Alpenbrevet 1990. Gänsehaut. Leid. Legende. Furka, Nufenen, Lukmanier, Oberalppass. Ich sehe noch das frühe goldene Licht, das bei der ersten Abfahrt unvermutet den gegenüberliegenden Hang aus dem Nebel heraus schält. Als wäre es gestern gewesen.
25 Jahre. Immer wusste ich, diesen Radmarathon mit dem klangvollen Namen will ich noch einmal erleben. Selbst in den Zeiten, als Radfahren in meinem Leben keine Rolle spielte. Das runde Jubiläum trägt dazu bei, dass ich die Veranstaltung als Abschluss meiner Saison auswähle.
Heute hat man die Wahl zwischen verschiedenen Strecken: drei, vier oder fünf Pässe. Platin scheidet aus, das Zeitlimit schaffe ich nicht. Silber mit 3.800 oder Gold mit 5.300 Höhenmetern?
In Ermangelung von passendem Gelände rund um Berlin hat sich mein Training von Anstiegen vor allem auf die 50 Höhenmeter des Teufelsbergs beschränkt. Hoch, runter, hoch, runter. Physisch kann man das eine ganze Weile durchziehen, aber für den Kopf ist es reichlich stumpf. Die Straße bekannt bis zum letzten Schlagloch. Spaziergänger beobachten dich skeptisch. Zu mehr als zehn Wiederholungen konnte ich mich nie überwinden.
5.300 Höhenmeter sind immerhin 106 Mal der Teufelsberg. Aber es ist Kaiserwetter angesagt.
Die gesamte Aufregung entlädt sich diesmal am Tag der Anreise. Alles scheint schief zu gehen. Am Flughafen Zürich versuche ich an bestimmt fünf Automaten erfolglos Schweizer Franken zu ziehen, bevor meine Karte akzeptiert wird. Mit dem ortsansässigen Radverleiher habe ich mich im großen Stil darüber missverstanden, wo die Übergabe erfolgen soll. Am Nachmittag lasse ich mich im Taxi durch Interlaken chauffieren auf der Suche nach zwei Mechanikern, die teuren Franken rasseln nur so durch.
Am Ende klärt sich alles, und als ich das Rennvelo, diese Profi-Maschine, in den Händen halte – als ich es anhebe und es sich quasi ohne mein Zutun in die Lüfte schwingt – da lache ich. Gold, natürlich wird es Gold! Großzügig schiebe ich beiseite, dass die Sattelhöhe sich nicht ideal auf meine Körpermaße anpassen lässt.
Nach diesem Tag bin ich so erschöpft, dass ich ausnahmsweise tief und fest schlafe. Um 5 Uhr fahren schon Horden von Radlern in der milden Morgenluft die Straßen auf und ab. Mein Hotel liegt angenehme hundert Meter vom Startbereich entfernt. Ich reihe mich unter die etwa 2.000 Wartenden, sortiere mich brav hinten beim Schild „Schnitt 14kmh“ ein. Lieber überholen als überholt werden. Hochwertiges Material ist in der Heimat von Assos und BMC versammelt. Etwas einsam und verloren stehe ich mitten drin. Der Coach aber ist bereits wach, einige SMS leisten ermutigende Gesellschaft.
Es geht zögerlich los, zunächst wellig über die Aareschlucht, hinunter nach Innertkirchen. Leichter Nebel liegt wie hingetupft im Tal, in das noch kein Sonnenstrahl gelangt. Erst allmählich richtet sich die Straße ein wenig auf. Die nächsten ein, zwei Stunden sind Geschiebe, Aussortieren, Überholen, Sich-Durchschlängeln. Das beschäftigt mich praktischerweise eine ganze Zeit. Die Auffahrt zum Grimselpass mit ihren 1.570 Höhenmetern – 31mal der Teufelsberg – zieht sich. Es ist nicht der steilste Pass, der heute vor mir liegt, aber derjenige mit der größten Höhenmeter-Differenz.
Auf den Startnummern sind Namen und Herkunftsort aufgedruckt. Prompt werde ich angesprochen: „Ich wusste gar nicht, dass es das Sliker auch in Berlin zu kaufen gibt?“ Ich erkläre, dass ich das Rad vor Ort geliehen habe, und so bestreite ich die Kilometer bis zur Passhöhe mit dem Schweizer Dani.
