Wie schreibt man über etwas, dass am Ende so viel schlechter war, als ich es mir vorgestellt hatte, und gleichzeitig so viel besser?

Irgendwann im letzten Winter hatte ich gelesen, dass der ARA Standort München ein Superbrevet nach Italien ausruft: München – Madonna del Ghisallo – München. Superbrevet: ein Brevet über 1.200 Kilometer, hier mit 15.000 Höhenmeter, Zeitlimit 90 Stunden, komplette Selbstversorgung.

Die Eckdaten kaum machbar, aber die Idee so wunderschön. Einmal über die Alpen radeln, der Schutzheiligen des Radsports huldigen, und wieder zurück. Und diese Passnamen! Maloja, Brenner, Klausenpass. Will ich, PBP-Jahr hin oder her.

Aus dem geplanten vielen Üben ab Anfang des Jahres wird eher ein Stop and Go. Brevet, Erkältung, Brevet, Erkältung, Radurlaub, Sturz aufs Knie im Supermarkt, Brevet. Erst im Mai komme ich dazu, ernsthaft Kilometer zusammenzuradeln. Mainfrankengraveller, 400er und 600er Brevet im Abstand von je einer Woche. Frag deine Beine, was sie für dich tun können.

Die Fitness war also mit heißer Nadel gestrickt, dafür war ich vom Kopf her so gut vorbereitet wie vielleicht noch nie. Ich hatte die Streck seziert, mir Etappen zurechtgelegt, ich wollte das unbedingt. Ich freute mich sogar.

Foto: David D.

Zuguterletzt legt der Veranstalter noch sechs Stunden drauf, ab da besteht sowas wie eine reale Aussicht. Ich muss eigentlich nur jeden Tag 17 Stunden mit einem 18er Schnitt fahren, um genau auf die Kilometer zu kommen, erkläre ich M. Oder 18 Stunden mit einem 17er Schnitt.

Zum Start will ich erst nur mit dem anreisen, was ich auf dem Rad mitzunehmen gedenke. Dann entscheide ich doch, für danach ein Zimmer zu buchen und einen Rucksack mit Sachen im Hotel zu lassen. Die Frage der zweiten Radhose erledigt sich beim Probepacken von selbst. Ich habe einfach nicht genug Stauraum.

Die Bahn nach München am Freitagnachmittag zum Berliner Ferienanfang ist übervoll und fährt ab Nürnberg auch nicht mehr weiter. Vor uns auf der Strecke gab es einen Unfall, unser Zug wird dafür gebraucht, gestrandete Menschen zu evakuieren. Wir dürfen uns auf die kommenden Züge verteilen, und so erreiche ich die vorabendliche Zusammenkunft der Randonneure erst, als sie schon fast vorüber ist. Einer der Menschen am Tisch sagt, es müssten doch irgendwie mehr Frauen zum Brevetfahren gebracht werden. Einer der Organisatoren meint, dafür müsse man nichts tun, das geschähe von selbst. Oje, kein guter Einstieg. 

Start ist Samstag um 10 Uhr, das ist ungewohnt, ich könnte schon vier Stunden auf der Straße sein. Dafür war Zeit fürs Frühstück.

Am Wochenende soll es einen Hitzerekord geben. Nur knapp die Hälfte der Gemeldeten ist überhaupt erschienen, wie ich später erfahre. Als die Straßen ampelfrei sind, geht es zur Sache. Seit ich mal beim Tannheimer Tal-Radmarathon gestartet bin und im Pulk mit 40 km/h auf den ersten Anstieg zugerast, halte ich diese berggewohnten Menschen ja immer für außer Konkurrenz hartgesotten.

Ich halte mich an ein Grüppchen mit den einzigen beiden Frauen, die ich am Start gesehen habe. Mit Esther, deren Name ich aus der Facebook-Gruppe kannte, habe ich kurz gesprochen.

Wir rasen also über die ersten Kilometer. Das Wasser am Starnberger See ist durchscheinend himmelblau. Wie bescheuert muss man sein, jetzt auf dem Rad zu sitzen. Einziger Trost: es wird sicher bald sehr voll.

Als wir von der Straße in einen Radweg abbiegen, kracht es laut hinter mir. Einer ist mit voller Geschwindigkeit gegen den Poller gefahren. Wir helfen ihm auf, wollen einen Krankenwagen rufen, aber er steht schon, leicht gebückt, will unbedingt wieder aufs Rad. Ich werde ihn nicht mehr sehen.

