Ein neuer Sommertag. Abfahrt in der kühlen, schattigen Schlucht des Sernftal zum Wachwerden. Zwischen Glarus und dem Walensee führt der Weg schon raus aus den Bergen. Erste Anmutung, wie es sich anfühlen wird, wieder im Flachen zu sein. Aber da ist noch die Vorder Höhi.

Eine alte Militärstraße und steil wie der Pragelpass, nur länger. Immer schön oberhalb vom See, im hellen Sonnenlicht, so dass man sehen kann, wie viel des Weges man schon entlang gekrochen ist. Die Kurven, die dem Hang hier abgerungen wurden, hätte man auch ein bißchen flacher machen können. Wenigstens keschert man ordentlich Höhenmeter zusammen, wenn es so steil ist.

Das richtig steile Stück, da wo die Balken bei quaeldich.de dunkelrot und schwarz sind, das kommt erst nach 8 Kilometern. Kein Grund, sich vorher aufzurauchen.

Zählen, das hat sich gestern bewährt.

Irgendwie hatte ich den heutigen Tag als Erholung abgespeichert. Aber es sollen dann doch nur 15 Kilometer und 200 Höhenmeter weniger als gestern sein. 

Die kurze Galerie bergauf ist unangenehm zu fahren. Es hallt furchtbar laut, ich weiß nicht, ob man mich aus den Autos heraus gut genug sieht. So schnell raus da wie es eben geht.

Der Abzweig auf das Stück, das für den motorisierten Verkehr gesperrt ist, kommt erst weit oben. Man sieht gleich, dass der Weg ab hier ungehindert seine Kapriolen schlagen wird. Die von Jochen für Pässe aufgerufenen sechs Stundenkilometer unterbiete ich lässig mit einer schönen Fünf vorne auf dem Tacho.

Bei einem Viehgatter traue ich plötzlich meiner Balance bei diesem Geschleiche nicht mehr und steige ab. Das Gehen tut gut, ich bin nicht mal viel langsamer. Ein paar hundert Meter weiter erlaubt der Weg erneutes Anfahren, ich kurve zwischen Wanderern, Mountainbikern und Kuhmist hindurch.

Oben dann, im strahlenden Sonnenschein, Blicke auf die umliegende Bergwelt, welche der in den Hochalpen in nichts nachsteht. Ein paar sportliche Rennradler kommen nach Atem ringend angehastet. Bergwertung? Wer weiß, wie langsam die zwischendurch waren.

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Runterzu sind die gerillten Betonplatten weniger schlimm als befürchtet, trotzdem Abfahrt im Schritttempo, verkrampfte Hände vom Bremsen. Danach Laufen lassen Richtung Allgäu!

Nicht ohne meine Ovo. Eine Coop-Tankstelle wird es doch noch geben vor der Grenze, eine einzige… schon habe ich das falsche Eis gegessen, da taucht sie einen Kilometer vor dem Übergang noch auf. Zweites Eis, kein Problem beim aktuellen Verbrauch.

Bin dank Lichtenstein innerhalb einer Stunde in drei Ländern. 

In Hohenems winken Menschen ein paar schnittige Radler mit Fähnchen über den Weg. Ich fahre mitten durch die Veranstaltung. Das muss der Highlander Radmarathon sein. Vor hunderttausend Jahren hatte ich überlegt, hier einmal teilzunehmen. Inzwischen ist mir das seltsam fremd, die Vereinstrikots, die geduckte Haltung der Profi-Jedermänner, bereit für die nächste Wattspitze, wen kümmert’s.

Einer überholt mich an einer roten Ampel, an der ich brav stehe. Ausrasierter Nacken unter dem Helm, hat der etwa Kompressionsstrümpfe an? Da kann ich nicht widerstehen. Den schaffe ich doch! Manchmal macht es einfach so blödsinnig Spaß, als Frau einen Typen zu versägen. Bin natürlich froh, als der dann bald abbiegt, lange hätte ich das Tempo nicht mehr gehalten. 

Österreich bleibt Stippvisite. Hinter Dornbirn folge ich der Schwarzach in den Bregenzer Wald. Wild rauscht es im schönen Tobel. Dann immer mehr Verkehr, Sonntag nachmittag. Und aufwärts geht es. Stimmt, sind ja noch Höhenmeter übrig.

