Der Sommer auf dem Rad verlief wenig inspirierend. Ich hangelte mich durch die Qualifikationsserie und hoffte ein ums andere Mal, die Lust auf Paris – Brest – Paris würde endlich kommen. Musste doch! Im Herzen bin ich schließlich Randonneurin. Aber als ich beim Sachsener 600er Brevet nach achtzehn Stunden im Sattel auf jeder Bank am Wegesrand saß, begriff ich endlich: Ich wollte es einfach nicht genug.

Schon im Zug nach Hause irrten die Gedanken umher. Das Jahr konnte doch nicht einfach so zu Ende gehen? Ich stöberte durch die alten Vorhaben und stieß auf die Superrandonnée „Belchen satt“ der Breisgau-Randonneure, eine Selbstversorgerfahrt im Brevet-Stil. 619 Kilometer Schwarzwald, Jura und Vogesen, über 12.000 Höhenmeter, für mich unvorstellbar. Abzuspulen in 60 Stunden, allein mit sich und dem Rad. Das da, bitte! Das will ich ganz unbedingt!

Im Urlaub in Rumänien liege ich nachts schlaflos im Zelt in der Hitze, geplagt von einer hartnäckigen Sommergrippe, und verschlinge alle Berichte zur Strecke, welche, wie die Veranstalter schreiben, „mit Freude und einigem Grausen“ entstanden sei. Vier Wochen vor meinem selbstgewählten Start-Termin sitze ich zum ersten Mal wieder auf dem Rad und schaffe ganze 40 Kilometer, mit gutem Zureden an die schlaffen Beine. Am nächsten Tag immerhin 60. Die Kunst ist, wieder reinzukommen, ohne zu überziehen.

Und Höhenmeter finden. Ich greife auf meine Kreisel-Übungen am Teufelsberg zurück (40 Höhenmeter hoch, 40 runter). Dass dies den realen Bedingungen nicht ganz entspricht, ist mir klar, aber welche Wahl habe ich? Ewig werde ich dem Radfahrer dankbar sein, mit dem ich an einem frühen Samstag Morgen zehn von 25 Wiederholungen teile. Aufmunterndes Anlächeln bei allen zwanzig Begegnungen; ich denke, wir wissen beide Bescheid.

Die technische Aufrüstung ist vergleichsweise einfach. Alex vom Pédalage, inzwischen bevorzugter Soigneur meines Jaeghers, erfreut sich an der Aufgabe, ein 34er Ritzel zu ermöglichen. Da gäbe es so ein Teil, was man einbauen könne, um den Käfig zu verlängern. Das neue Ritzelpaket, diese Pyramide, ist fast lächerlich riesig.

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Die Tage ziehen sich und fliegen gleichzeitig dahin. Endloses Studium des Streckenprofils und der Wettervorhersage. Vermutlich bin ich die einzige Person, die auswendig aufsagen kann, bei welchem Kilometer der nächste Berg mit wie vielen Höhenmetern kommt. Die letzte Nacht verbringe ich mit klopfendem Herzen in Karlsruhe bei der Familie. Die Zugfahrt nach Freiburg im ersten Regionalexpress am Morgen mit mindestens 28 Haltestellen macht mich wahnsinnig.

Um 7:53 Uhr knipse ich das erste Kontrollfoto am Martinstor und starte die Route am Garmin. Endlich! An der Startlinie zu stehen ist hier definitiv schon ein Erfolg.

Ein paar Minuten später bin ich im Grünen und erklimme auf leeren Straßen den Schauinsland. Bis zum Morgen hat es geregnet, die Luft ist kalt. Schon jetzt bin ich froh über die neuen Zähne, ich kann locker hochkurbeln und Kraft sparen. Eine Strategie habe ich nicht – genug essen und trinken, cool bleiben und ansonsten immer dem Track nach.

Oben der Blick ins Rheintal, Sonnenlicht auf grünen Weiden, unten Nebelgebräu, mir kommen fast die Tränen. Diese Welt ist so schön, und wir machen sie kaputt. Das ist aber doch etwas zu früh für große Emotionen?

Die Berge des Schwarzwalds sind annehmbar, die Aussicht am Belchenhaus großartig. In Schönau erste Pause beim Bäcker, läppische 56 Kilometer. Der Wind kommt nicht aus der versprochenen Richtung. In den Abfahrten brauche ich die Regenjacke, die ist sofort innen nass, bergauf drehe ich sie nach außen und trockne sie auf meinem Rücken.

