Früh aufstehen ist eigentlich meine Sache nicht, aber wenn ich um 3:40 Uhr geweckt werde, um eine Radhose unter die Jeans zu ziehen, mit der Aussicht darauf, bereits vor 10 Uhr am ersten Berg zu hängen, dann tanze ich schon mal vor der Dämmerung glücklich durch die Wohnung.

M. verdreht nur die Augen, einmal Kaffee bitte, und eine Stunde im Flieger schlafen.

Auch das Wetter kapriolt vor sich hin. Hochsommer und bis zu 30 Grad, ausgerechnet Samstag und Sonntag geht es runter auf 12 und Regen.

Der Coach holt uns am Flughafen Basel-Mulhouse ab, wo man sich noch vage verabreden kann („geht einfach auf der französischen Seite raus“). Er hat die Räder an Bord, Werkzeug, Standpumpe und Apfelsaft, bei Guebwiller werden wir auf die Strecke entlassen. Route de Vin, ab Cernay die Route des Cretes, hoch über den Grand Ballon auf die Gratstraße mit den schönen Aussichten, rechts ins Elsaß, links nach Lothringen.

Die Räder: Wir sind mal wieder auf Antiquitäten unterwegs. Meins ist das Kromer, Familienerbstück von meiner Mama, ungefähr Jahrgang Verago, ich vergesse immer, wie himbeerrot und schön und fahrbar es ist, vor allem bergab. Wo das Verago mit seinem schmalen Lenker den störrischen Esel gibt, da ist das Kromer, trotz seiner Jahre, ein kleines mutiges Rennpferdchen.

M. fährt ein silbernes 2-Danger, Aluminium-Rahmen der Marke B.O.C., Selbstaufbau vom Coach, diesseits der Jahrtausendwende, quasi Moderne. Der punkige Touch, die schwarzen Totenköpfchen auf dem neongelben Lenkerband, ist einer Terpentin-Wäsche zum Opfer gefallen. Ich weiß nicht, wie der Coach zu solchen Dingen kommt. (Am Abend wird er uns ein La Vie Claire-Jersey aus den alten Zeiten präsentieren, das ist innen noch mit Frottée. Das dürfen wir aber nur anschauen.)

Wir fahren bergauf, Col Amic, Steigung durch den Wald. Die Schaltung am Unterrohr ist nach gut zwei Monaten Jaegher (erst?) mehr als ungewohnt. Wieder und wieder versuche ich, den Bremshebel nach innen zu schwenken. Auch fällt mir erst nach einer Weile ein, dass man naturgemäß weniger Ritzel links übrig hat, wenn insgesamt nur sieben statt elf zur Verfügung stehen.

Dafür sind gut ausgeruhte Beine etwas Wunderbares. Die Straße arbeitet sich zügig unter mir weg. Ohne Angabe darüber, wie schnell, wie frequent – der Computer ist noch nicht am Kromer, und spontan beschließe ich, dass er auch die nächsten Tage weg bleibt. Wie schön, einmal nicht an Zahlen abzulesen, wo man steht und wie man fahren sollte, sondern nur nach Spaß, Kraft, Hunger und Schmerzen unterwegs zu sein!

Die Gegend: Dunkler, kratziger, ursprünglicher als etwa das saftig grüne Allgäu oder unser friedlich flaches Brandenburg mit seinen geordneten Baumreihen. Heidekraut, Tannenbäume, wildes Gestrüpp. Die Anstiege nicht zu lange, geduckte Berge, durch die sich endlos einsam schmale Straßen mit anspruchsvollen Prozenten ziehen. Der Coach kennt sie alle.

An der Passhöhe des Grand Ballons haben wir einen unwirklichen Fernblick, wählen das wettergegerbte Chalet Hotel statt des hässlichen Neubaus. Kaffee, Kuchen, Frieden. Wie schnell man weg sein kann von allem.

Die Tage und Touren verschwimmen: Fahren, Essen, Ausruhen, es scheint nur diese drei Zustände zu geben. Und Einkehren als vierte Dimension. Habe es M. versprochen, und es ist kalt und nass, öfter fliehen wir vor einem heranziehendem Regenguss unter eine Markise, an einen Brasserie-Tisch.