Rohrmoostal statt Riedbergpass hatte der Coach empfohlen. Bei Hittisau lasse ich mich erschöpft ins Gras sinken. Eine Gruppe Reiter starrt mich von den Pferden aus an. Ein Radler fragt mich, ob alles in Ordnung sei. Nun ja, nichts, wobei er mir helfen könnte.

Ich muss weiter, sonst komme ich nie an. 

Bei Siebratsgfäll sieht es so aus, als hätte ich die Höhe erreicht. Dem ist natürlich nicht so. Es geht runter, dann wieder ein bißchen hoch, noch weiter runter, noch höher rauf. Kein Ende abzusehen.

Das ist mal wieder so typisch Coach! So eine blöde Strecke, “ganz schön zu fahren”, und jetzt hänge ich in dieser Einöde! Wäre ich den Riedbergpass gefahren, wüsste ich wenigstens, woran ich bin. Immer dieses bescheuerte “gleich da”! Ich wettere vor mich hin wie mit 14, und weiß, es würde dem Mann das Herz brechen, könnte er mich hören.

Es ist tatsächlich schön zu fahren. Aber ich habe keine Energie mehr. 

Dann ist auch noch die Straße aufgerissen, als ob die Mäntel nicht schon lädiert genug wären. Wenigstens ist da vorn eine Frau mit E-Mountainbike, die ich in der Abfahrt auf Schotter überhole, das Jaegher macht wieder alles mit. Wenigstens ist da auch die Wasserscheide zwischen Nordsee und Mittelmeer, die ich fotografieren muss, so dass ich die E-Frau gleich noch mal überhole.

Kein Schild, dass ich wieder auf deutschem Boden bin. Nicht mal der Landkreis Oberallgäu wird angezeigt. Nur eine weitere nächste Mulde, und wieder hoch.

Hinter Fischen (endlich!) dann noch die blöde Bundesstraße, aber ist egal, da mache ich einfach Tempo, bis ich den Grünten sehe, den Sonthofener Hausberg. Sonthofen, helau! Zweiter Check- und Wendepunkt. 2.350 Kilometer im Kasten, und vor allem mehr als 30.000 Höhenmeter!

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Ein letzter Boxenstop bei meiner Tante. Spaghetti, Wurstsalat, Zwetschgendatschi. Kaffee auf der Terrasse, Öl an die Kette und die Reifen auf 7 bar.

800 Kilometer bis Berlin.

Der letzte Abschnitt ist wie ein Rausch.

Am Morgen knallharte Routine statt Müdigkeit. Längst habe ich mir angewöhnt, die Sachen am Abend so hinzulegen, wie sie in die Taschen müssen. Frühstück, Zeug ans Rad und ab. Jeder Handgriff sitzt.

Die Strecke raus aus dem Allgäu ist wunderschön, ich habe mit radweit.de geplant*. Rückenwind und die stetig abnehmende Höhe machen das Fahren dankbar. Ohne große Mühe sehe ich meist die 3 vorne auf dem Tacho. Endlich mal über 100 Kilometer in vier Stunden, trotz Pausen für Fotos, Essen, Ausziehen!

Ich fliege durch das heiße Land, bin eins mit dem Rad. Endlich glaube ich zu verstehe, wie Randonnieren wirklich geht. Der absolute Gleichklang zwischen Anforderung und Kraft. Als könnte ich ewig so fahren.

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Wenn nicht daheim jemand wäre, würde ich das machen, geht es mir durch den Kopf. Aber das denkt sich leicht, wenn man nur zwei Tage von zu Hause entfernt ist.

An der Tanke, beim Bäcker (Zwetschgenkuchen, die neue Ovo): rein, zack zack zack, raus, Flasche füllen, weiter. Ich glaube, ich gehe sogar anders in dieser Zeit. Mir kann gar niemand was.

Einmal folgt mir die Bäckersfrau auf die Straße, um sich mein Rad anzusehen. Stellt sich raus, sie fährt auch. Unterschätze nie die Bäckerin! Aber da bin ich auch gerade in der Triathlonhauptstadt Roth, da muss das ja so sein. 

Das Einzige, was den Flow stört, ist die Umfahrung vom Großraum Nürnberg. Stop and Go zwischen Radweg-Anfang und Radweg-Ende, Landstraßen mit dem Verkehrsaufkommen von Autobahnen, Baustellen, doof angehupt werden. Und Ampeln, Ampeln, Ampeln.