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In Laufenburg eine feiste Nusschnecke und die Fußgängerbrücke über den Rhein, erstes Gebirge abgehakt. An einem normalen Tag würde das reichen. Jetzt sind es noch 10.000 Höhenmeter, na fein.

Für die nächsten 35 Kilometer hatte ich mir eine mäßige Steigung notiert, aber weit gefehlt. Hier eine scharfe Steigung, dort eine Rampe. Steil in den Auffahrten und bergab. Langsam aber sicher zermürben die Beinen. In Läufelfingen ist ein Kontrollfoto am Bahnhof vorgeschrieben. Fieses Untergraben der Moral! Ich mache eine kurze Pause und schaue nicht auf den Fahrplan. Danach die Wand von Eptingen. Ich schiebe, trotz 34er.

Allmählich wird mir klar, falls ich abbreche, werde ich das nie wieder angehen, so hart finde ich es schon bis hier.

Am Chilchzimmersattel stoppt eine Kuhherde meine schneckenartige Auffahrt. Der Bauer erklärt mir, die Kühe würden in ihrem eigenen Tempo in den Stall trotten. Und dass er auch schon Rennrad gefahren sei. Auf Mallorca sogar einmal 184 km. Das habe bis zehn Uhr am Abend gedauert! Und ich wolle also noch über den Sattel? Und danach ein Hotel suchen?

Es ist fast 18 Uhr. Ich sage ja ja, aber anhand der Kühe, da verstehe ich etwas. Wie das hier gehen könnte.

Schön ist dieser Pass mit seinen weichen grünen Wannen. Zehn Stunden nach dem Start bin ich oben, 143 Kilometer geschafft. Soviel zum Schnitt.

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In Balsthal erreiche ich gerade noch die Migros, die um 18:30 schließt. Bananen, Gummibärchen, Apfelsaft und Kinderschokolade für die Nacht. Trinkjoghurt und Brot verschlinge ich gleich vor dem Laden. Was Essen angeht bin ich jedenfalls vorbildlich.

Ich mache voran, will noch im Hellen über den Weissenstein. Die Abfahrt soll besonders steil sein. Kilometerlang geht es flach, bis der Weg zum Hang abbiegt. Die Straße ist ein riesiges steiles Zorro-Z, mit der Peitsche in den Berg geritzt. Eine absurdere Passstrasse habe ich noch nicht erlebt.

Es geht sehr langsam, vor mir türmt sich die Straße. Ich schäme mich nicht fürs Schieben. Bin auch nicht viel langsamer, Rücken und Nacken tut es gut. Düster ist es im Wald, einsam der Weg. Drei Autos begegnen mir bei meinem Aufstieg. Es dauert lange. Ich denke nicht an den Gipfel. Das hier, das wird noch ein großes Abenteuer werden, das ist inzwischen klar.

Oben bin ich auf einmal sehr glücklich, das Kurhaus ist freundlich beleuchtet, vage Gedanken an ein Zimmer, mir ist jetzt schon so kalt, es fehlt eine Schicht Kleidung. Aber es ist noch ein bißchen hell. Senkrecht hinunter, sehr schnell tun mir die Hände vom Bremsen weh, halte ich zum Ausschütteln an, es riecht nach verbranntem Gummi.

Den McDonalds in Grenchen wollte ich erwischen, bis 23 Uhr ist geöffnet. 5.000 Höhenmeter! Bei Fritten und Kaffee denke ich zum ersten Mal, dass ich diese Superrandonnée womöglich tatsächlich schaffen kann.

Fröstelnd in die Nacht. Anziehen zum Losfahren und am Berg gleich wieder ausziehen. Ein Halbmond erscheint über den Bäumen, ich bin nicht ganz allein. Ewig radle ich die dunkle Straße entlang, bis es steiler wird: Le Chasseral.

Zorro hat auch hier die Peitsche geschwungen, quer über den Berg. Ein langer schwarzer Anstieg, oben soll die Aussicht wunderbar sein. Es ist mühsam, stockfinster, windstill, und wenigstens ist mir warm, aber ich bleibe nicht stehen, nicht mal zum Essen. It doesn’t matter how slow you are, as long as you don’t stop.

