Wir sausen dahin. Angetrieben von der rasch verfliegenden Zeit. Gestern haben wir festgestellt, wie langsam wir in den Bergen vorankommen, ungeübt im Fahren von Pässen, beladen mit Rucksack und Saddle Pack. Heute liegt die längste und Höhenmeter-reichste Etappe unserer kleinen Rundfahrt durch die Französischen Seealpen vor uns.
Angetrieben auch von einer dunklen Wolkenbank, die morgen ums 8 Uhr vor uns zwischen den Bergen hängt. Ohne Smartphone und direkten Zugriff auf eine Wettervorhersage würde ich heute niemals freiwillig in diese Richtung fahren, geht es mir durch den Kopf. Aber mehrere Wetterdienste bestätigen, dass wir ohne Regen über die heutigen Pässe kommen, wenn wir uns beeilen.
Der Gipfel: Der Col de la Bonette samt Cime de la Bonette. Mit einer Differenz von ziemlich genau 1.500 Höhenmetern auf 22 km ist das der Höhepunkt unserer Königsetappe.
Ich habe gute Beine. Macht das allein einen Pass schöner? Der Bonette jedenfalls ist einer der bemerkenswertesten, die ich jemals kennengelernt habe. In weiten Kurven oder engen Serpentinen windet sich die Straße über Bergrücken und durch Hochtäler, schraubt sich im Zickzack einen steilen Hang hinauf, in sanftem Schwung an einem kleinen See entlang. Immer wieder ist der bisher zurückgelegte Weg sichtbar. Schon im unteren Teil bieten sich Fernblicke auf die umgebende Bergwelt. Jenseits der Baumgrenze findet man eine karge Mondlandschaft aus vergilbten Gräsern und braunen Felsen vor.
Auf den letzten sieben Kilometern schwingt sich die Straße in einem großen Bogen weit über unseren Köpfen gen Himmel. Die Steigung bleibt unter 10 Prozent. Nur der Cime de la Bonette, die kleine Ringstraße am Gipfel, angeblich extra errichtet, um den Bonette als „Höchsten Alpenpass“ bezeichnen zu können, wartet mit einer Steigung von 14 Prozent auf. So steigen wir schließlich mit stolzgeschwellter Brust vom Rad.
Hier oben pfeift ein kalter Wind. Wir ziehen fast alles an, was wir haben, alle Überlegungen vor der Abreise haben sich gelohnt. Dann die Abfahrt, die Wegführung nicht weniger beeindruckend. Schnell schmerzen mir die Hände vom ungewohnten Bremsen in den steilen Kurven. Zweimal muss ich anhalten und die Arme ausschütteln, bevor wir in flachere Gefilde kommen.
Ein Restaurant passieren wir dummerweise unverrichteter Dinge, nach einer kompletten Mahlzeit steht uns beiden nicht der Sinn. M. hat aus unerklärlichen Gründen begonnen von Hühnernudelsuppe zu träumen (und wird in den nächsten drei Tagen nicht mehr aufhören), mir steht der Sinn nach Kuchen. Auf dem weiteren Weg finden wir prompt keinerlei weitere Möglichkeit. Allmählich geht uns die Energie aus, und wir haben noch einen weiteren Pass vor uns. Letzte von zu Hause mitgebrachte Kekse werden ehrlich aufgeteilt.
Schließlich der Abzweig. Geradeaus führt der Weg weiter nach Nizza, laut Reiseführer die längste Abfahrt der Seealpen. Links geht es in Richtung Col St. Martin. „Wer hat sich eigentlich diesen Mist ausgedacht“, knurrt M., als wir abbiegen und der Weg erneut aufwärts führt.
Noch einmal fast 1.000 Höhenmeter. Es zieht sich. Weit über uns ein Dorf. Es wirkt unendlich weit entfernt, vielleicht auf halbem Weg nach oben. Wir treten stumpf vor uns hin, Kurve für Kurve. Im Dorf erneute Suche nach etwas Essbarem. Einen kleinen Gasthof finden wir, wunderbarer Ausblick ins Tal, eine Cola für jeden von uns. „Das Schlimmste habt ihr schon geschafft“ tröstet die Wirtin. Etwas flacher dann geht es durch den Wald, bevor wir nach einer ganzen Weile endlich den Col St. Martin erreichen.
Nur ein paar hundert Höhenmeter weiter liegt der heutige Zielort St. Martin-Vésubie. Ein unerwartet malerischer Ort mit schönen alten Gebäuden. Hier erleben wir einmal mehr die Aufgeschlossenheit der Franzosen gegenüber unserem Sport, als man anbietet, unsere Räder über Nacht im Frühstücksraum des Hotels abzustellen. Dort bleiben sie übrigens auch am nächsten Tag stehen, während wir zusammen mit den anderen Gästen die erste Mahlzeit des Tages einnehmen.
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