Irgendwann holt uns ein weiterer Pulk ein, alles läuft zusammen. Hauptsache konzentrieren. 

In Kochel lasse ich das Feld fahren, seit Kilometern schon ist mir das zu anstrengend. Bin unschlüssig, ob ich in den Edeka soll (kostbare Minuten), kurz dahinter ist eine Esso. Hier kommt Wasser aus der Wand, ruft mir ein Fahrer begeistert entgegen.

Ab jetzt allein, und nicht mehr ganz frisch, als ich die kleinen Serpentinen zum Walchensee hochgurke. Der empfängt mich wie das reine Paradies, türkisfarbenes Wasser, ein bißchen kühle Luft. Über die Buckelwiesen bei Krün, wo meine Freundin A. seit gestern in Ferien weilt, noch könnte ich abbiegen, in den kleinen Anstiegen steht die Hitze nur so.

In Mittenwald halte ich mein strenge Pausenplanung nicht mehr ein. Ich will nur kurz nachfüllen am Bahnhof. Aber dann ist eine Schlange an der Kasse, ich habe beim ersten Mal nicht genug Getränke gegriffen, David kommt gerade angeradelt, und zur Toilette muss ich auch.

Danach ist der heiße Wind aus Süden so richtig spürbar. Der halbe Nachmittag ist vorbei, die Temperaturen steigen noch immer. Ich traue mich nicht, auf die Anzeige zu sehen, traue mich nicht, in einem Rutsch nach Telfs abzufahren. Meine Felgen sind so heiß, dass ich sie nicht anfassen kann, ich habe Angst, sie könnten durchschmoren. Im Supermarkt, dem letzten vor Landeck (und wer weiß wann man dort ankommt), nur Bananen und Brötchen. Meine Kinderschokolade für die Nacht kann ich bei dieser Hitze vergessen.  

Der Weg durch das Inntal am späten Nachmittag ist wunderschön. Mal schlängelt er sich das Tal entlang, mal leicht auf und ab am Rand. Es geht nie wirklich hoch, steigt nur ganz leicht an.

Aber dieser heiße Wind, der keinen Hauch von Abkühlung bringt, keinen Millimeter Raum zum Durchschnaufen lässt. Diese Hitze, die mich röstet. Jemand wird später sagen, es habe 39 Grad gehabt. Ich weiß nicht, wie oft ich meine Kappe, meinen ganzen Kopf unter einen Brunnen halte, das frische Wasser in den Flaschen gleich wieder seichte Brühe. Weiß nicht, wie spät es werden muss, damit die Hitze endlich etwas zurückweicht. Ich mache kein einziges Foto, ich versuche einfach nur weiterzukommen.

Bei Landeck, 185 Kilometer, steht ein McDonalds auf meiner Liste, will ich vor der Nacht einmal richtig speisen, bis Italien wird es nichts mehr geben. In der Ferne entdecke ich einen im gelben Trikot. Tatsächlich rollt David ebenfalls auf dem Parkplatz ein. Wir essen, decken uns mit Salz in kleinen Tütchen ein.

Und beschließen, zusammen in die Nacht zu fahren. 140 Kilometer Malojapass, 1.600 Meter zu klettern, mit allen Zwischenabfahrten. Eine Berg wie die Ewigkeit.

Im Dunkeln fahren wir über die Grenze zur Schweiz, das Tal wird enger und wieder weiter, gespenstisch beleuchtete Anlagen am Fluss. Ich habe alle 45 Kilometer einen Brunnen auf dem Zettel, mehr für den Rhythmus.

Noch um 24 Uhr sind wir in kurzen Sachen unterwegs. Obwohl es so warm ist, finde ich es ein bißchen unheimlich, dieser weite, weite Pass. Der Wind flaut nicht so sehr ab wie erhofft. Irgendwann bleibe ich einfach stehen, in der Schwärze, während Davids Rücklicht sich weiter und weiter entfernt.

Dieses schleichende Ansteigen. Es ist eine einzige Geduldsprobe.

In den Orten ist es gespenstisch leer, nur ab und zu laut Musik aus der Ferne.

Beim Brunnen-Stop in Zernez plädiere ich für eine Stunde Schlaf. Die Bänke vor den Häusern sind besetzt, Warnwesten reflektieren in der Dunkelheit. Am Ende des Ort heraus ist links eine Terrasse vor einem gewerblichen Gebäude, zugestellt mit Gartenmöbeln. Lichter gehen sofort an, als wir uns darauf zu bewegen, aber um uns herum bleibt es still, und wir richten uns für eine Stunde Schlummern auf der hölzernen Unterlage ein. Bevor mein Wecker geht packen wir schon wieder zusammen.

