Eine Langstrecke anderer Ordnung: die Berliner Ortsteil-Challenge, ausgerufen von Regine Heidorn. Die Challenge ist eigentlich kein Wettbewerb. Es geht nicht darum, ein Schild zuerst zu entdecken und zu „sichern“. Stattdessen macht, wer Lust hat, im eigenen Tempo Fotos von den Schildern der 96 Berliner Ortsteile samt Fahrrad, und reicht diese ein, um ein Badge zu erhalten.
An einem schönen Samstag Morgen im April hatte ich schon die ersten zwanzig Schilder im Zuge der 12 Bezirksteile-Challenge (die kleine Schwester) geknipst und dabei weit mehr von der Stadt gesehen und erlebt, als ich geahnt hätte.
Außerdem gibt es Schilder zu sammeln, und dazu kann ich nur schwer nein sagen.
So rolle ich los, durch diese raue, unmäßige Stadt, und scanne die Straßen ab auf der Suche nach grünen Schildern mit gelber Schrift und weißen Schildern mit grüner Schrift.
Entdecke Ortsteile, von denen ich noch nie gehört habe: Konradshöhe, Johannisthal, Bohnsdorf.
Werde in Heiligensee freundlich über die Straße gewunken und in Reinickendorf belehrt, wie ich das Abbiegen anzuzeigen hätte. Holpere in Hermsdorf über bockiges Pflaster, blicke von der Lübarser Höhe aus auf die Skyline des Märkischen Viertels.
Bewundere die Architektur im Hansaviertel, erlebe pure Naherholung am Tegeler Fließ, stoße auf Verbindungen zwischen Kiezen, die mir vorher nicht klar waren.
Buchstabenmuseum, geschlossen, Gärten der Welt, menschenleer. Gropiushaus, Trudelturm, Krematorium. Die wahrscheinlich schilderreichsten Ortsteile Kaulsdorf und Biesdorf, die orange gekachelte, gewundene Unterführung am ICC, der zubetonierte Übergang zwischen Ober- und Niederschöneweide.
Eigentlich sollte ich längst für Thüringen üben, Teufelsberge fahren. Stattdessen radle ich dreimal alle Straßen zur Stadtrandsiedlung Malchow ab, verzweifle an Marzahn, wo ich Friedrichsfelde erwarte, entdecke Karlshorst nur, weil ich mich zufällig umdrehe.
Ich finde Schilder an völlig unmöglichen Stellen und solche zu Ortsteilen, die es gar nicht gibt.
Ich stottere bucklige Radwege an der Autobahn entlang, die garantiert kein Mensch jemals befahren hat. Drücke mich in Lichterfelde auf dem Mittelstreifen einer stark befahrenen Straße ins Gebüsch, um mein Foto zu machen.
Unendliche Plattenbauten in Lichtenberg und Hellersdorf. Wer wohnt da? Wie leben diese Menschen? Und ein paar Tage später, unendliche Straßenfluchten pompöser Villen in Grunewald und Zehlendorf und Dahlem. Darüber nachsinnen, was die einen an diese Seite der Stadt verschlägt, und die anderen an die andere.
Ich verstehe immer besser, wieso M. so gern in der Stadt rumfährt (und warum ihn das so fit macht. Das häufige Halten und Anfahren, trotz allem.)
Unzählig viele Momente, wo ich aufgehört habe, nach den Schildern Ausschau zu halten, und mich nur noch wie hypnotisiert durch diese nicht enden wollende Stadt bewege.
Einer der besten: Am Himmelfahrt Morgen parke ich das Rad beim Johannisthaler Schild und über mir nähert sich etwas, das wie ein kleiner Helikopter klingt. War’s eine Drohne, wird M. später fragen. Nein, ein Schwan schwingt dort oben kraftvoll seine Flügel, und die Stadt ist noch so leise, dass ich es laut brummen hören kann.
