Berge heute, naja, was man in Norddeutschland so Berge nennt. Ich wache wieder viel zu früh auf an meinem dritten Tag. Bin irgendwie gerädert. Es tut nichts im Speziellen weh, ist eher so ein Gefühl, als sei ich komplett von einem Traktor überrollt worden.

Egal, erst mal das Gepäck. Alles muss raus: Verpackungsmüll, alte Hotelinfos, Süßigkeiten, die ich beim Plündern von Tankstellen angesammelt habe (was wollte ich mit zwei Chupa Chups auf dem Rad?). Der verfluchte Mantel, den ich seit über 160 km mitschleppe, weil ich doch noch herauszufinden gedachte, was damit nicht stimmt. 40 Euro hin oder her, bestimmt nicht über Rothaargebirge und Harz damit!

Das Jaegher am Morgen wiederzusehen ist ein wahrer Lichtblick, solange ich drauf sitze, vergesse ich immer schon, dass das mein neues Rad ist. Heute ziehe ich mich hinauf wie ein angeschossener John Wayne auf sein Pferd (wobei, wurde der jemals angeschossen? – besoffen sonst eben), tätschele dem Jaegher das Oberrohr und hoffe, es bringt mich irgendwie ein Stück näher nach Hause.

Richtiggehend übel ist mir auf den ersten Kilometern, nachdem ich wieder versucht habe, alles Mögliche zu frühstücken, ich sage mir, es kommt nicht drauf an, die ersten 50 beachtest du einfach gar nicht, Hauptsache losrollen. Ich nutze jede Gelegenheit zum Anhalten. Windjacke ausziehen. Rad auf den Radweg heben, böser hoher Bordstein! Ortsschild Petersburg fotografieren, ach doch schon so weit im Osten, haha, naja. Noch mal auf die Karte schauen.

Die Große Dhünntalsperre, vom letzten Gastgeber als zweitgrößter Trinkwasserversorger des Landes angepriesen, bleibt auf meiner Kulturfreveltour gleich links liegen. Stattdessen geht es auf kleinen Straßen nach Marienheide, Meinerzhagen, Attendorn.

Ich habe noch ein Tütchen Power Bar Gel Shots, was anderes bringe ich nicht runter. Eigentlich bin ich gegen Gel, aber die sind ein bißchen wie Gummibärchen, gehen fast immer. Zwei Power Bar „New Energizer“ sind auch in das Gepäck gelangt, ich weiß ja nicht, was sie sich dabei gedacht haben, muffig schmecken die, kleben trocken im Gaumen, eine ekelhafte Angelegenheit. Ich hoffe, die sollen nicht die alten Riegel ablösen!

Dafür liebt Komoot mich heute. Naturpark Bergisches Land, Naturpark Ebbegebirge. Ich bekomme wundervollste kleine Wege durch die Felder gezeigt, kein Auto weit und breit. Kurze, engagierte Anstiege, die Höhenmeter leppern sich. Immer wieder habe ich tolle Weitblicke, über denen sich die Wolken ballen. Bleibe vom Regen verschont.

Seltsam ist, wie wenig Zeit trotz stundenlangem Fahren bleibt. Ich wollte doch unterwegs ein paar große Gedanken wälzen. Stattdessen: Habe ich noch Wasser, war das jetzt der richtige Abzweig, wie weit bin ich denn, wie spät ist eigentlich, ist das da vorn Regen, wie blöd fährt denn der.

„Nimm dir doch etwas mehr Zeit für die Strecke“, sagte M. „Bist doch nicht auf der Flucht!“ Doch, doch. Richard Kimble tritt in die Pedale. „Ich habe meine Frau nicht umgebracht“, murmle ich mit zusammengebissenen Zähnen. Radfahren als Exzess: Erhöhte Bereitschaft zu Selbstgesprächen.

Das Tempo ist nicht mehr feierlich, aber allmählich fahre ich mich ein. Um ein Uhr noch keine 100 Kilometer. Heute ist das nicht so schlimm, das Tagessoll liegt auf dem Papier bei 195.

Hinter Schmallenberg, Komoot hat mich soeben über eine wunderbar einsame Anhöhe geleitet, fahre ich in einen kleinen Ort ein, in dem gerade ein Platzregen wütet. Zeit für eine Kaffeepause mit Erdbeerkuchen bei Tröster. Im Trockenen sitzen, dabei selbst noch trocken sein, Wohltat! Und die Leute sind überall so freundlich auf dem Land. Oder ist Berlin nur so schlimm?