Eigentlich sind es nur noch 50 Kilometer bis auf den Malojapass, aber es zieht und zieht sich. Wir halten am Bahnhof in Zuoz, diese wunderbare Schweiz mit ihren sauberen öffentlichen Toiletten.

Es wird 5 Uhr, dann 6 Uhr, und bei St. Moritz wird es plötzlich doch noch steil.

Der Ort hat nichts vom Goldfinger-Glamour, den ich erwartet hatte. Ein paar altertümliche Hotels, die ihre besten Jahre hinter sich haben. Aber die Seen! Im goldenen Morgenlicht radeln wir andächtig die Silvaplana entlang. Erreichen tatsächlich endlich dieses Passschild, es ist kaum zu fassen. Blicken hinunter auf einen Haufen Serpentinen, angesichts derer wir beide nur noch blöd vor uns hin grinsen können.

Es folgt: eine der besten Abfahrten, die ich je erlebt habe. Nie so steil, dass man sich kaputt bremst. Immer so steil, dass man ordentlich Fahrt aufnimmt.

Wir rauschen bergab, bis direkt nach Chiavenna, wo es endlich Kaffee in einer Bar gibt, und Cornetto, und Fruchttörtchen, und Saft. Da wundere ich mich schon, wie viele Autos hier morgens um acht Uhr bereits am Kreisel vorbei fahren. 

Erst fahren wir noch hintenrum über einen buckleigen Restposten-Radweg. Als wir an ein Ufer gelangen, ist David enttäuscht. Das soll der berühmte Lago di Como sein? Aber wir sind doch erst am Lago di Mezzola.

Und dann landen wir irgendwie in vollem Verkehr. Ich kann gar nicht sagen, wann es anfängt. Vor uns Verkehr, hinter uns Verkehr. Auto um Auto zischt eng an uns vorbei. Heiß ist es auch schon wieder.

Immer wenn die Autos in einen Tunnel verschwinden, müssen wir die Straße überqueren, um den Weg außenherum am Seeufer zu nehmen. Natürlich ohne dass da irgendwas für Räder ausgeschildert wäre. Stattdessen an schlecht einsehbaren Stellen, wo nur das Dröhnen aus dem Dunkeln die nächsten Fahrzeuge ankündigt. Das gleiche Spiel am Ende des Tunnels, wieder und wieder.

Und das hier sind noch nicht einmal die 100 Kilometer, die in den Unterlagen als „verkehrsreich“ beschrieben wurden. Und es ist erst Sonntagmorgen. Was ist hier los?

Ich überlege, ob es daran liegt, dass ich eine Nacht nicht geschlafen habe. Natürlich bin ich verlangsamt, vielleicht schreckhafter. Aber ich bin inzwischen so viele Nächte durchgefahren, dass ich mir sehr sicher bin, es ist nicht nur das.

Irgendwann blitzt ein Gedanke auf, den ich im Vorfeld hatte. Wenn irgendwas dazwischen kommt, querst du rüber nach Bellinzona. Hauptsache die Schweizer Pässe mitnehmen. Zwischen Fahren und Halten legen wir auf Komoot eine Route an, und siehe da. Es ist gar nicht so kompliziert.

Die Entscheidung fällt mir trotzdem mehr als schwer, auch wenn ich mir sicher bin, dass ich das hier nicht will, dass mir das Risiko zu groß ist.

Irgendwann erreichen wir den Fähranleger – hoch zur Kapelle wollen wir ja schon noch – haben die Überfahrt gerade so verpasst. Es ist unfassbar, was hier los ist. Ausflügler, Busse. In der sengenden Hitze stehen wir an, als die Leute die Fähre verlassen. Das soeben verschlungene Eis ist schon verdunstet. Esther kommt angeradelt, ich frage sie, ob sie weiß, wie es drüben mit dem Verkehr weitergeht.

