiten lassen, da ich nirgendwo einen Platz habe, wo es trocken bleibt und ich es hören könnte. Ich habe seit 44 Stunden nicht ernsthaft geschlafen. Aber seltsamerweise bin ich heiter und zuversichtlich. Irgendwie, denke ich, werde ich klarkommen.
Mache mich irgendwann auf ins nächste Dorf, etwas zum Unterstellen suchen. 600 Meter später kreuze ich eine Landstraße und da ist es: das perfekte Bushäuschen. Ein paar Autos fahren vorbei, aber der Raum reicht weit nach hinten, verschluckt meine reflektierenden Sachen und mich.
Ich putze mir die Zähne im Gebüsch, hinterlasse einen nassen Abdruck auf der Bank, als ich die Socken auswringe. Im Schlafsack ist es herrlich warm, ich dämmere genüsslich ein paar Mal weg.
Es ist stockfinster, aber trocken und mild, als ich vier Stunden später wieder auf der Straße bin, unter den nassen Socken die Brottüten von gestern. Der Garmin funktioniert, das ist das wichtigste. Noch eine Stunde, bis die 48 voll sind, Kilometer-Ablesung.
Radle flüssig eine verlassene Bundesstraße entlang, als sich aus dem Schwarz des Grasstreifen, der den Radweg von der Straße trennt, ein paar kniehohe Tiere lösen und hektisch vor und hinter meinen Reifen durchwuseln, ich lenke irgendwie zwischen ihnen durch, gerade so. Eine Horde kleine Wildschweine, glücklicherweise keine Erwachsenen dabei.
Und irgendwo sehe ich dann noch vier Hirsche in einem Vorgarten bei ihrem nächtlichen Mahl. Was für eine Ausbeute!
Kilometer 745, und die Sonne überzieht die Welt mit einem rosa Vorhang. Ich stehe am Straßenrand, knipse und staune. Dann entzaubern die ersten Autos die Nacht.
Um Boitzenburg herum ein paar Meter Anstieg, ist das die berühmte Boitzenburger Wand? Dann hätte ich die auch mal weg. Bin zu faul, den Bäcker zu suchen, stehe am Abzweig in die Elbtalauen, esse eine Banane.
Kilometer 765, der nächste Holzturm.
Ich bin zweihundert Meter weiter, als ich weiß, dass ich auch dort unbedingt hoch muss. Der Aussichtsturm Mahnkenwerder ist viel höher als von unten gedacht. Es ist kurz nach sieben Uhr, still liegen die Wiesen im morgendlichen Dunst, kein Wesen weit und breit. Dieses Licht. Ewig könnte ich vonhier oben über die Landschaft schauen. Was für ein Glück.
Später sitze ich am Deich auf dem Weg, esse Weingummis und Reste, schäle mich aus den warmen Klamotten. Die Füße wieder, meine Schulter tut auch weh, aber nur wegen der harten Bänke in der Nacht.


Es ist ein bißchen wie an der Oder, nur dass die Dörfer hier aus roten Backsteinhäuschen sind. Irgendwo fahre ich einem Friedhof-Schild hinterher, durch tiefen Sand, frage die gärtnernden Menschen, ob ich meine Flaschen füllen darf. Wasser wirkt hier so kostbar.
In Dörmitz verpasse ich den Eingang zum Edeka, finde mich zwischen Pflanzen und Chips in einem Thomas Philipp-Markt wieder, suche vergeblich die Frischetheke.
In Wittenberge letztes Fastfood, eigentlich will ich nicht mehr, der Laden ist auch total überfüllt. Aber es gibt eine Toilette, Eis und Kaffee und ist einfach zu heiß, um was anderes zu organisieren.
Das mit dem Ausklicken klappt jetzt immer schlechter, aber lieber schraube ich alle paar Mal die Cleats wieder fest, die es fast aus dem Schuh hebelt, als einmal rauszufinden, wie ich die Auslösehärte verstelle. Dafür ist mit dem Rücken alles okay, das Gehampel hat sich gelohnt.
Lasse mich an der Elbe treiben, den schönen Weg entlang, den ich im Winter mit Johanna und Jule gefahren bin. Damals tiefblau und grün, jetzt alles trocken, verbrannt, der Himmel diesig, und dort, wo der Garmin irgendwelche Wasserstellen anzeigt, sind nur leere Vertiefungen in der Landschaft. Eine Rinderherde steht um so ein ausgetrocknetes Wasserloch herum, setzt sich plötzlich wütend in Richtung Zaun in Bewegung.