Das feine Gespinst familiärer Verschränkungen. Mama seit zwei Tagen unablässig in der Küche, und dann isst M. keinen Nachtisch, schmeckt es ihm denn nicht?, ich sehe das lautlose Fragezeichen über ihrem Kopf.

Der Coach gibt uns tausende Details, wie den einzigen Brunnen auf der Strecke, den wir hinter dem kleinen Klohäuschen links am Hang finden werden, dort wo die Straße bei St. Marie enger wird, oder der kleine Abzweig, ganz unscheinbar, direkt in der scharfen Linkskurve. Kondensat aus fünfundzwanzig Jahren Touren durch die Umgebung. Wer kann sich, ortsunkundig, das alles merken? Nicht ungeduldig werden. Atmen und fahren.

Die Cols, unzählige. Col de Calvaire, Col de Sainte-Marie, Col du Pré de Raves. Col de Mandrey, Col de Bagenelles, Col de Feignes. Col de la Schlucht. Gesprochen französisch „Schlücht“, wie bildhaft. Ein halbes Leben ist es her, dass ich hier gefahren bin, und doch scheint die Abfahrt noch in Fleisch und Blut, meine ich, mich fast blind in die nur angedeuteten Kurven legen zu können. Oben auf der Route des Cretes ähnliches Spiel, unbekannt und doch vertraut.

Col du Bonhomme, wo wir vor Regen und Kälte in ein Restaurant flüchten. Auf 1.200 Metern hängt düsterer Nebel, frieren die Füße in den dünnen Sommersocken, hat das vom Aufstieg nasse Trikot den Körper unangenehm abgekühlt. Im trüben Licht ist es fast schwarz unter Bäumen, deren Wurzeln sich an den kahlen Abhängen oberhalb des Weges festklammern. Ein stiller zeitloser Kampf, macht die eigenen Themen nichtig.

Bei Steak frites, Salade de Relais und heißem Tee sehen wir zu, wie Sturm aufkommt. Müssen wir da wirklich wieder raus? Ein Schleichweg nach Hause. „Fahrt hinten am Rutlin runter, wenn das Wetter zu schlecht wird!“

Unerwartet schön (und bei besserem Wetter) der Col du Bramont, ein fröhlicher grüner Buckel, enge kurze Serpentinen, man sieht sich ober- und unterhalb fahren, kann sich zurufen, aufschließen, fahren lassen und ist doch immer beisammen.

Dann der eigentliche Endgegner: Col du Platzerwasel. Dort habe ich mich einmal ahnungslos ins Aus gefahren. Dort habe ich Respekt.

Und dort, ausgerechnet, findet M. in einen Bergrhythmus. Er habe kürzlich so ein Video gesehen, ein Contador-Fan kommentiert dessen Fahrstil. „Der tanzt auf den Pedalen! Immer tanzt der den Berg hoch! Ich tanze jetzt auch!“

M. ist eigentlich gar kein Contador-Fan, M. mag Froome lieber, seit der ihm 2013 bei der letzten Etappe der Tour de France in Paris nett zugewunken hat, im Gegensatz zu den Kollegen, die blicklos in den Teambussen verschwanden.

Vielleicht liegt es auch an dem belgischen Jugendteam, was uns ein- und überholt und die Testosteron-Produktion anregt. Diese handtuchschmalen Jungs sind so schnell, dass sie bereits am Horizont verschwinden, bis ich erst mein Handy aus der Trikotkrasche gekramt habe. Einer hängt am Begleitwagen und lässt sich hochziehen, das gibt M. die Sporen.

Dann tanz‘ du mal. Ich schnaufe daher wie eine Lokomotive. Der Platzerwasel, schwierig, ja. Aber dass er sich auch noch so zieht? Ganz fertig kriegt er mich nicht. Remis, befinde ich. Offen für einen dritten Satz.

Am letzten Tag bin ich allein unterwegs, M. hat genug Höhenmeter und möchte in einem Café ein Croissant genießen, mit Blick auf den See.