An der Lenne entlang geht es Richtung Winterberg, vorbei am Kahlen Asten, nur ganz allmählich bergauf, den Direktanstieg, den Komoot mir unterjubeln wollte, habe ich bemerkt, nichts da! Ich nehme schön die gleichmäßig ansteigende, verkehrsarme Straße. Ein paar hundert Höhenmeter klettert die durch den Wald, geht aber, das lässt sich kurbeln. Dann bin ich auch schon auf der Astenstraße, mein höchster Punkt für heute.

Abzweig zum Kahlen Asten. M. hat ja recht, ich sollte unterwegs ruhig mal nach rechts oder links schauen. Geht sowieso gar nicht, hier nur vorbei zu rollen. Die Hundert Höhenmeter mehr sind jetzt auch wurscht.

Oben eine Hammeraussicht, gerade zieht es zu, Regen setzt ein, die Spaziergänger flüchten. Ich stehe unter einem winzigen Holzunterstand, ziehe die Überschuhe an und esse ein Balisto im Brötchen. Pures Glück!

Flotte 350 Höhenmeter abwärts, es wird schnell frisch, über den harten Gegenanstieg bei Elkeringhausen freue ich mich. An dessen Ende steht ein Holzkreuz am Wegesrand, laut sage ich „danke schön!“ zu dem, der dran hängt. Habe mit dem eigentlich nichts weiter zu schaffen, aber passt gerade so gut.

Schöne weiche Abfahrt jetzt, allmählich trauen wir uns was zusammen, das Jaegher und ich, düsen hier runter, ist wieder so eine Zeit zum lauten Singen. Flow des Unterwegs-Seins!

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Korbach im Visier, letzte Tanke für heute, letzte 40 Kilometer nach Hofgeismar heizen. So habe ich mir das gedacht. Ach du liebe Zeit, wie fahren die denn jetzt schon wieder hier. Das ist im Ort schon schlimm. Und da soll ich auch noch auf die Bundesstraße? Das Jaegher und ich scheuen an der Auffahrt zurück. Ich denke an meine Mama, der ich versprochen habe, auf mich aufzupassen. Das muss noch anders gehen. Geht. Über die Dörfer, mit Umweg, über weitere Anhöhen. Och nö, heute doch nicht?!

Sind doch nur Kilometer, sage ich mir. Die beißen nicht! Mühlhausen, Gembeck, Massenhausen. „Massenhauser Höhe“ nennen die das davor, es passt zur Straßenführung. Dafür, Déjà-Vu, kommt jetzt zum Abend wieder die Sonne heraus. Überschuhe aus, die Füße können abtrocknen. Ich bete nur, dass die Bundesstraße ab Bad Arolsen besser wird, sonst wird’s ein Riesenumweg.

Bad Arolsen, Bundesstraße: geht. Hofgeismar dafür noch 27 Kilometer. In Wellen. Bitte!?!

Es hilft ja aber nichts. Ich ziehe den neongelben Regenschutz über den Rucksack und mache die Lichter an, damit die verrückten Korbacher mich nicht im dunklen Wald erwischen. Immerhin trocken. Und: da wird ein Restaurant direkt im Hotel sein, deutsche Küche. War das nicht mit angeschlossener Metzgerei?

Irgendwann hänge ich drin im letzten Anstieg. Weiß das, aber kann nicht mehr.

Kann. Einfach. Nicht. Mehr.

Sieben Straßenpfosten zähle ich vor mir. Die müssen jetzt noch weg. Einen für Dege, sage ich zum Jaegher, wegen des abgerissenen Daumens. Einen für den gerade verstorbenen Rudi Altig. Einen für Ulle, für die ganzen schönen Zitate. Einen für den Coach! Einen für M. Und irgendwann, irgendwann … donnern wir endlich hinunter, rein nach Hofgeismar.

Im Hotel dann, die obligatorische Frage nach den Kilometern. 207 sind es heute geworden, fast 3.000 Höhenmeter.
„… Also wissen Sie, manchmal kommen hier Männer vorbei, die fahren so 130!“
„Ich bin aber kein Mann!“

Morgens, Tag 4: Bock aufs Fahren!