Oberhalb der Bäume dann wütet auf einmal der Wind, faucht mir auf der Stichstraße entgegen, ich stemme mich dagegen. Die roten Lichter des Sendeturms schweben über mir in der Dunkelheit.

Rechts der Blick hinab ins Tal, flackerndes Lichtermeer, oben Wetterleuchten hinter den Wolken. Das Hotel Chasseral erscheint als dunkler Klotz am Wegesrand und verschwindet wieder. Viehgitter um Viehgitter überquere ich, aber dieser verfluchte Turm will einfach nicht näher rücken.

Denke an meine Freundin P., die irgendwo dort hinten in Bern hoffentlich selig im warmen Bett schlummert. Es ist 2 Uhr morgens, und selten hat es sich wilder angefühlt, unterwegs zu sein.

Längst ist klar, oben springe ich vom Rad, mache ein Foto und haue wieder ab so schnell ich kann.

Der Wind fegt mich die Stichstrasse zurück auf meinen Weg, ich bremse das Jaegher hinunter und hinunter und hinunter bis ins gelb beleuchtete St. Imier, dieses Geisterstädtchen, arschkalt ist es in der tiefen Nacht, ich bin dankbar über jede alberne kleine Rampe, die hier für die Durchfahrt aufzutreiben war.

Wieder geht es hoch. Noch zwei längere Anstiege, dann habe ich den Jura hinter mir, ein flacheres Stück rüber in die Vogesen. Angeblich. Besser, sich über jeden Meter bergauf zu freuen, irgendwo müssen die Höhenmeter ja herkommen. Ich schiebe schon wieder.

Allmählich bin ich sehr müde, halte Ausschau nach einem geeigneten Platz. Scanne endlos Vordächer, Carports, Garageneingänge, Holzstapel, Verschläge, Bänke. Irgendwann taucht ein Parkplatz mit Häuschen auf, drei Seiten geschlossen, von der Straße abgewandt. Ich wickle mich in die knisternde Rettungsdecke, sacke nur kurz weg. Fange auch schnell an zu frieren. Lieber weiter Richtung la Goule, die paar Minuten haben schon etwas gebracht.

Die Schlucht ist für ihre steile Abfahrt berüchtigt. Der Nebel verstopft die Straße wie ein riesiger weißer Wattepfropf, ich sehe überhaupt nichts mehr, taste mich Meter für Meter hinunter. Über der Anspannung vergesse ich wenigstens die Müdigkeit. Auf der Brücke soll ich ein Foto machen. Außerhalb des Lichtkegels meiner Stirnlampe nur Finsternis, der Fluss rauscht laut im Dunkeln.

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Der Weg hinaus ist erst trügerisch flach, aber das täuscht. Die Rampe, ach was, Sprungschanze kommt. In der Dämmerung kraxle ich hinauf. Es ist wie alle schreiben: Rechne einfach einen Tag mehr. Hingabe. Mein Garmin zieht komische Kreise auf der Karte. Muss ich etwa die Aufzeichnung neu starten? Ich will das aber an einem Stück! Mir fällt jetzt auch ein, dass ich selbst es bin, die die zweite Hälfte der Strecke zu fahren hat. In der Nacht dachte ich zeitweise, das sei jemand anders.

Ab Charmauvillers radle ich wieder, die lange Kehre zum Col de la Vierge, wieder im Hellen, und 8.000 Höhenmeter sind weg. Rüber nach Saint Hippolyte, perfekte Abfahrt, hinein ins nächste nasskalte Loch. Düster hängen die grauen Wolken über dem Städtchen. Langsam reicht es wirklich, eigentlich friere ich seit 24 Stunden, wenn ich mich nicht gerade bergauf bewege.

An einem Hotel bestelle ich einen Kaffee, frage nach der Toilette, in der Hoffnung auf einen Dyson. Natürlich habe ich das einzige Etablissement in ganz Frankreich erwischt, in dem sie noch Stoffhandtücher verwenden. Vor mich hinzitternd mache ich mich in meinen klammen Sachen auf die Suche nach dem nächsten Gegenanstieg, Aufwärmen und Höhenmeter in einem. Es nutzt ja alles nichts.

Ich beschließe, flüssig rüber zu den Vogesen zu fahren, dort das Tageslicht so lange wie möglich zu nutzen und am Abend eine längere Pause einzulegen, bevor es in der Nacht wieder richtig kalt wird. Ab sofort Stopps nur für multiple Zwecke!