Kilometer 909, die Kurve hinter Kuhlhausen, die kenne ich wieder, sitze am Wegesrand, sehr müde. Dass man so losfahren kann und irgendwann an einem x-beliebigen Punkt steht, den man sich auf der Karte herausgepickt hat. Und ein bißchen später als fast der gleiche Mensch wieder vor der eigenen Haustür. Dieses Gefühl.

„Alles in Ordnung?“, ich fahre erschrocken zusammen, ein Radfahrer hat sich lautlos genähert. Ich muss auch weiter, steige mühsam wieder auf, versuche nochmal reinzutreten, den einzuholen, mit seinem lustigen Lenker. Brauch auch schon wieder Wasser.
Zwischen Nauen und Paaren fliege ich durch den Wald, fahre hoch aufgerichtet, freihändig, fast kann ich die Bäume über mir berühren, ich schwimme in sattem Grün. Wenn es ginge, würde ich hier hängenbleiben, den Rest der Zeit schwerelos zwischen den Bäumen schweben.
Und plötzlich wieder auf vertrauten Wegen, gerade noch hell genug. Das Geschlängel durch Schönwalde, am Ufer entlang. Geradeaus fahren, wo es möglich ist. Nach 63,5 Stunden sind die 1.000 Kilometer voll. Nicht so schlecht, denke ich. Vielleicht gar nicht so schlecht.
Wie ich den Schifffahrtskanal entlang gekommen bin, davon weiß ich nichts mehr. Erst die letzten Meter, wo sich die Wurzeln durch den Asphalt hochdrücken. Im Licht der Scheinwerfer türmt sich der ganze Weg in Falten, ich fluche was das Zeug hält.
Zähle, wie oft ich noch ausklicken muss.
Über die Seestraße hintenrum rein in die Stadt, wenig los bis zur Charité, dort nochmal drei Kilometer Konzentration, ich mache den Garmin schon mal aus. Und bin zuhause. Das Sommer-Abenteuer ist vorbei.
06/11/2022 at 17:19
Ich bin endlich mal dazu gekommen, deinen Blog analog zum Insta-Account zu lesen. Was für ein anschaulicher Bericht und ein angenehmer Schreibstil. Phasenweise erinnerte es mich an Wolfgang Herrndorfs Art, Dinge kurz, prägnant und leicht sarkastisch zu beschreiben. Macht auf jeden Fall grosse Lust, selbst wieder zu langen Fahrten aufzubrechen 🙂
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06/11/2022 at 20:57
Willkommen Lisa, und herzlichen Dank für die netten Worte! Den Vergleich empfinde ich als reichlich übertrieben, aber ich freue mich trotzdem darüber ☺️ Und Lust auf die nächste lange Tour ist sowieso das Wunschergebnis 😉
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27/11/2022 at 19:06
Normalerweise gehe ich mit Kommentaren, egal wo und weswegen, eher sparsam um. Das soll jetzt nicht heißen, das meine Kommentare etwas besonderes wären, ehrlich nicht. Ich schweige lieber, wenn es nichts zu sagen gibt und das ist meistens so.
Zu Deinen Texten hier möchte ich nun aber doch ein paar Zeilen schreiben. Es kommt nicht oft vor, dass ich im Zusammenhang mit meinem Sehnsuchtsthema so an den Worten und Sätzen hänge wie bei Deinen Geschichten und Berichten. Die Kombination aus Schreibstil und den Geschichten der erlebten Touren ist berauschend. Und es macht mich weiter sehnsüchtig, es Dir gleich zu tun, viele hundert Kilometer im Sattel zu verbringen. Leider scheitere ich immer noch an viel kürzeren Strecken.
Ich wünsche Dir ganz allgemein und für Deine Randonneurszukunft im Besonderen alles gute vor allem Gesundheitlich.
Viele Grüße
Markus
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28/11/2022 at 19:33
Manchmal passiert hier wochenlang nichts, und dann kommt jemand vorbei und hinterlässt sowas. Herzlichen Dank, Markus, über diese Worte habe ich mich sehr gefreut! Herzlich willkommen hier.
Und auf der Langstrecke gibt es doch irgendwie gar kein Scheitern, sondern einfach ein Dazulernen. Jede Tour ist halt ein neuer Versuch. Hab eine sehr gute Zeit auf dem Weg! Lieben Gruß.
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