Beim Frühstück sitzt ein beleibter Mann am nächsten Tisch. Sitzt da und schnauft. Isst nicht, spricht nicht, schnauft nur vor sich hin. Da schaue ich spaßeshalber, wie weit wohl ein Umweg hoch zum Brocken wäre. Braunlage, nächstgelegener Punkt auf meiner Route. Ab da mit Brocken noch 98 Kilometer. Wie weit bis Braunlage? Weniger als 120, dann fahre ich hoch. Wenn die Beine wollen.

Das rechte Knie will jetzt schon nicht, wird aber vom Jaegher und mir überstimmt. Sonst, besser als gestern. Auf meiner Sitzfläche glaube ich das leichte Rautenmuster der Radhosen-Polsters zu erkennen. Das Rätsel des frühen Aufwachens ist auch gelöst: ich habe Hunger! Der Körper verbaut das Abendessen sofort (gestern köstliche Lendchen Pariser Art mit Kroketten, zum Nachtisch Himbeertraum. M. wird später sagen, das sei alles direkt in meine Schenkel gewandert. Purer Neid!), nachts um vier knurrt mir der Magen.

Heute ist Disziplin. Fürs Anhalten muss schon was zusammen kommen. Nach dem Weg kann ich im Fahren sehen. Essen aus der Seitentasche des Rucksacks.

Aus Hofgeismar raus und rüber ins Weserland ist fast der schönste Abschnitt auf der ganzen Strecke. Es geht auch hier munter hoch und runter, auf schattigen kleinen Straßen mit entzückend wenig Verkehr. Wenig Möglichkeit, sich zu verfahren. Über den Feldern an der Weser liegt noch Dunst. Adelebsen, Bovenden. Ich umfahre Göttingen nördlich, spare mir die nächste nervige Innenstadt.

Über verlassene Anhöhen geht es Richtung Harz. Zwei kleine Katzen laufen im Gänsemarsch die Straße entlang. Ein Haufen Schafe, hübsch gestutzt und cremefarben wie vom Ikea Wühltisch. Ein Reh, das sich beim Näherkommen als Hase herausstellt, Riesen-Vieh!

Wulften, Hattorf, Herzberg. Allmählich verschieben sich die Relationen der Distanzen. Unter 50 Kilometer ist ein Schluck Wasser.

Bei Bad Lauterberg stelle ich fest, ich habe es wieder geschafft. Durch meine hektische Umplanerei kurz vor der Abreise (ogottogott, viel zu lange Etappen!) habe ich mir 20 Kilometer Bundesstraße eingehandelt. In den Harz hoch, Straße egal, denkste! Nach Braunlage zu hängen mir die Laster im Nacken, von oben walzen sie herab, Aussicht gibt es auch nicht. Steil wird es erst nach der Odertalsperre, was heißt steil, aber in den letzten drei Tagen habe ich bald 700 Kilometer in den Knochen, da ändert sich das Steilheitsgefühl.

Während ich da so vor mich hinkurbele, ist es plötzlich glasklar. Meist ist es doch so. Vorher willst du auf die Strecke. Währenddessen willst du, dass es vorbei ist. Danach willst du, es stünde alles noch bevor. In diesem Moment kapiere ich, alles passiert genau jetzt, und ich genieße jede Sekunde. Ausgerechnet an der häßlichsten Steigung!

121 km sind es in Braunlage, ist so gut wie unter 120, passt. Elf Teufelsberge von hier bis rauf auf den Brocken – Teufelsberge habe ich nach meinem Desaster im Erzgebirge wieder ins Programm genommen. Auf nach Elend!

Ziemlich zahm geht es los, kurz ein bißchen steiler, dann noch Schierke, durch den Wald, gemächlich. War das schlau jetzt? Hätte ich lieber die restlichen 65 zum Hotel rollen sollen? Wo kommen die Höhenmeter? Der randonneurdidier hat es gerade erst beschrieben, beim 600er-Brevet (600 Kilometer am Stück! Und dann fährt der Mann noch mit dem Rad nach Hause!!), wie war das noch? Drei 10-Prozent-Rampen, aber wo? Egal, ich fahre Kompakt, da geht eigentlich fast alles.

Die Kilometer zum Gipfel schwinden, die Höhenmeter nicht. Die Rampen kommen, keine Sorge! Noch 3 Kilometer, es will einfach nicht weniger werden. Tritt für Tritt jetzt wieder. Ich freue mich so ungemein darauf, wenn ich erst wieder mit M. fahre. Ich sage hiermit ja zu jeder Kaffeepause!

