Dicke Tropfen fallen in den Pool vor meinem Fenster, als ich aufwache. Es schüttet. Es ist der letzte Tag. Ein Blick in den Ganzkörperspiegel verrät mir, warum die Jeans immer noch nicht schlackert. Ich hab einen Steiß wie Usain Bolt!

Frühstücken ist endlich mal entspannt. Ich esse nur, was ich runterbekomme. Dabei gibt’s einen Haufen leckerer Sachen, Kuchen, Lachs, Eier. Dabei hätte ich Zeit, denn es regnet.

Im Hotel hat es sich herumgesprochen, dass ich in einer seltsamen Mission unterwegs bin. „Machen Sie heute wieder eine Radtour“, fragt die Dame mit der Kaffeekanne. „Wo geht’s denn hin?“ – „Nach Berlin!“ – „Aber doch in mehreren Tagen!“ – „Nein, heute!“ Sie blickt mich fassungslos an. „Da haben Sie sich aber kein gutes Wetter ausgesucht!“

Regenwahrscheinlichkeit Aschersleben 90 bis 100%, Regenwahrscheinlichkeit Berlin 90 bis 100%. Ach was. Glaub ich nicht dran. Hab dem Schutzheiligen der Rennradfahrer gestern am Brocken mein rechtes Knie geopfert. Das muss helfen!

Das Jaegher durfte drinnen unter der Treppe übernachten, keine fünf Meter weit von meinem Bett, konnte es sich schon mal dran gewöhnen. Es rattert ein bißchen, ist voller Sand, aber es wirkt immer noch angriffslustig.

Pünktlich zur Abfahrt macht der Regen Pause. Schon mal gut!

Wieder schnurgerade Strecke. Heute gewollt und mit Rückenwind. Die 3 vorne auf dem Tacho, mit Karacho zur Elbe, juhu! Wenn ich nur halbwegs trocken bis zur Fähre käme. Wenn ich da nicht nass herumstehen müsste und kalt werden.

Um mich herum sieht es schon ganz nach Brandenburg aus. Flach, leer, brüchiges Pflaster in den Ortsdurchfahrten. Komoot kommt hier gut klar. Vor mir ballen sich dicke Unwetterwolken, hinter mir verdunkelt es sich. Kein einzelner Sonnenstrahl fällt von oben nur auf mich, aber so fühlt es sich irgendwie an.

Elbweg-Radler kommen entgegen, in Regenponcho, mit Hut, ich in kurz-kurz mit Überschuhen. Nass vor allem von unten, aber es ist angenehm mild.

Locker unter zwei Stunden bei Barby an der Elbe, gar nicht breit ist die hier. Muss an den Rhein denken, vor drei Tagen, es kommt mir vor wie ein halbes Leben. Schön ist das, die Flüsse als Markierungen der zurückgelegten Strecke. Der Fährmann, so ein junger netter. „Ganz schön übles Wetter zum Fohren“, sagt er. Bin ja wieder im sächsischen Sprachraum. „Wird einem aber warm von“ sage ich. „Da müssen Se aber ganz schön strombeln!“ Yeah, Baby, darum geht’s!

Allmählich komme ich der Wolkenbank näher, fahre eine Zeit an der Kante, Regen links von mir, rechts nichts. Das Jaegher quietscht. Der Rücken schmerzt. Das Knie ist kaputt, lang lebe das Knie! Und trotzdem. Eigentlich will ich gar nicht, dass das hier schon endet. Diese großen Sommerferien auf dem Rad. Was Frisches anziehen, an einem Tisch essen? Überschätzt! Wenigstens hat M. Speck-Pasta versprochen.

Bei Zerbst schüttet es richtig, Zeit für einen Stop in der Schloss-Konditorei. Pikierter Blick angesichts meines Aufzugs, dabei lege ich extra die Regenjacke unter auf dem gepolsterten Stuhl. Ich blicke dafür pikiert auf den Latte, der mit Strohhalm serviert wird. Kaum traue ich mich aufs Klo, will das Jaegher vorm Fenster nicht aus dem Blick lassen.

Schauer jetzt, aber egal, die ersten 100 fast trocken geblieben. Meilenstein Klein Glien: Der erste Ort, der mir bekannt vorkommt. Nur noch zweistellige Kilometer! Gänsehaut!

Bad Belzig, Brück, Beelitz, diagonal nach Nordost, wie mit dem Lineal gezogen. Auf verschwiegenen Radwegen geht es durch den Wald. Das Jaegher und ich schnüren dahin, die letzten Gummibärchen verglühen.

An einem Naturlehrpfad will ich Pause machen, das Jaegher noch mal schick in Szene setzen. Ich lehne es an ein schmuckes Holzhäuschen auf Stelzen. Etwa 100 Schnaken schwirren heraus, Insektenhotel, huch! Mit ungebetenen Gästen. Es piekt und sticht ab Sekunde eins. Lasst ab von mir, mein Blut ist längst geschröpft! Mit Streuselbeinen in Berlin einfahren, super.

Noch 60 km, Hausrunden-Portion! Keine schönen 60, hab auch hier geglättet, es geht ums Ankommen an diesem vermeintlichen Regentag. Malerisch am Schwielowsee, Caputh, Ferch, braucht heute niemand! Bundesstrasse entlang, auf dem Radweg bei Michendorf. In einer dieser menschenfeindlichen Kurven hängt der Matsch unter den Bäumen, ich seh‘s nicht, bremse, rutsche, ka-wumm!