Da bin ich schon nur noch sonn- und feiertags unterwegs und sitze spätestens um sieben Uhr auf dem Rad. Mit der Lockerung der Kontakteinschränkung werden die Straßen wieder merklich voller, und ich verliere etwas den Spaß am Fahren durch die Stadt mitten am Tag.
Bedauerlich finde ich es trotzdem, heute mit Bohnsdorf das letzte Schild eingesammelt zu haben.
Die Challenge hat für mich im Kleinen getan, was mich am Fahren vieler Kilometer am meisten begeistert: Straßen und Gegenden in einen räumlichen Zusammenhang zu bringen, der mir vorher nicht klar war. Die innere Landkarte erweitern. Um die nächste Ecke biegen und feststellen: Ach, hier bin ich jetzt!
Eigentlich verdienen viele Viertel eine ausführliche Beschreibung. Das können andere besser: zum Beispiel Wiebke, die als Radkurierin viel herumkommt und uns auf ihrer neuen Website und künftig auch in Person liebevoll durch die Stadt führt.
Oder entdeckt selbst! Es macht großen Spaß. Alle Infos zur Challenge gibt es hier.
Und weil ich schon gefragt wurde: Fünfzehn Schilder-Touren mit fast 750 Kilometern sind es geworden, zwischen 12 und 82 Kilometer pro Tour. Ein paar Schilder habe ich zudem auf vier größeren Touren ins Umland gesammelt (auf weiteren 760 km). (Und ja, vielleicht plane ich noch die eine Route, auf der alle Schilder zu holen sind!)
Danke
- an Sascha, der mir netterweise verriet, wo das Schild für Niederschönhausen steht,
- an M., dafür, dass unsere sonntäglichen Touren zuletzt zuverlässig durch unerschlossene Ortsteile führten,
- und nicht zuletzt an Regine für die wunderbare Anregung!
***
Und hier die 89 Schilder-Fotos und sieben Ersatz-Fotos für die Ortsteile, die kein Schild zu haben scheinen.
Mitte
Mitte, Tiergarten, Wedding, Hansaviertel, Moabit (siehe oben)
Pankow
Pankow, Rosenthal, Prenzlauer Berg, Buch, Französisch Buchholz, Weißensee, Heinersdorf, Niederschönhausen, Wilhelmsruh, Blankenfelde, Karow, Stadtrandsiedlung Malchow (Ersatzbild), Blankenburg
Lichtenberg*
Lichtenberg, Neu-Höhenschönhausen, Alt-Höhenschönhausen, Malchow, Friedrichsfelde (Ersatzbild), Karlshorst, Wartenberg, Rummelsburg (Ersatzbild), Falkenberg, Fennpfuhl (Ersatzbild)
Marzahn-Hellersdorf
Marzahn, Biesdorf, Kaulsdorf, Hellersdorf, Mahlsdorf
Treptow-Köpenick
Alt-Tretow, Adlershof, Niederschöneweide, Altglienicke, Schmöckwitz, Rahnsdorf, Grünau, Plänterwald, Friedrichshagen, Müggelheim, Oberschöneweide, Baumschulenweg, Köpenick, Johannisthal (siehe oben), Bohnsdorf (siehe oben)
Neukölln
Neukölln, Rudow, Britz, Buckow, Gropiusstadt
Friedrichshain-Kreuzberg
Friedrichshain, Kreuzberg
Tempelhof-Schöneberg
Tempelhof, Schöneberg, Mariendorf, Marienfelde, Lichtenrade, Friedenau (Ersatzbild)
Steglitz-Zehlendorf
Steglitz, Lichterfelde, Zehlendorf, Nikolassee (Ersatzbild), Dahlem, Wannsee, Lankwitz
Charlottenburg-Wilmersdorf
Charlottenburg, Westend, Wilmersdorf, Charlottenburg-Nord (Ersatzbild), Schmargendorf, Halensee, Grunewald
Spandau
Spandau, Falkenhagener Feld, Hasselhorst, Wilhelmstadt, Staaken, Siemensstadt, Kladow, Gatow, Hakenfelde (siehe Titelbild)
Reinickendorf
Reinickendorf, Märkisches Viertel, Lübars, Frohnau, Borsigwalde, Waidmannslust, Konradshöhe, Wittenau, Hermsdorf, Tegel, Heiligensee (siehe oben)
#b96oc
*Nachtrag: Anhand von Andreas Tip habe ich doch noch „echte“ Schilder für Friedrichsfelde und Rummelsburg gefunden. Toll, danke!


