Auftritt: Die große Müdigkeit. Am nächsten Morgen ist sie da, legt sich wie ein Schleier über alles, verlangsamt Bewegungen und Gedanken, führt dazu, dass ich Beinlinge verkehrt herum anziehe, das Gepäck zuschnüre, obwohl da noch Sachen rumliegen, oder, ein paar Tage später, ernsthaft überlege, ob ich das Hotel aus dem Fenster des ersten Stocks verlassen soll, als ich mich im Zimmer eingeschlossen glaube.

Der Wecker klingelt um 6 Uhr, wie meist auf der Reise, und das nicht nur wegen der Länge der Etappen, sondern weil ich den frühen Morgen zum Fahren so sehr mag. Das Licht. Die Luft. Den ganzen Tag vor mir haben.

Haßfurt enttäuscht mich nicht. Meine nette Wirtin winkt mich in den goldenen Morgen, es ist ein Tag zum Jauchzen, egal wie schwer die Beine sind. Kein Wunder, dass Jochen Kleinhenz zu jedem seiner Berichte hundertfünfzig Fotos postet. Es ist einfach zu schön hier! Wollte ich wirklich in den Zug steigen?

Über sanft geschwungene Felder quer rüber nach Würzburg, Richtung Südwest, wieder on track nach den Irrwegen der ersten Tage. Dahinter der Kraichgau, den ich fürchte, seit ich im letzten Herbst dort übel verreckt bin. Irgendwo ist noch ein halbfertiger Text dazu, Titel: Der härteste Tag. Das sagt alles.

So viele Details, die auf 200 Kilometern Platz finden:

Die Bäckerin, die sich herzlich erkundigt, wohin die Fahrt geht, und auf meine Antwort hin, Karlsruhe (Entfernung: 230 km), hocherfreut erwidert, na jetzt haben Sie sich ja gestärkt! (Ist sie Ultracyclistin? Oder ahnungslos?)

Oder

die frisch gerichtete Landstraße, die punktgenau eröffnet wird, als ich des Weges komme, und zusammen mit den Anwohnern („stand in der Zeitung!“) radle ich auf feinem Asphalt vorbei an blau blitzenden Baustellenfahrzeugen, weiter vorn ist ein kleines Festzelt aufgebaut, Menschen in feierlicher Kleidung reichen sich Sektgläser und prosten sich zu, ein Moment der Ruhe, ich bin so froh unterwegs zu sein

oder

das unvermeidliche Stück Bundesstraße hinter Würzburg, wo ich von einer wohlwollenden Ampel reguliert die Fahrbahn kilometerlang für mich habe, während es sich gegenüber endlos und frustriert staut

oder

die Landkreise, die ich einsammle wie Rotkäppchen die Blumen für die Großmama

oder

der Radweg mit dem unmöglichen Untergrund und der plötzlichen wundervollen Aussicht quer über die Weinstöcke

oder

als mich Komoot vor Tiefenbach auf einen dieser berüchtigten Wege direkt den Hang hoch schickt, und noch bevor ich es richtig begreife, habe ich das Jaegher schon zu weit nach oben geschoben, um wieder umzukehren, es ist mühsam, es ist heiß, und da sind diese Kinder mit ihren Kinderrädern am Wegesrand und starren mich an und rufen “Haaalloo, haaaalloooo!”, ich rufe zurück, und eine Zeitlang geht es so hin und her, der Anstieg ist viel länger als erwartet, das Rufen schallt hinter mir her, ich bin schon ewig hinter irgendwelchen Kurven verschwunden, und immer noch höre ich die Kinder und finde sie plötzlich unglaublich nervig, diese unverschämten Gören! Weiß aber, ich selbst bin es. Von einem auf den anderen Moment. War das schon immer so?