Hinter Forchheim latsche ich lieber eine halbe Stunde durchs Dickicht, als einen Fuß auf die angebliche Landstraße zu setzen. Im Gegenzug erfreue ich mich bei den Autobahnquerungen hämisch an den Staus. 

Danach wieder Ruhe. Ich pflücke Landkreise. Zwei Typen auf einem Traktor johlen mir zu, als ich sie überhole. Meine Beine sind so braun, dass es an den Rändern fast grau aussieht, und von angenehmer Konsistenz. Fühle mich unbesiegbar. Ist was ganz Neues.

Schlafen muss ich irgendwann trotzdem. Die Hotels sind mir egal, ich nehme, was ich kriege. Zimmer mit Dusche auf dem Gang für 23 Euro. Bette mich auf Frottée und schlafe wie ein Baby.

Am letzten Tag noch 350 km. Showdown. Thüringer Wald, was kannst du mir noch anhaben? Ich habe die Vorder Höhi überlebt!

Staune dann doch wieder über die knackigen Anstiege. Alles deutlich entspannter als hinzu, aber kurz Drüberrocken ist auch nicht.

Ein paar Kilometer fahre ich auf der gleichen Strecke wie auf dem Hinweg. Erkenne eine Tanke, die ich an jenem kaffeelosen, frischen Morgen vor drei Wochen auf meiner Liste hatte, einen der fiesen Buckel. Wie lange das alles her zu sein scheint. Wie anders alles war!

Über meinem Liebesfest mit dieser wundervollen Gegend vergesse ich ein wenig das Essen, merke es erst so richtig, als mir schon schlecht wird. Bei Zeitz (120 km) plündere ich den Lidl. Ein halber Liter Buttermilch und ein Butterhörnchen sind gar nichts.

Versorgung im Fahren aus der Lenkertasche, auch das geht inzwischen. Zwei Brezeln. Ein halbes Brötchen. Ein weiteres Butterhörnchen. Eine kleine Packung Prinzenrolle. Reste von Gummibärchen und den nächsten Beutel aufreißen.

Eine Rittersport, die ich in der Trikottasche vergessen haben, hat sich verflüssigt. Na hoffentlich hält die Verpackung.

Am Ende esse ich auch noch eine Banane, die mir vorher ins Gras gefallen ist. Und zwei Gummibärchen, die an meinem Trikot kleben. Verwahrlose langsam. Doch Zeit, nach Hause zu kommen. Sonst verbrenne ich noch meinen Ausweis und schlafe im Wald.

An diesem Tag denke ich darüber nach, was das alles nun zu bedeuten hatte. Dass Radfahren mir wirklich Spaß macht! Große Erkenntnis.

Aber irgendwie schon. In diesen letzten drei Tagen, da habe ich nicht mehr überlegt, wie lange ich noch fahren werde, wann der nächste Stop kommt, wann das anstrengende Stück endlich vorbei ist. Am Ende waren die besten Momente, wenn ich aufsitzen und kurbeln und in die Landschaft schauen konnte. Alles andere ist reine Notwendigkeit. Und das ist für mich noch mal eine ganz neue Qualität.

Leipzig fühlt sich dann schon an wie Kiez. “Wo kommst du denn her?”, ruft jemand hinter mir. Zwei von diesen schicken bunten Jungs, wie sie bei den Langstreckenfahrten im Juni aufgetaucht sind, er hätte mich auf dem 600er zum Darß gesehen, sagt prompt der eine.

Danke für diese Frage!

Verlasse die Stadt am späten Nachmittag, auf guten, autofreien Wegen.

Die kleine Elbfähre bei Pretzsch ist außer Betrieb, im letzten Moment ein Schlenker über Lutherstadt Wittenberg, der mich wieder auf die Bundesstraße zwingt. So lange es geht, fahre ich zickzack über die Dörfer. Auf der Landstraße ist eigentlich nicht viel los am Abend, aber was los ist, hat es schon wieder in sich.

Müde bin ich, und plötzlich habe ich wenig Lust, in der letzten Nacht noch irgendwo mit einem Platten zu stehen. Suche ich mir hier jetzt noch dieses eine noble Hotel, dass ich mir unterwegs immer versprochen hatte, und dann doch nie genommen? Sektfrühstück zum Abschluss?