14/06/2020 at 21:24
Wieder eine tolle Geschichte, danke dir! Und weißt du was? Du hast ein superschönes Fahrrad!
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16/06/2020 at 8:43
Danke Joachim. Und ja, das weiß ich 😊
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14/06/2020 at 22:37
Menschen ohne Macke sind meisten Kacke! (Zitat von meiner Oma). Eva: ick mag Dir!
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16/06/2020 at 8:44
♥️♥️😊
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14/06/2020 at 23:45
Liebe Eva, du hast wieder einmal wunderbar geschrieben! Du hast doch in deinem vorletzten Blog über die verschiedenen Möglichkeiten während der Ausgangsbeschränkung Herausforderungen zu finden geschrieben. Das brachte mich auf die Idee alle Gemeinden unseres Bezirks abzufahren. Eine Freundin von mir machte spontan auch mit. Und so fahren wir die insgesamt 37 Gemeinden im Flachgau (Salzburg) an und machen Beweisfotos. Fast genauso spannend wie das fahren ist das planen (und dauernde ändern) der Route. Und wie du so schön schreibst – seine persönliche Landkarte zu ergänzen, neue Wege zu finden und in Gegenden zu fahren die man noch nie mit dem Rad besucht hat. Danke für deine Ideensammlung und noch ganz viel Spaß beim fahren!
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16/06/2020 at 8:49
Liebe Heidelinde, wie schön, dass Ihr an Eurer Aktion solche Freude habt – und außerdem finde ich es gut, wenn Fahrräder überall ihren Platz auf den Straßen einnehmen. Euch ebenfalls noch ganz viel Spaß und lieben Gruß!
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16/06/2020 at 11:03
Liebe Eva,
ich bin „die Freundin“, die auch Gemeinden sammelt. 😉
Da gebe ich dir absolut recht – je mehr Fahrräder sich auf den Straßen tummeln, desto besser für uns alle. Und den Spaß beim Runden austüfteln und abradeln haben wir ganz sicher!
Danke für deine immer so toll zu lesenden Blogbeiträge über deine Unternehmungen. Macht einfach Freude zu lesen. 🙂
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16/06/2020 at 19:06
Liebe Regenfrau, Ihr zwei seid das also 😉 Danke für den netten Kommentar!
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16/06/2020 at 18:25
Hach, danke, Eva! 🙂 Und einen darfst du noch. Denn wir haben jetzt 97 Ortsteile, seit Schlachtensee sich unabhängig gemacht hat. Mal schauen, ob sie schon ein Schild gehäkelt haben.
https://www.tagesspiegel.de/berlin/bvv-stimmt-einwohnerantrag-zu-schlachtensee-wird-berlins-97-ortsteil/25848508.html
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16/06/2020 at 19:04
Puh, gerade noch fertig geworden, bevor Regine die Nr. 97 offiziell in die Wertung aufgenommen hat 😉
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08/07/2020 at 15:29
Apropros sammeln: Wanderer.earth – ich habe „bereits“ 0.078413% aller Strassen weltweit geradelt …
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24/12/2020 at 9:34
Die Schilder „Rummelsburg“ und „Friedrichsfelde“ stehen am Betriebsbahnhof Rummelsburg.
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24/12/2020 at 11:06
Danke sehr! Könnt grad noch klappen dieses Jahr …
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