An einem Brunnen halte ich an, falte die Rettungsdecke ordentlich zusammen, entsorge die Abfälle, esse einen Frühstücks-Riegel. So aufgeräumt fährt es sich gleich viel besser.

Die Strecke ist hier tatsächlich gnädig, gegen Mittag bin ich am Supermarkt in Lure, der Großeinkauf muss mich durch die Vogesen bringen, Wasser gibt es an den zahlreichen Brunnen. Ich schütte 850 ml Trinkjoghurt in mich hinein und komme mir vor wie ein Bodybuilder. Es ist doch noch warm geworden, und allmählich merke ich die fehlende Nacht.

Hinter Mélisey finde ich einen Park, Bänke im Schatten, Spielplatz, sogar eine Toilette gibt es. Ich lege mich ins Gras, ziehe die Schuhe aus, ach herrlich, Kappe ins Gesicht, und schlummere kurz weg.

Danach bin ich geradezu erfrischt. Kurs auf die Vogesen!

Der Ballon de Servance sei ganz zivil, hatte der Coach mir berichtet, der hier alles kennt wie seine Westentasche. Wir von der Superrandonnée, wir nehmen aber nicht die Passstrasse. Wir fahren hinten rum über ein paar Höfe. Direkt den Berg hoch. Nein. Einfach nein!! Ich kann doch nicht schon wieder schieben?

Ich versuche, eine Rampe hochzukurbeln. Ein paar Tritte, ein Auto hinter mir auf der engen Straße, runter vom Rad. Die nächste Rampe, ein Auto kommt mir entgegen, runter vom Rad. Und es wird und wird nicht flacher.

In diesem Moment möchte ich das Jaegher ins Gebüsch schmeißen und weinen. Nur komme ich so leider auch nicht weiter. Ich denke an die Kühe von gestern. Und daran, dass ich schon 8.000 Höhenmeter geschafft habe. Jemand schrieb, die wirft man doch nicht einfach so weg!

Demut ist gefragt. Probier‘s noch langsamer. Wie war das? Pedal runter drücken und warten, bis man fast umfällt. Es gelingt mir, für ein kleines Stück. Und dann für noch eins. Und noch eins. Unendlich langsam kurble ich hoch, bis ich die reguläre Passstrasse wieder erreiche. As long as you don‘t stop…

Oben im Flachen überholen mich alle Rennradfahrer, aber alle grüßen auch, also ist es egal. Verscheuche einen von der Wanderkarte, wo ich ein Kontrollfoto machen muss. Schreibe den Servance als misslungen ab, wedle einen Haufen Fliegen weg, und beschließe, die restlichen Berge zu genießen. Im Hier und Jetzt sein! Für alles andere ist es noch zu weit.

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Die Anfahrt zum Ballon d‘Alsace ist lang und verkehrsreich, ich sehe nicht mehr nach, wo ich bin, oder wo ich noch hin muss. Ich fahre einfach immer weiter, zoome die Strecke näher heran, beschäftige mich nur noch mit den nächsten Metern.

„Bonne Chance“ ruft mir ein Franzose zu, der mich sehr spät am Nachmittag auf den Pass zuhalten sieht. Merci, ich kann es brauchen.

Und die Straße ist eine Wohltat. Serpentinen, Flüsterasphalt, 5% Steigung. Dass dieser Berg überhaupt Eingang in die Strecke gefunden hat! Irgendwie warte ich auf die nächste Überraschung, aber ich gleite einfach nur hoch.

Im goldenen Abendlicht tänzeln schmale Windhunde in Teamtrikots leichtfüßig an mir vorbei, ich möchte gern auf mein Rahmenschildchen deuten und „Superrandonnée!“ rufen, aber ich bleibe mit dem Jaegher allein. 30 Stunden bis zu lauten Zwiegesprächen mit dem Rad. Die Abfahrt die reinste Rennstrecke.

Den Col du Page schaffe ich ja wohl noch. Ein versteckter kleiner Pass, halb über den Rücken des Städtchen Bussang, in der goldenen warmen Abenddämmerung, halb eine stille, schattige Forststrasse entlang.

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Eine kleine Schutzhütte auf der Passhöhe, und ich brauche dringend Pause. Glücklicherweise ist es ein milder Abend, meine Sachen in der Nachmittagssonne einigermaßen getrocknet. Kurz alles für die Weiterfahrt sortieren, dann schließe ich die Augen und bin sofort weg.