Oder

oben anzukommen, und dort ist es ganz toll, der weite Himmel, die zarten Wolken, der Wind kühlt mich, die Gräser rauschen, keine Menschenseele zu sehen, und ich will einfach nur bleiben

oder

in Tiefenbach, wo sie gerade das Dorffest aufbauen, Bierbänke auf dem Traktor, und mich wieder anstarren, eigentlich ist es kein Wunder, mit der pinkfarbenen Rapha-Warnweste, dieser Hello-Kitty-Kleidung für Erwachsene, die ich auf den deutschen Straßen inzwischen rund um die Uhr trage.

In Habachtstellung fahre ich durch den Kraichgau, es ist hügelig, aber vielleicht hat der Thüringer Wald einfach einen Punkt gesetzt.

Langsam bin ich trotzdem. Gegenwind hat es auch.

Die letzten 30 Kilometer flach, es geht nur noch blöd durch Vororte, Strommast-Romantik im Abendlicht, der Hardtwald (meine Mutter später: da passiert doch so viel! – als ob das die große Herausforderung dieses Tages, dieser Reise wäre), die Friedrichstaler Allee runter, kann man entlang brezeln, am Ende geht’s ja dann immer.

Ein Vollidiot nimmt mir mitten in der Stadt beim Rechtsabbiegen die Vorfahrt und grinst mich dabei noch an. Ich bin ehrlich sprachlos, aber was soll’s. Ich bin in Karlsruhe.

Ich bin in Karlsruhe! Ich habe es bis hier geschafft, und ich habe keinen Schimmer, wie ich nochmal drei Tagen lang solche Etappen fahren soll.

Später. Erst die Eltern.

Dort Boxenstopp vom Feinsten, die Triathlon-Vergangenheit lässt grüßen. Meine Mama näht neben all den Köstlichkeiten, die sie ungefähr stündlich herbeizaubert, auch noch den beängstigenden Riss in meiner Kappe (danke, danke, danke dafür!!). Der Coach hilft, einen Ersatz für die Werkzeugflasche zu finden, die mir am Sattelrohr bei jedem Tritt am Bein entlang schrammt (einziges nicht getestetes Teil), wechselt die Batterie vom Radcomputer, obwohl ich dieses Ding nicht dabei habe, das man zum Öffnen braucht, und gibt Tipps für die kommenden Strecken.

Der Tag vergeht zu schnell. Ich schlafe schlecht, bin immer noch wie gerädert, als ich Sonntag aufbrechen will.

Inzwischen hat das Transcontinenal Race begonnen, aber derart mit mir selbst beschäftigt habe ich wenig davon mitbekommen. Früh am Morgen sehe ich auf Twitter, dass Emily Chappell den Weg am Rhein entlang nach Karlsruhe nimmt, und das wirkt elektrisierend. Die erste Frau beim letztjährigen Rennen, die Frau, die ein Buch über ihr Leben als Radkurierin geschrieben hat, und zwar ein sehr poetisches, diese Frau kreuzt tatsächlich meinen Weg!

Plötzlich geht das Anschnallen der Taschen am Rad sehr schnell, der Coach muss Trackleaders checken, aber das wirft Fehler, dann muss es eben so gehen, schnell jetzt, schnell!, ich springe aufs Rad, den Rhein entlang, so viel Möglichkeiten gibt es da nicht, ich werde sie doch wohl treffen, und was dann eigentlich, machen wir dann ein Foto, darf ich die denn auf ihrem Weg stören, komme ich überhaupt hinterher, unterwegs beim Fahren Trackleaders auf dem Handy, wieder Fehlermeldung, wo ist sie, wo ist sie?

Ich habe Gänsehaut bei dem Gedanken, dass ich dieser großartigen Radfahrerin hier begegnen könnte, ich heule fast auf dem Rad, ich fahre Richtung Rheinbrücke, wenn es nun ausgerechnet dort passiert, was soll ich dann tun? Sehe mich dort entlang fahren, sehe mich schon über die sechsspurige Fahrbahn brüllen, “Emily, I love you!”, sehe M. vor meinem inneren Auge, wie er sich an die Stirn tippt, muss lachen und weinen, so ist das, so ist das halt, wenn man sich auf dem Rad die Kante gibt.