Entlang der beiden Stauseen geht es über Serpentinen, auf die man von weiter oben spektakuläre Blicke genießt. Dani erzählt von Rädern, Radtraining und vom Job, während ich zunehmend nach Atem ringe. Mein Puls klettert höher, als ich mir für die frühe Stunde vorgenommen hatte, aber wenigstens komme ich langsam in Schwung. M. als „Anfahrer“ ist nicht hier, Dani leistet Ersatz, ohne zu wissen, welchen guten Dienst er mir erweist.

An der Labe ein Chaos aus mehreren hundert Radlern. Überall liegen Räder auf dem Asphalt, wuseln Menschen um die Tische, eine lange Schlange bei den Getränken. Es ist 09:17. Ich bin innerhalb meines persönlichen Zeitlimits, aber langsamer als erhofft. Ich schnappe mir einige Bananenschnitze, einen Riegel mit süß-salzigem Erdnuss-Geschmack, erstaunlich lecker, lasse mir von einem Helfer aus einer Gießkanne Wasser geben und bin nach fantastisch kurzen Minuten wieder auf dem Rad.
Der erste Frust: Abfahren geht nicht gut – mir fehlt Übung in den Kurven, mit dem zu hoch gestellten Sattel kann ich mich nicht gut in die Pedale stemmen. Es überholen mich bestimmt 50 Fahrer. Unerwartet kalt ist es plötzlich im Schatten der Berge. Doch die Höhenmeter zählen runter, schnell erreiche ich Ulrichen.
Und dort nun ist er, mit dem ich noch eine Rechnung offen habe. Nufenen.
Noch heute fällt mir zum Nufenenpass immer zuallererst dieser beknackte Satz ein: „Den Nufenen komme ich nicht nuff!“ Ich habe aus 1990 übelste Erinnerungen an ihn. Der Lukmanier hat in seiner Länge genervt, aber der Nufenen hat mich zermürbt. Unten halte ich an einer roten Ampel. Da bin ich also wieder. Wie langsam und wie schnell doch 25 Jahre vergehen.
Es geht mäßig los, ein Tal entlang, dann wird es steiler, und zum Finale wartet ein Haufen Serpentinen mit zünftigen Steigungen. 14 Kilometer, 1.130 Höhenmeter. 23mal Teufelsberg.
Es gibt kein Ziel für den heutigen Tag, außer, die Postkarten-Bergwelt bei hochsommerlichen Temperaturen zu genießen. Und doch gibt es eins, nämlich es ihm zu zeigen. Hier lasse ich Muskeln spielen, soweit ich am Teufelsberg in Berlin überhaupt Muskeln aufgebaut habe. „Ist das alles, was du mir zu bieten hast?“ wüte ich gegen den Berg an. Das ist albern, aber wann kann man schon mit der Landschaft sprechen, wenn nicht auf dem Rad?
Die Überraschung ist, er gefällt mir. Die Steigung ist angenehm gewinnbringend, die Straße breitet sich ehrlich über meinem Kopf aus, kein verschlagenes Versteckspiel von immer noch weiteren Windungen hinter einer verheißenden Kuppe. Versöhnung findet statt. Oben angekommen, sind wir keine Feinde mehr. Ich verweile, genieße die Aussicht.
Es ist sehr warm geworden, selbst hier auf knapp 2.500 Metern, dem höchsten Punkt der Strecke. Dennoch habe ich selten etwas Wohltuenderes zu mir genommen als die heiße Brühe, die zu dicken Kanten Landbrot und Schweizer Käse gereicht wird.
Umsonst ziehe ich in Erwartung von kühlem Fahrtwind meine Regenjacke für die zweite Abfahrt des Tages über, es wäre nicht nötig gewesen. In Airolo langes Gefummel, bis sie wieder im Satteltäschchen verstaut ist. Einige Minuten stehe ich eingeklemmt zwischen wartenden Autos an der alten Auffahrt zum Gotthardpass.
Via Tremola, „Straße des Zitterns“, ein weiterer Grund für die Goldstrecke. Spektakuläre Aufnahmen der alten Pflasterstraße mit ihren fantasievollen Windungen. „Keine Sorge, das Pflaster lässt sich gut fahren“, sagt der Coach. 19 Teufelsberge.