Als ich aufwache, ist es stockfinster, ich brauche eine ganze Weile um zu wissen, dass ich wirklich weiter will. Kein Kaffee in Sicht. Wenigstens ist es mild. Und die Abfahrt ein Traum, die gut ausgebaute verkehrsfreie Straße mitten in der Nacht, ich wedle die Kehren vor Kruth hinunter.

Nur macht die Kette jetzt so ein komisches Geräusch. Kurz nach dem Pass ist sie mal wieder abgesprungen, und bei jeder Kurbelumdrehung auf dem kleinen Kettenblatt schrappt einmal Metall laut auf Metall, ich spüre es bis ins rechte Pedal.

Ich beschließe, nur noch auf dem großen Blatt zu fahren, was bedeutet, den Grand Ballon hochzulaufen. Die übernächtigte Logik sagt, 2.000 Höhenmeter kann ich in den verbleibenden 18 Stunden gut erwandern, aber wenn die Kette da irgendwie durchgesägt wird und reißt und ich es im Dunkeln nicht hinbekomme, schaffe ich es kaum. Und in ein paar Stunden kann ich wenigstens jemanden anrufen und um Rat fragen.

Ich latsche wieder bergauf, allmählich ist das ja wohl keine Radtour mehr, es zieht und zieht sich, wenigstens sind hier Kurven und Abwechslung. Vor Geishouse wird es flacher, da steige ich wieder auf, probiere ein steileres Stück auf dem großen Kettenblatt. Schwachsinn. Absteigen. Schieben. Flacher. Aufsteigen. Immer mehr kippe ich dabei das Rad zur Seite, habe Mühe, das Bein noch über den Saddle pack zu schwingen.

Höre M. im Geiste: eine Kette reißt nicht so schnell. Hinter dem Ort, wo, wie der Coach sagt, man „nur noch von Asphaltflecken zu Asphaltflecken springt“, probiere ich es nochmal. Schalte auf das kleine Blatt, kurble vorsichtig und sanft an. Das Schrappen wird leiser. Ha!

Immer weiter den Grand Ballon hinauf, schieben, radeln, schieben. Die Suche nach den Asphaltflecken hält die Konzentration wach. Ich wundere mich schon lange, dass ich keinen wirklichen Tiefpunkt habe. Aber da sind immer wieder vorwitzige Tiere, die sich beim Näherkommen zurück in Wurzeln und Baumstümpfe verwandeln. Häuserfassaden, die sich als Baumgruppen entpuppen.

Und irgendwann bin ich oben an der Route des Crêtes. Ein paar hundert Meter bis zum Schild, es ist gespenstisch leer auf dieser breiten, immer befahrenen, aussichtsreichen Straße. Nur noch zwei Pässe!

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Oben auf dem Kamm fange ich gleich wieder an zu frieren, wann geht es ins warme Tal? Bambi steht plötzlich vor mir auf der Straße, bewegungslos, lauf mir bloß nicht ins Rad!, wir starren uns gegenseitig nieder.

Hinten am Platzerwasel bremse ich mir die kalten Hände kaputt. Kann den Petit Ballon nicht erwarten. Kaum geht es wieder hoch, muss ich anhalten. Es ist gar nicht so, dass die Beine sich besonders empören. Mein Körper beschließt ganz einfach abzusteigen. Im Dunkeln habe ich auch wieder vergessen zu essen. Vor mir ein paar Wanderer, die es gar nicht gibt.

Hauptsache in Bewegung. Ich gehe ein bißchen, dann radle ich wieder. Mein Nacken tut so weh, dass ich den Kopf gar nicht mehr heben will. Schaue nicht, wo ich bin, wo der Pass ist. Es gilt immer nur der Augenblick. Hingabe statt Rechnen.

Der Morgen bricht an. Irgendwie geht es immer weiter.

Still liegt dann früh um sieben der Passübergang des Petit Ballon vor mir, wunderschön ist die frühe Morgenstimmung, nur die Kuhglocken bimmeln müßig vor sich hin.

Ich stehe ein bißchen herum, esse die tausendste Banane und ein paar Nüsse. Wir haben nur noch ein einzigen kleinen Berg! Suche verzweifelt das Schild für das Kontrollfoto auf dem Parkplatz und finde es nicht. Schramme dem Jaegher ein Stück Lack ab, als ich das Foto ersatzweise vor der Auberge mache und es am Stein entlang wegrutscht. Es tut mir furchtbar leid.