Ich treffe Emily Chappell nicht. Sie ist schon durch, schon vorbei an dieser Stelle, und es wird mich noch kilometerlang ärgern, und gleichzeitig freuen, dass sie hier unterwegs war, im Revier meiner Jugend, den Rheindamm entlang Richtung Lauterbourg, die Euphorie ist eine dünne Schicht über der Müdigkeit, ich bin nicht so recht beieinander.

Keine Landkreisschilder mehr, aber auch keine Bundesstraße, nur noch Radfahrer, Spaziergänger, immer mehr, es ist Sonntag. Fahre und fahre im Flachen, auf der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich, am Mobilfunkprovider sehe ich, in welchem Land ich angeblich gerade bin, kurble die Kilometer zusammen, alles ist besser, als um 11:33 Uhr noch 212 Kilometer vor sich zu haben wie an Tag Eins, also ist jeder Tag besser als das erste, und hier erst recht.

Alle paar Kilometer klettere ich den Damm hoch und schaue auf den Rhein. Die Flüsse sind im ganzen Land gestrichen voll in diesen Tagen, A. würde das gefallen.

“Du fährst auf einer Allee mit schönen alten Bäumen direkt hinein bis Strasbourg”, hatte der Coach versprochen, und genau so ist es. Der Radweg spuckt mich mitten in der Stadt aus. Ich finde ein Sandwich Poulet Crudités, Frankreich pur, verzichte auf Fast Food und fahre dann doch noch schnell in die Stadtmitte zum Münster. Touristenströme, da kickt es zum ersten Mal: Ach übrigens, ich bin mit dem Rad hier.

Am Canal du Rhône au Rhin entlang, es ist so unglaublich grün hier, es ist flach, kein Wind von vorn.

Von einem auf den anderen Moment zieht es zu, ein Gewitter bricht herunter, drei Radler versammeln sich mit mir unter einer kleinen Schleusenbrücke, wir drücken uns ohne ein Wort gemeinsam an die Wände, als der heftige Regen schräg unter unser kleines Dach pladdert.

Danach ist es, als wäre nichts gewesen, nur die Luft ist angenehm abgekühlt.

Es ist eine schöne, autofreie Strecke, die der Coach mir rausgesucht hat, samt Wasserstellen, ein unscheinbares, sehr sauberes Toilettenhäuschen in Ebersmunster etwa, kein Wunder, der Mann hatte dreißig Jahre Gelegenheit, den besten Weg zu finden. Nach über 150 Kilometern erst biege ich ab in die Vogesen, noch 60 Kilometer, ein paar Anstiege, das wird zu schaffen sein. Es ist nicht wichtig, wie schnell du bist. Es ist wichtig, dass du ankommst. Die alten Randonneurs-Weisheiten.

Col d’Urbeis, Col de Mandray. Dunkles, nadelwaldiges Vogesen-Grün. Längere Anstiege, nicht steil. Gefahren werden muss das trotzdem. Die Euphorie längst abgelöst von einer sturen Indifferenz. 20 Uhr, prognostiziere ich meinem Bruder.

Ich muss da einfach nur durch.

Hinter den Cols nochmal Höhenmeter, und dann ist da noch der letzte Stich hoch zum Haus. Oben an der Kurve steht er dann schon und wir winken uns zu, so wie nur mein Bruder und ich uns zuwinken, und grinsen, verschworen halt.

Er brät Steaks, macht unerwartet leckere Pasta in Olivenöl und Zwiebeln, während ich ein halbes Baguette mit Paté und Käse verschlinge, alle Minute fragt er fast empört, ob ich denn danach noch was essen könne. Aber ja!

Nachts wache ich von Knieschmerzen auf. Wecker auf zwanzig vor sechs. Die Hitze.