Da vorne schiebt einer. Nein, das kann ich dem Jaegher nicht antun. Denk‘ an schlimmere Berge, denk‘ an… mir fällt nichts ein. Der Bürostuhl! M.s ewiger Lackmustest. „Willst du jetzt lieber im Büro sitzen?“ Solange die Antwort nein ist… Meter um Meter geht es irgendwie voran. Schleppend. Noch eine Kurve. Und da vorn, die Gebäude sind zu sehen! Da oben sollte ich sagen. Noch zwei Teufelsberge. Zieeeh!

Und dann Ankunft. Zwei Radler, sie haben mich mehrfach überholt in der Anfahrt, Karte gelesen, wieder überholt. Wir lächeln uns erschöpft an. Die Aussicht ist fantastisch. Das habe ich nicht erwartet. Es ist Viertel nach Vier, ich sollte mich auf den Weg machen. Ich mag mich nicht losreißen.

Rasante Abfahrt bis Aschersleben dachte ich mir, Fehlanzeige. Der Harz ist schon 30 Kilometer vorher zu Ende. Ein Stückchen geht es auch wieder hoch. Nach 190 Kilometern ist innerlich Schluß.

Quedlinburg. Morgenrot. Hoym. Noch 20 Kilometer (Schluck Wasser, ja ja!), schnurgerade Strecke, todlangweilig! Ich habe keine Lust mehr. Ich lungere herum. Absteigen, das Gepäck richten. Das Problem ist, du musst schon fahren, sonst kommst du nie an.

Nach dem Ort eine Tankstelle, ich kaufe eine Fanta, Gummibärchen, die ich mir händeweise  in den Mund stopfe. Licht anmachen. Ist da noch irgendwas auf dem Weg, woran ich mich festhalten kann? Rechts sieht es nach einem Gewässer aus. Ah, Tagebau. Kann ich M. erzählen, doch was gesehen. Dann eine Autobahnüberfahrt. Dann queren wir einmal Bahngleise. Halleluja, hier wird einem was geboten!

Ich versuche es mit schnellerem Fahren, aber da kommt nicht mehr viel. Leer.

Ein Auto rast heran, mitten auf der zweispurigen Straße, „Nebenstrecke“ nennen die das, ich schmeiße mich fast in den Graben. Ascherslebener, in dreißig Sekunden auf Platz 1 meiner Charts der schlimmsten Autofahrer gestürmt, Rekord! Ich bin zu kaputt, um mich darüber aufzuregen. Meine Mutter müsste her, niemand kann Autofahrer so gut beschimpfen wie sie. Bin ganze zweihundert Meter weiter.

Die allerletzten Sprüche vom Coach kommen mir in den Sinn. „Es ist nicht mehr weit! Jetzt geht‘s nur noch bergab!“ Unendliche Male gehört in diesem Trainingslager namens Kindheit. Plötzlich muss ich lachen wie bescheuert.

Ich weiß nicht mehr, wie es weiter ging. Das ist keine Trance mehr, kein Delirium, das ist Koma. Irgendwann stehe ich am Ortsschild Aschersleben, die Etappe ist durch, 217 Kilometer, noch mal fast 3.000 Höhenmeter, das ist mir heute ein Foto wert.

Zimmer zum Garten mit Pool, ein Bad wie ein Wellness-Tempel, feiner Geruch nach Sauna und frischer Wäsche. Ich habe es über die Berge geschafft. Zum ersten Mal glaube ich, dass ich tatsächlich bis Berlin kommen könnte. Wenn nur morgen nicht so üble Unwetter angesagt wären.

Während ich durch den Ort irre, auf der Suche nach etwas Essbarem, mißtrauisch beäugt aus dem Auto eines privaten Sicherheitsdienstes (deswegen rasen die so – man kann hier nur weg wollen!), telefoniere ich mit M.

„Wenn es morgen regnet, steige ich in den Zug“, sage ich.

„Ganz bestimmt“, sagt der.

Tag 3 auf Komoot: Kürten – Hofgeismar, 207 km

Tag 4 auf Komoot: Hofgeismar – Braunlage und Braunlage – Ascherseleben, 217 km

Der lange Weg nach Osten, Teil III

Der lange Weg nach Osten, Teil I