Ullrich über Ullrich? Oha, anmaßender Versuch. Erstens ist dazu so ziemlich alles schon gesagt worden, zweitens ermächtigt eine zufällige Namensgleichheit noch nicht zu besonders schlauen Erkenntnissen. Sie führt aber zu unübertrefflichen Situationen auf dem Rad. 

Zum Beispiel an den Tagen, an denen M. sein gelbes Fahrtwind-Trikot trägt. An den zugegebenermaßen überschaubaren Anstiegen im Brandenburger Land macht es dann besonders viel Spaß, an ihm vorbeizuflitzen, im Kopf die enthusiastische Stimme des Moderators: „He looks around to see who is with him, the answer is no one, Ullrich has sailed past the maillot jaune!!

Derlei Zitate hatte ich nach einem Winter auf der Rolle vor Youtube so viele im Kopf, dass ich mich mindestens bis Biesenthal damit selbst unterhalten kann. Radfahren ist eben nicht nur gut für Herz-Kreislauf, Gelenke und körpereigene Abwehr, sondern kann auch zu einem gesunden Allmachtsgefühl verhelfen.

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Unterwegs nach Torgau mit dem maillot jaune

Als Ullrich mit seinem zweiten, überragenden Auftritt bei der Tour de France über Nacht in Deutschland berühmt wurde, war ich der ersten Radsportkarriere bereits entwachsen. Ich hing auf Uni-Parties herum und warf mich fremden Männern an den Hals (liebe Eltern, bitte einfach überlesen!). Mein Bruder und ich lästerten, dass der Coach seine eigenen Sprösslinge wohl liebend gern gegen das ostdeutsche Wunderkind eintauschen würde.

Sommer 1997 fuhr ich mit dem Auto über die Deutsch-Schweizerische Grenze und wurde von einem begeisterten Zollbeamten beim Studium meines Ausweis gefragt, ob ich mit Ullrich verwandt sei. Wahrscheinlich war es die letzte Chance meines Lebens, ein Autogramm zu vergeben.

Nachdem Ullrich das Zeitfahren in Cap’Découverte gewann, kaufte M. eine Ausgabe des Le Figaro, die ein starkes Foto vom Comeback des Jahres auf dem Titel trug, und hängte sie in die Küche. Ohne das Geschehen eng verfolgt zu haben, machte sich bei mir vage Enttäuschung breit, als Ullrich dann 2006 im Zuge der Affäre Fuentes aus dem Verkehr gezogen wurde. Gedopt, auch er, also doch. Ich war nicht unfroh, mit einem Sport, der sich selbst mehr und mehr zur Farce machte, nichts mehr zu tun zu haben.

Vor zwei Jahren erwähnte der Coach, dass „Ulle“ beim Ötztaler Radmarathon startet. In einem Anfall von spätem Interesse durchforstete ich einige Wochen das Netz und las alles über den Mann, was ich finden konnte, sogar die, wie ich fand, unsägliche Biografie von Hagen Boßdorf.

Da gab es viel Reißerisches, Oberflächliches, es gab aber auch differenzierte Betrachtungen. In der ZEIT erzählte Christof Siemes im Artikel „Graues Schaf“ von der so schief gegangenen Beziehung zu den Medien und dem wenig bekannten Umstand, dass Ullrich gemeinsam mit Wallraff einmal kurz davor stand, die Hintergründe über die Schattenseiten seines Profidaseins offen zu legen.

In der Reihe „Eines Tages“ auf Spiegel Online setzte sich Marko Schubert als Teil der „Generation Ullrich“ im gleichnamigen Artikel damit auseinander, wie Jan Ullrich seine eigene Ost-West-Geschichte begleitet, ja fast verkörpert.

Bei der TAZ widmete ihm Jürgen Löhle zum 40. mit „Ulle, der Verschwiegene“ eine Zusammenfassung von Auf- und Abstieg und beschreibt in treffenden Worten das aktuelle Verhältnis der Medien zu Ullrich: „Heute tun sie so, als wäre er tot.“

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Fast Magenta-farbenes Schaf

Wer wirft den ersten Stein? Welches Recht haben wir, von wildfremden Menschen zu verlangen, dass sie sich besser verhalten als wir selbst? Zumal im sportlichen Bereich, wo die Errungenschaften der idealisierten Person sich vor allem aus körperlichem Vermögen speist, möglicherweise noch aus taktischem Geschick. Weniger aus einer Unfehlbarkeit des Charakters. Man nannte Merckx ja auch nicht zufällig den Kannibalen.

Ich habe ein gewisses Faible für John Degenkolb entwickelt, im Jahr bevor er Paris-Roubaix gewann. Ich fand sein Auftreten sympathisch, mochte auch, dass er ein wenig im Schatten von Marcel Kittel stand, dem neuen Sonnenschein unserer Radsport-Un-Nation. Wäre ich enttäuscht, wenn herauskäme, dass er betrügt?

Ehrlich gesagt, ja.

Wäre ich enttäuscht, wenn ich herausfinden müsste, dass, sagen wir, der Coach in seiner zwar amateurhaften, nichts destotrotz ehrgeizigen Triathlon-Laufbahn betrogen hat? Ich glaube, das auch, aber ich könnte hinfahren und ihn rund machen, und das gibt eine Grundlage für ein Ausfechten, Abhaken und Weiterkommen.

Das mit einer öffentlichen Person zu erreichen, halte ich für weitaus schwerer, wenn nicht gar unmöglich, weil dieser Prozess ein sehr individueller und komplexer ist. Je weiter entfernt, desto Schwarzweiß. Wenn auch ein öffentliches Vorbild dabei wohl hilfreich sein könnte und ich die Medien keineswegs von ihrer zwielichten Rolle und Verantwortung freisprechen möchte.

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Wer da keine Lust bekommt, die nächste Tour zu planen … der hat kein Herz, kein Blut, dem fließt nur reines Wasser durch die Adern!

Im erwähnten Artikel der TAZ heißt es abschließend über Ullrich: „Vielleicht kommt mit 40 ja doch noch die Einsicht, umfassend aufzuklären. Dann könnte er den Platz in der deutschen Sportgeschichte einnehmen, den er zumindest ein bisschen verdient hat“. Den ersten Satz unterschreibe ich nicht, das Anliegen halte ich für verfehlt. Dass er einen Platz in der deutschen Sportgeschichte einnehmen sollte jedoch schon.

Das britische Radsportmagazin Rouleur beschäftigt sich in der vergangenen und der gegenwärtigen Ausgabe auf gut 40 Seiten mit Jan Ullrich. Morten Okbo und Jakob Kristian Sørensen kreisen in den Texten viel um ihre eigenen Wünsche und Interpretationen im Hinblick auf das Zusammentreffen. Dadurch verdeutlichen sie vielleicht ungewollt die subjektive Sichtweise, welche die Medien eben auch immer einnehmen, in Ullrichs Geschichte besonders intensiv.

Inhaltlich lassen sie weder Licht noch Schatten aus. So wird Ullrich in eine Reihe mit den großen Radsportlern gestellt, und damit als das gewürdigt, was er bei allem Wenn und Aber ist. Nämlich, wie ein französischer Reporter schon 1996 treffend feststellte, „un monstre du cyclisme„.

Time to zip up the jersey, würde ich sagen. Danke dafür, Rouleur!