“Bis Remiremont kannst du es laufen lassen”, hatte der Coach gesagt. 40 Kilometer, die er mit dem Nachbarsjungen zusammen auch mal in unter einer Stunde fährt. Ich schaffe es in einer Stunde und 20, und nachdem ich um 7:10 Uhr endlich losgekommen bin (wieder die Müdigkeit) und heute nur knappe 200 vor mir habe, bin ich blendender Stimmung.

Nebelfetzen hängen vor dem Gegenanstieg, ich passiere die Wasserscheide zwischen Mittelmeer und Nordsee, es kommt mir wie ein Meilenstein vor. Ich habe Gänsehaut. Ich fahre mit dem Rad nach Frankreich!!

Ich muss kurz laut brüllen.

Hab ich sonst nicht so. Das hier ist aber zu groß, um es drinnen zu behalten. Das ist geradezu körperlich spürbar: Die pure Freude unterwegs zu sein, die Freude, dass das hier tatsächlich passiert. Vielleicht auch die Kehrseite all der schweren Tritte in den letzten Tagen, der wiederkehrenden Gedanken, dass ich es nicht schaffe.

Lasse es weiter laufen, bis ich hinter Luxeuil auf die Route Nationale gelange. (Meine tolle Planung: Einfach immer diagonal nach Südwesten.)

Da ist es dann weniger lustig.

In Frankreich fahren sie nicht so schlimm wie zuhause, aber die Laster so direkt neben den Waden machen keine Freude. Eine annehmbare Alternative ohne großen Umweg, ohne viele Anstiege gibt es nicht.

Ich schlängle mich irgendwie durch, beschließe, auf jeden Fall über Mittag zu fahren, wenn die Franzosen gern eine Vesperpause einlegen, trotz der Hitze. Entdecke an diesem Tag Trinkjoghurt in 850 ml-Flaschen. Auf der lauten, ungemütlichen Place de la République von Vesoul ungefähr 700 zuckrige Kalorien in wenigen Augenblicken runtergeschüttet, ein halber Liter Wasser hinterher. Räumt auf mit allen Problemen.

Besonders spannend ist die Strecke nicht. Bin froh über ein paar Wolkenschleier vor der sengenden Sonne.

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Am Nachmittag probiere ich einen abseitigen Weg querfeldein aus, geht natürlich gleich hoch und runter. Dafür autofrei. Ich halte an, lege das Jaegher ins Gras, hocke mich daneben. Krieche dann rückwärts in den Schatten eines nahen Baumes.

Pause hier, Pause da. Ich wundere mich wieder über die Fahrer der langen Brevets oder der großen Selbstversorger-Rennen. Eigentlich kann ich mich einigermaßen organisieren. Trotzdem, es kommt so viel zusammen, weswegen man vermeintlich vom Rad muss.

Ein paar Orte weiter der Carrefour Express. Ein halber Liter O-Saft, eine sogenannte Kaffeespezialität aus dem Kühlregal, ich bin wieder auf einer erträglichen Betriebstemperatur.

Wenigstens lässt der Verkehr allmählich nach. Und ich werde einmal nicht so spät im Hotel ankommen!

Der kleine Ort St. Jean-de-Losne schwitzt an der Saône zur Abendstunde bei unverminderter Hitze vor sich hin. Ich habe Zeit zu duschen, meine Sachen zu waschen, zum Supermarkt zu gehen und in die Brasserie.

Nachts ist es so heiß, dass an Schlafen nicht zu denken ist, in der Nachbarschaft jaulen die Katzen. Zumindest hoffe ich, es sind nur Katzen.

Ein Tag noch bis Chossière, dem südwestlichsten Punkt meiner Reise. Ein Tag!

Hier geht’s weiter.

Touren auf Komoot:

Tag 4: Haßfurt – Karlsruhe, 228 km, 2.460 hm

Tag 5: Boxenstopp

Tag 6: Karlsruhe – Le Grand Valtin, 217 km, 1.910 hm

Tag 7: Grand Valtin – St. Jean-de-Losne, 202 km, 1.570 hm

Was bisher geschah:

Auf großer Fahrt, Teil 1: Deutschland