Allmählich ist es ruhig um mich herum geworden. Nach dem Grimselpass trennen sich Gold- und Silber-Strecke, die Platinfahrer sind sowieso längst vorne weg. Ich erwarte hier sonstwas an Baudenkmal und bin leicht enttäuscht. Alte und neue Passstrasse überlagern sich, der Weg nach oben ist nicht gut einsehbar. Auf ersten kurzen unebenen Abschnitten stelle ich fest, dass meine Flasche in der Halterung scheppert. Es nervt schon nach fünf Metern. So schiebe ich mich hinauf, in dumpfer Ahnung, dass heute ein alter Gegner beseitigt wurde, aber gerade ein neuer gezüchtet wird.

Mein Radcomputer hat den Dienst zwischenzeitig weitgehend eingestellt, die Verbindung zu den Sensoren bricht immer wieder ab, und bei dem Geruckel ist es zwecklos, das zu korrigieren. Puls und Höhenanzeige funktionieren jedoch zuverlässig, das ist heute das Wichtigste. Daheim habe ich das Streckenprofil auswendig gelernt, so dass ich anhand der zurückgelegten Höhenmeter jederzeit weiß, wie lange es noch aufwärts geht.
Einzig hier, am Gotthard, verschätze ich mich. Zu langsam zieht die Tremola unter mir dahin. Der Ausblick zurück ins Tal ist sensationell, die Straße selbst finde ich auf all den Fotos aus Vogelperspektive beeindruckender.
Und die ganze Zeit dieser blöde Teufelsbergvergleich. 12 Teufelsberge geschafft, zusammen mit den ersten beiden Pässen macht das 66 Teufelsberge, also noch 41 Teufelsberge bis zum Ziel…
Schließlich erreiche ich die verfluchte Passhöhe, und hier muss ich erst einmal absteigen und die Notration verschlingen. Einen Riegel, der diesen Sommer diverse Touren überdauert hat und durch die Hitze gut karamellisiert ist.
In Andermatt saufe ich wie ein Kamel. Es herrscht Wasserknappheit, vom Laster wird gerade ein Container abgeladen. Drei ehrgeizige Radsportler drängen mich aus der Schlange. Um Preisgeld fahren die hier aber auch nicht mehr.
Eine letzte Flaschenfüllung und auf geht es zum Susten, 27 Teufelsberge. Kurz vor der Schöllenenschlucht liegt einer im Graben, von einigen Fahrern gesäumt. Es sieht eher nach einem Problem mit der Hitze aus als nach einem Unfall. Eine Warnung.
Einige Tunnel verschaffen etwas Kühlung, und dann geht es in dieses Hochtal, diesen Backofen.
Ich habe darüber gelesen, der Coach hat ausführlich gebrieft. Aber was kann dich vorbereiten auf diese endlose, ausgesetzte Straße, dieses elend lange, gerade Wegstück bergauf, ohne Ablenkung?
Radfahrer brüten in der Hitze. Sie kleben apathisch an jedem Stück Weg, das etwas Schatten bietet. Ein Strauch, eine Wasserrinne. Die Straßenränder in den Tunneln sind gesäumt von Menschen und Rädern. Brandenburg hat keine Berge, aber Trainieren in der Hitze, dazu haben wir ausreichend Gelegenheit. So fertig ich bin, es ist ein großartiges Gefühl, noch einigermaßen rund vorbei kurbeln zu können und Platz um Platz gut zu machen.
Einer radelt hinter mir, bei dem klackert irgendwas bei jedem Tritt. Ein Defekt, den er unterwegs nicht beheben kann. „Das würde mich ja wahnsinnig machen“, sage ich. „Ich kann es leider nicht ändern“, sagt er. Nette Stimme. Wir unterhalten uns kurz. Ohne dass ich ihn einmal gesehen hätte geht er mir bei irgendeinem Überholmanöver verloren.
Überholen, überholen. Ich geize mit dem Inhalt meiner Flasche, auf meinem Tacho sind die 35 Grad längst überschritten, ich fahre nach Puls und hoffe, dass ich nicht überhitze. Es zieht sich und ist gleichzeitig Triumph. 95 Teufelsberge. Der vierte Pass!