Mein Sektfrühstück heißt Kaffee mit M. um 8 Uhr morgens, beschließe ich. Und dorthin nehme ich jetzt den Zug. Vielleicht hat es in dem Moment mit den Kilometern auch endlich gereicht.

Bahnhof Wittenberg: Vor drei Jahren haben M. und ich es mit Stadträdern bis hierher geschafft. Damals habe ich mir vorgenommen, endlich wieder richtig Rad zu fahren. Und mir im Leben nicht vorgestellt, dass ich eines Tages aus der anderen Richtung hier ankomme, mit über 3.000 km in den Beinen.

Was soll ich sagen. Ist ein ziemlich gutes Gefühl.

***

Am nächsten Tag liege ich die meiste Zeit einfach nur wie erschlagen auf dem Bett herum. Soviel zur Unbesiegbarkeit.

Die Tour selbst wirkt viel länger. Seit drei Wochen bin ich nun zurück, aber immer noch versinke ich in Gedanken, fahre in der Hitze über diese Wellen in der Auvergne, frage mich bei Albertville, ob das Wetter hält, wundere mich über die Intensität.

Ich bin sehr froh, dass alles gut gegangen ist. Keine Panne, kein Sturz, nicht mal ein Platten. Das Schlimmste war noch, dass das Jaegher einmal als “Tourenrad” bezeichnet wurde. Da das aber von einem Freund kam, werden wir es irgendwann verzeihen.

Freunde, Familie: Ich bin überall wunderbar willkommen geheißen und versorgt und betüdelt worden. Aber es fiel mir schwer, mich zwischen den Etappen auf vertraute Menschen einzulassen. Mir war vorher nicht klar, dass diese Tour eine so egozentrische Angelegenheit würde, ich kam mir oft einsilbig vor, entrückt. Netterweise hat mich das niemand spüren lassen, und sicher haben mich die Besuche davor bewahrt, noch mehr ins Eigenbrötlerische abzudriften. Danke dafür!

Die Strecke an sich hätte ich besser planen können, mir kleine Straßen suchen, schöne Radwanderwege. Ich wollte aber möglichst schnell von A nach B kommen. Und ich sehe nicht ein, warum das mit dem Rad nicht genauso funktionieren soll wie mit dem Auto.

Radwege und Verkehr in Deutschland, dazu könnte ich sehr viel schreiben. Das war über viele Kilometer hinweg schlichtweg eine Farce. Ich möchte das aber hier nicht weiter ausbreiten, weil dass nicht die letzten Worte zu dieser Tour sein sollen.

Es ist schade, dass man nie ganz genau vermitteln kann, wie es unterwegs wirklich war. Die vielen kleinen Dinge, die die Zeit füllen und etwas formen. Ein Stimmung, ein Gefühl für diese Reise. Für mich jedenfalls war diese Tour das Härteste, was ich je gemacht habe. Das Härteste, Bescheuertste, und vielleicht auch das Beste.

Fahren tut danach übrigens genauso weh wie immer, auch wenn vielleicht gerade etwas mehr Druck auf dem Pedal ist.

Ach, und frische Wäsche riecht unglaublich toll.

Danke fürs Mitfahren!

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Touren auf Komoot:

Tag 20: Matt – Sonthofen, 164 km, 2.900 hm

Tag 21: Letzter Boxenstop

Tag 22: Sonthofen – Pleinfeld, 235 km, 1.350 hm

Tag 23: Pleinfeld – Nordhalben, 206 km, 1.410 hm

Tag 24: Nordhalben – Lutherstadt Wittenberg, 249 km, 1.900 hm

Was zuvor geschah:

Auf großer Fahrt, Teil 1: Deutschland

Auf großer Fahrt, Teil 2: Frankreich

Auf großer Fahrt, Teil 3: Vom Massif Central in die Alpen

Auf großer Fahrt, Teil 4: Schweiz

*Ich mache radweit.de für die wunderschönen Wege verantwortlich, die ich auf meinem Rückweg hatte, aber keineswegs für die schlimme Umfahrung von Nürnberg. Die Route habe ich mir selbst zusammengestückelt und kann nicht mehr sagen, wie dieses Teilstück entstanden ist. Regine Heidorn hatte mir die Seite dankenswerterweise kurz vor der Abreise empfohlen.