Ein Wasserhahn ein paar Meter den Berg zur Ghisallo hinauf, wir füllen alle auf. Ich lasse die anderen fahren, leere meine Trikottaschen, halte mein Oberteil unter das Wasser. Das habe ich noch nie gemacht. Es ist der absolute Nullpunkt. Bestimmt alle fünfzig Meter halte ich an. Es dauert eine Ewigkeit, bis ich oben bin. Ich kann mich nicht einmal groß freuen, dass ich zumindest das Zwischenziel erreicht habe. Ich gehe nicht einmal hinein in die Kapelle. Ich bin mehr als enttäuscht, ich bin richtiggehend sauer. Schreibe Nachrichten an ein paar Leute, denen ich das sagen kann.

Irgendwann machen David und ich uns auf den Weg, fahren den Berg wieder runter in Richtung Fähre. Verfransen uns prompt, als wir die Einbahnstraße umgehen wollen, die von Bellagio heraufführt, stehen plötzlich auf der falschen Seite der Landzunge. Ich will zurück, David die „Salita di Cappuccini“ hinauf, eine gepflasterte Treppe. Wir müssen die Räder tragen, endlose Stufen ohne Schatten, eine Kurve, weitere endlose Stufen. Zwischendurch schalte ich aus Versehen die Aufzeichnung ab, auch das noch. Die Luft ist sowas von raus.

Irgendwie gelangen wir zurück auf die Straße, fahren den Rest entgegen der Fahrtrichtung bergab, steigen hinter der Verkehrspolizistin schnell vom Rad. Die würdigt uns nicht mal eines Blickes. Es ist womöglich noch voller geworden, diesmal müssen wir nicht lange warten.

Auf der anderen Seite des Sees ein Stück die befahrene Straße entlang, von Menaggio aus einen Hügel hoch, Betonwüste, sengende Hitze.

Für ein paar Kilometer biegen wir ab auf einen Radweg, der nicht befestigt ist, dafür frei von Verkehr, um uns herum etwas kühlendes Grün. Am Lago di Piano mache ich mich an einem Restaurant unbeliebt, als ich nach einem Tisch frage, weil es offen aussieht, aber nicht ist.

Im Porlezza sehen wir eine Bar, setzen uns, bestellen ein paar überbackene Teile. Vor uns schallen Motorräder aus dem Tunnel, lärmen die Autos, selbst die Menschen um uns herum sind irgendwie alle laut.

Den Luganer See entlang zu fahren ist dann ähnlicher Horror wie am Comer See, nur dass wir diesmal mit den Autos in die Tunnel müssen, in denen es unglaublich laut dröhnt. An der Grenze zur Schweiz glauben wir, es hinter uns zu haben, aber es ändert sich nichts. Bei Canobbio verlassen wir endlich das Ufer. Dafür schmoren wir jetzt in den schattenlosen Anstiegen auf dem heißen Asphalt.

Körperlich habe ich mich irgendwann zwischendurch erholt, den Verkehr blende ich aus, bin in meiner eigenen Welt, wüte vor mich hin.

Aber dort kristallisiert es sich allmählich heraus. Irgendwie bis Bellinzona, irgendwie das hier hinter mir lassen, und dann in die Pässe und so weitermachen, als wär’s noch immer ein Brevet mit Zeitlimit. Hoffentlich ist dort weniger Verkehr.

David erzählt mir alle paar Minuten eine andere Idee, wie er die weitere Reise bestreiten will, so kommt es mir vor.

Irgendwo sitzen wir bei Fragola e Limone und reden. Es macht keinen Sinn, aneinander kleben zu bleiben. Zu verschieden sind die Fahrweisen. Noch gemeinsam bis Bellinzona, und angesichts des dichten Verkehrs sind wir beide froh darum.

Dort irren wir umher, finden das Hotel nicht. Im angeschlossenen Restaurant sind die Nudelportionen für 20 Schweizer Franken winzig. Die Tanke, an der wir uns beide noch für den Morgen eindecken wollten, hat inzwischen natürlich geschlossen.

David streckt mir mein Zimmer vor, ich ziehe uns mit meinen Schweizer Münzen ein paar Kräcker und Trollis aus dem Automaten.

Im Zimmer: Einmal alles ausbreiten, Sachen waschen, duschen. In dieser Hitze wollte ich also vier Tage mit der gleichen Radhose fahren. Welches Schweinderl hättens denn gern? Frühstücksoptionen checken. In der Nähe ein Coop und ein Café im Gemeindezentrum, ab 7:30. Es ist sicher klug, früh zu starten, aber nach den drei Nudeln werde ich nicht ohne ein Cornetto losfahren. Und ein paar Stunden schlafen. Endlich.

Fortsetzung

Route bis zur Ghisallo

Lärmhöllen-Transfer nach Bellinzona