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Die Abfahrt ist mir zu schnell, erst nach Wasserbourg traue ich mich, Tempo aufzunehmen. Hinein in die letzten flachen 340 Höhenmeter. Da vorn ist schon ein Schild, oder ist es nur ein Busch, und dort der Eingang zu einem Tempel, aber es sind wieder nur Bäume.

Im Track erscheint mein Bruder im Profil, ich fahre seinen Hals entlang und muss nur noch bis zum unteren Ende seiner klobigen Nase. Dort ist sie, die letzte, die wirklich letzte Passhöhe.

200 Höhenmeter, kaum Steigung. Es kommt mir unendlich schwer vor. Ich müsste nochmal anhalten, aber da mäht ein Fahrzeug die Böschung, da geht es nicht. Noch eine kleine Kurve. Noch ein paar Meter.

Irgendwie biegt mein Körper von selbst auf den Grünstreifen. Ein riesiges eingeschweißtes Sandwich Poulet rôti-Oeuf ist noch im Saddle pack, kaum bekomme ich es auf, mit dem Schlüssel meines kleinen Fahrradschlosses steche ich ein Loch in die Folie, endlich! Ich schwöre, es ist das köstlichste, was ich je gegessen habe. Ein paar Autos fahren vorbei, ich hocke einfach nur da.

Stehe wieder auf. Die letzten Meter sind plötzlich federleicht. Und dann ist da dieses Schild, Col du Firstplan. Letzter Berg. Natürlich heule ich.

Bergab, noch der kleine Gegenanstieg, dann öffnet sich die Straße zur Rheinebene hin, unter mir die Weinstöcke, ich setze mich auf einen flachen Felsbrocken, ziehe die warmen Sachen aus und genieße das Gefühl von Unendlichkeit.

Über 12.000 Höhenmeter, tatsächlich. Aber das ist an diesem Punkt nicht mehr das Wesentliche, eigentlich ist es sogar völlig unwichtig.

Es geht um das unerklärbare Gefühl, etwas geschafft zu haben, das vorher komplett außerhalb meiner Vorstellungskraft lag. Vielleicht auch diese archaische Befriedigung, mit dem Rad durch die Gegend zu ziehen und Landstriche näher zusammenrücken zu lassen. Und eine neue Freiheit, die ich auf dieser Tour erlebt habe, vielleicht gerade wegen der Dimensionen. Dem Alltag entzogen, in einer anderen Welt unterwegs.

Die letzten 60 km nach Freiburg sind vergleichsweise ernüchternd. Das Hochgefühl weicht vorübergehend einer sachlichen Konzentration angesichts Schlafdefizit, Nackenschmerzen, der Unmöglichkeit, noch zu sitzen und des stärker werdenden Verkehrs.

Aber nach der Ankunft kehrt es zurück. Und seitdem frage ich mich etwas bange: Was mag als nächstes kommen?

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Strecke auf Komoot

618 km, 12.680 Höhenmeter, 52:50 h, reine Fahrzeit ca. 40 h

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Herzlichen Dank an die Veranstalter für diese wundervolle Tour. Sie ist jede einzelne Kurbelumdrehung wert!

Einige praktische Anmerkungen:

  • Die Veranstalter sagen meiner Meinung nach alles Wichtige zur Strecke und Ausrüstung hier.
  • Ich hatte 25er Conti 4Seasons aufgezogen, die angekündigten bescheidenen Untergründe haben mich im Vergleich zum Brandenburger Fahrrad-Revier nicht sonderlich schockiert. Auch mit den Felgenbremsen bin ich bis auf ein paar zusätzliche Stopps in den Abfahrten klargekommen. Ich hätte damit aber nicht im Regen unterwegs sein wollen und meine Tour bei entsprechender Wettervorhersage verschoben.
  • In Berlin sagen sie gern, Randonnieren ist Radfahren für Erwachsene, aber ich finde den Hinweis trotzdem angebracht, dass man unbedingt Erfahrung mit dem (nächtlichen) Brevetfahren mitbringen sollte, wenn man sich auf dieses Abenteuer begibt. Die Strecke ist hart. Es ist wichtig, sich selbst einschätzen zu können.