In der Ferne liegt am Fuße des letzten Anstiegs endlich die Straße im Schatten, zeichnen sich einige Serpentinen gegen die dunkle Wand ab. Ein Brunnen, kurze Abkühlung für Gesicht und Arme. „Wie lange geht das denn noch“, fragt einer. Laut meinen Berechnungen noch 5 Teufelsberge. Er kommt laut Startnummer aus Berlin, aber ich verzichte darauf, ihm meinen Vergleich mitzuteilen. Ich bin mir nicht sicher, ob der so motivierend ist.
Ein Tunnel markiert unerwartet die Passhöhe. An der Labe direkt dahinter hört man die Freudenschreie hallen. Die Umstehenden lächeln. Noch mal Brühe in der Hitze, Getränke. 105 Teufelsberge sind gefahren. Wahnsinn!

Abfahrt über 1.600 Höhenmeter. Eine großartige Strecke, um es laufen zu lassen, nicht zu steil, weiche Kurven. Auch die Tränen laufen. Dieses unbeschreibliche Gefühl, es geschafft zu haben. Gänsehaut in der Hitze. Jauchzen in jedem Tunnel. Mein Radcomputer hat aus unerfindlichen Gründen wieder Kontakt zum Sensor und zeigt mir 70 kmh an. Ich fliege dahin!
Zurück über die Aareschlucht, dieser eine letzte Teufelsberg ist geschenkt.
Im Ziel wartet meine Freundin P. mit ihren Mädchen, vertraute Stimmen rufen meinen Namen. Alpenbrevet Nummer zwei, ich bin angekommen. Bis zum nächsten Mal.
Distanz: 172 km.
Höhenmeter: 5.294 hm.
Unterwegs laut Veranstalter: 10:31h. Schnitt: 16,2 km/h.
Danke an:
– Thoemus für das supertolle Rennvelo – trotz aller organisatorischen Probleme eine Offenbarung!
– P. für deine Gastfreundschaft und dein liebevolles Interesse an der sonderbaren Welt des Jedermanns-Radsports 🙂
– Wieder mal für das Jahrhundertwetter, wem auch immer dieser Dank gebührt…
Veranstalter: www.alpenbrevet.ch
Mein Rad hatte ich von www.thoemus.ch
07/01/2016 at 23:13
Gratuliere zu dieser Superleistung. Ich freue mich, ein klein wenig dazu beigetragen zu haben, indem ich Dich am Grimsel zugetextet hatte… 😉
Bei mir lag nur Silber drin und am Susten hatte ich schwer gekämpft mit der Temperatur und den Muskelkrämpfen. Das Wetter und alle Leute waren aber super. Daher besteht grosse Gefahr für eine Wiederholung.
Aktuell sieht es aber schlecht aus, die Polizei will die Schöllenenschlucht nicht freigeben, da zu viele zu schnell und gefährlich unterwegs waren, vielleicht gabs auch Unfälle.
Jedenfalls wünsche ich Dir weiterhin viele schöne Touren und würde mich über ein Wiedersehen in den Bergen sehr freuen. Radlergrüsse, Dani
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07/01/2016 at 23:19
Dani, danke schön 🙂 Es wäre sehr schade wenn die Veranstaltung so nicht mehr stattfindet. Der Engadiner RM steht bei mir auf jeden Fall auf der Langzeit-Wunschliste, und wenn ich ihn angehe, melde ich mich mit Vorlauf!
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16/01/2016 at 0:56
Ganz toller Bericht. Besonders schmunzeln musste ich an der Stelle: „Einen Riegel, der diesen Sommer diverse Touren überdauert hat und durch die Hitze gut karamellisiert ist“. Solche liegen bei mir einige rum … Frage mich immer wieder warum … Bin ich unterwegs zu geizig? Denke, seien zu schade für mich … und irgendwann sind sie dann so vergammelt, dass man sie fast nicht mehr essen kann … hahaaaaahaaaa!
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16/01/2016 at 8:13
Danke schön, Gabi. Für mich hat so ein Not-Riegel ja etwas von einem Glücksbringer – solange ich da nicht ran muss, bin ich im Plan, oder so… Und sooo lecker sind die ja außerdem auch nicht. Aber stimmt, zum Vergammeln eigentlich zu teuer!
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