Den Chemin des Americains müsse ich unbedingt noch entlang fahren, beschwört mich der Coach. Ein wunderbares kleines Verbindungssträsslein, das auf halber Höhe zwischen dem Feignes und La Bresse hoch auf die Route des Cretes führt („am Tennisplatz links abbiegen!“). Es ist, wie ich später feststelle, nicht einmal auf Quäldich.de verzeichnet.

Stolz steigt es hinauf, sechs Teufelsberge auf vier Kilometern, am Wegesrand ein Wanderpfad, ruppig der Asphalt, trutzig die Bäume. Endlich Sonne, still läuft das Wasser an mir herab. Glühende Fäden in den Oberschenkeln nannte mein Bruder das, bevor er den  Sportarten des Elternhauses den Rücken kehrte (stattdessen: Kampfsport und Klettern, nicht weniger exzessiv).

Oben der Fernblick über den Lac de Kruth-Wildenstein bis hinten zum Grand Ballon. Die Wolken hängen reglos über mir. Ich kann noch nicht zurück, ich möchte immer weiter hier entlang.

Aber ich muss, Essen um halb eins, zum Flughafen müssen wir auch noch. Ich wende und habe zwei Radler vor mir, ein älterer und ein junger, dauernd sehen sie sich nach mir um. In den kleinen Gegenanstiegen sind sie nicht mehr so schnell, wer hier oben fährt, hat Höhenmeter hinter sich. Ranhängen will ich mich nicht, also überholen und Gas geben?

Als sie etwas trödeln, ist die Chance gekommen, direkt in den Anstieg hinein. Die haben ja angefangen. Let’s dance, es ist Bowie seit dem Platzerwasel. Ich tanze, als würde ich dafür bezahlt. Am ersten Tag war das hier doch nicht so wellig, wann kommt die verdammte Kuppe? Schwärze senkt sich von oben über mich. Da vorn, noch zwanzig Meter! Nicht nachlassen! Und nicht umschauen. Gut dass ich meinen Puls nicht sehe.

Am Abzweig zur Auberge de Kastelberg muss ich mich beinahe übergeben, kippe fast vom Rad. Kein Blick mehr für das schmalblättrige Weidenröschen, das die Böschungen in lebhaftes Pink taucht. In der weiten Kurve hinter mir dafür gähnende Leere, ha!

Selbst das flache Stück am Collet tut danach weh. Wann kommt endlich der Schlücht?

Mein Bruder meinte einmal, meine Sprache in diesen Berichten hätte etwas Martialisches, „ich stürze mich in die Abfahrt“ und so weiter. Ich sah nach, war mir sicher, das so nie geschrieben zu haben. Aber jetzt! Ich stürze mich in die Abfahrt vom Schlucht, diese fast gerade Strecke, wo man, These vom Coach, nicht bremsen muss, und es stimmt, und ich rase bergab, dass es mir die Haut platt drückt, juhu, juhu!!

Zum Abschluss Bratkartoffeln auf der Terrasse, dann die Autofahrt zurück zum Flughafen. Am Gate sitzen M. und ich müde, stumm, sehr zufrieden, und sehen auf der Landebahn den Sommer zurückkehren.

Regen und Kälte sind schon vergessen. Schön war es in den Vogesen!

Lieben Dank
–    an die Gastgeber für die ausgezeichnete Versorgung mit Rädern, Kalorien, Touren! Ich empfehle ernsthaft die Eröffnung eines Sportler-Hotels.
–    an M. für die Begleitung und die stets so treffenden Fotos.

Die schönsten geheimen Südvogesen-Tourentipps vom Coach auf Komoot, frisch Test-befahren:

Von Guebwiller über den Grand Ballon nach Grand Valtin

„Nette Runde am Sonntag morgen“ (heißt: alle Cols im Umkreis von 20 Meilen mitnehmen)

Platzerwasel mit Vorspeise (die Nachspeise fiel menschlicher Schwäche und gefrorenen Füßen zum Opfer)

Über Col de Feignes und Chemin des Americains

Wer weitere Tipps braucht, gern anfragen. Ich glaube, der Coach kann in den Vogesen mehr Strecken empfehlen als jemals ein Mensch fahren könnte. Man muss dann halt aber die Tennisplätze finden.