„Irgendwo Blut?“ frage ich die entgegenkommende Radfahrerin, die erschrocken angehalten hat, während ich das Jaegher untersuche. Sie betrachtet die Schlammschicht, die meine linke Körperhälfte bedeckt. „Nichts zu sehen!“ Tut auch nicht weh, nur kleine Kratzer an austauschbaren Teilen wie Bremse, Schnellspanner, Haut.

„Solche Kurven gehören auch verboten!“ Na, davon kann ich berichten! Was ich unterwegs alles gesehen habe. Radwege, die zwei Meter nach dem „Anfang“-Schild im Nirvana endeten. Oder über kleine Holz(!)brücken hin und her über einen Bach kurvten (!!), beschildert mit „Rutschgefahr“ (!!!). Soll das Comedy sein?

Ein kleiner Schreck bleibt, ich stehe erst einmal rum und reibe mir mit den letzten Taschentüchern den Matsch ab. (Die auch noch verbraucht!) Muss nicht sein, dass jetzt noch was passiert, auf den letzten Kilometern. Bin doch etwas müder als gedacht.

Gemäßigt weiter. Potsdam! Noch 35 Kilometer, Mini-Hausrunde! Ein Unwetter tobt über der Stadt, gerade als ich einfahre. Ich halte an, stelle mich an die windgeschützte Fassade eines Bürogebäudes. Das Wasser stürzt vom Himmel, Blitze, Donner.

Drinnen sitzen welche vor ihren Rechnern bei der Arbeit. Habe ich Montag auch wieder vor mir. Andere Welt, ach was, Universum! Irgendwann nach der Verzweiflung und Gary Moore lande ich immer bei altdeutschem Liedgut. „Ich möchte so gerne blei-ei-ben, aber das Jaegher, das rollt!“ Und die Zeit eben auch.

Drei Kilometer weiter, Glienicker Brücke. Das Ortsschild Berlin, auf einmal ist es vor mir! Und da ist jetzt kein Halten mehr. Das Wasser läuft mir in Strömen übers Gesicht, es kommt nicht von oben!

Eine ganze Weile stehe ich herum, finde keine perfekte Pose für das Rad und schluchze Geschke-mäßig vor mich hin. Einfach unfassbar, dass ich angekommen bin. 970 Kilometer! Nach ewigen viereinhalb Tagen tatsächlich, wirklich zuhause!

… Fast. Ein paar Minuten und eine Cola sind es noch bis zur Krone. Angeblich meist gefahrenes Strava-Segment des Landes, Laufsteg für Rapha, Assos und BMC, Paradeplatz des Berliner Rennrad-Zirkus. Zeit sich zu sammeln.

Heute, wetterbedingt oder in Anbetracht des bevorstehenden Velothons, keine Canyons  oder Kuotas zu sehen. Erst auf der Bismarckstraße überholen uns zwei ganz Schnittige, die Meldebeutel auf dem Rücken. Das Jaegher nimmt sogleich Spur auf.

Genug jetzt mit dem Rumgezuckel, findet es. We are ready to hunt!

Letzter Tag auf Komoot: Aschersleben – Berlin, 189 km

Alle Touren der Strecke auf Komoot: Ruiselede – Berlin

Der lange Weg nach Osten, Teil I

Der lange Weg nach Osten, Teil II

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Das Jaegher und ich waren zu zweit unterwegs, aber deswegen noch lange nicht allein. Meine Eltern haben daheim vor ihrem Autoatlas mitgefiebert, etwa stündlich alle verfügbaren Wetterdienste konsultiert und Orte in Deutschland kennenlernt, von deren Existenz sie nie zuvor gehört hatten.

M. hat mich in der Umsetzung bestärkt, auch wenn er meine Etappen gesponnen fand, hat drauf geschaut, dass ich mich trotz lähmender Nervosität einigermaßen ums Material kümmere, und ist natürlich sowieso immer dabei.

Die wenigen Freunde, denen ich von dem Plan erzählte, waren begeistert und ließen keinen Zweifel aufkommen, dass das eine tolle Reise würde, und sie haben sowas von Recht behalten! Allen voran mein lieber Ex-DDR-Schwimmkader-Kollege A., der als Meteorologie-Fanatiker am Ende den Startschuß gab mit seiner Aussage, das Wetter sei stabil. Hm! Im Großen und Ganzen ist es ja aber gut gegangen.

Es waren auch einige Menschen am Gelingen beteiligt, die ich gar nicht persönlich kenne.

Die Materialseiten vom randonneurdidier haben mir vor Augen geführt, dass ich für eine Nachtetappe nicht gerüstet bin. Meine Mama wird hierfür sicher ewig dankbar sei! Ein wildfremder Mann namens Tom aus dem Rennradforum hat mir eine Route über den Harz geplant und mir sogar ein Bett angeboten. Beides habe ich am Ende nicht genutzt, aber trotzdem fand ich das unerwartet hilfsbereit. Durch Jochen Kleinhenz kam ich auf die Idee, die Route als Backup auf analogen Karten mitzunehmen. Ich hätte damit niemals in der nötigen Geschwindigkeit navigieren können. Aus den Karten die benötigten Streifen herauszuschneiden (ca. 4 Meter x 15 Zentimeter!) war aber eine nette Bastelei.

Und schließlich habe ich mich über die guten Wünsche, Kommentare und das Teilen sehr gefreut. Es war ein großer Spaß, die Tour im Schreiben nochmal zu erleben. Und obwohl ich sehr gern allein unterwegs bin, ist es ein schönes Gefühl, wenn andere beim Lesen im Kopf oder sogar im Herzen mitrollen. Danke dafür!