Als ich vor einiger Zeit das Rennradfahren wieder aufnahm, staunte ich, was sich alles verändert hatte. Eines der Dinge, die mich am meisten irritierten, waren die vielen Abkürzungen, die genutzt werden, um sich über Training oder Fitness zu verständigen. FTP und HIT, CPx und RPE, LSHR und VO2. Ich meine, wer hat denn für so etwas Zeit? Wann fahren die alle denn noch?
Früher gab es fürs Training nur eine einzige wahre und wirkliche Abkürzung: WAHHWO!
WAHHWO hat der Coach aus einer Zeit importiert, als noch alle großen Triathleten mit Vor- oder Nachnamen Scott hießen. Kurz und knapp besagt diese Methode, dass man, will man etwas Druck auf die Kette bekommen, nicht nur am Wochenende ordentlich fahren sollte, sondern auch einmal inmitten der Woche. Genauer gesagt, steht WAHHWO etwas großspurig für Wednesday Afternoon Hammerhead Workout (was euphorisch und animierend zugleich auszusprechen ist).
Mir kam es recht in der vergangenen Saison, als ich nach einem langen Winter zu Ende Mai für die MSR mit ihren 300 km sozusagen mit der Brechstange fit werden musste. Ich nahm dafür einen Urlaubstag und teilte diesen auf zwei Mittwoch Nachmittage auf. Gemeinsam mit den Wochenenden davor, dazwischen und danach kam so ein passabler, fast dreiwöchiger intensiver Trainingsblock zustande. Wie der Ex-DDR-Schwimmkader-Kollege A. nicht müde wird zu betonen: Wenn du schneller werden willst, musst du halt mehr und schneller fahren.
(Eine Weisheit, die ich neulich einmal wieder am Komoot-Neid-geplagten Kollegen V. probierte. Aus dem brach es geradezu heraus: „Darum geht es doch überhaupt nicht! Es ärgert mich einfach nur wahnsinnig, wenn Du diese Touren hochlädst! Aber tief innen, da empfinde ich Mitleid! Ja, Mitleid!“)
Jedenfalls, nachdem es im letzten Jahr gut funktioniert hat, standen auch diesen April zwei WAHHWO-Nachmittage auf dem Plan.
WAHHWO bei reif-gemäßigtem Aprilwetter:
Ich stecke eine halbe Stunde im Berliner Tagesverkehr, was sogleich Vorfreude auf hochsommerliche Touren mit Start um sieben Uhr am autoleeren Morgen macht. Als ich Baustellen und Staus hinter mir habe, wird es ländlich ruhig. Bei angenehmen 13 Grad und Sonne fahre ich die Schleife über Buckow mit seiner einsamen Serpentine. Menschen arbeiten im Garten oder führen Hunde und Kinder spazieren. Ein echter Urlaubstag.
Wieviel Hammerhead man sich im Ramen eines WAHHWO gibt, muss jeder für sich entscheiden. Bei mir geht es darum, mal fünf Stunden am Stück auf dem Rad zu sitzen, weil ich das an einem normalen Werktag nicht unterbekomme.
Auf keinen Fall darf aber die Strecke zwischen der Ortschaft Prötzel und der B158 fehlen. Prötzel kommt von Prügel, die ich hier jedesmal beziehe. Ein schnurgerader, leicht welliger Abschnitt, auf dem eigentlich immer heftiger Gegenwind herrscht.
Das stoische Treten über die abwechslungslose Strecke ist mir Training für Körper und Kopf. Keine der Wellen ist höher als 40 Meter, aber das kurzfristige Auf und Ab zersetzt mich. Längst sind im Kopf alle Worte durch Bilder abgelöst, oder umgekehrt. Ich falle durch Schichten von Gedanken, lasse Jahre vergehen, bevor ich auf die Uhr schaue. Es ist erst 10 Minuten oder 75 Kalorien später.
Immer mal wieder nehme ich mir vor, diesen Abschnitt bei einer Ausfahrt zweimal zu machen, aber spätestens wenn Komoot ansagt, „folge dem Weg dreizehntausend vierhundert Meter“, bin ich froh, wenn ich das einmal hinter mich bringe.
Mit den Kilometern steigt die Laune, der Arbeitsmorgen liegt in weiter Ferne, und zu Feierabend hin, da könnte ich tanzen auf dem Rad, wenn das mal möglich wäre.
WAHHWO bei pubertierendem Aprilwetter:
Die „Große Acht“ steht auf dem Plan. Diesmal bremsen allein die Wetterlaunen. Überschuhe anziehen, Unterhemd ausziehen, Mütze aufziehen. Sobald ich anhalte, scheint schon wieder die Sonne. Von anderen Radlern sehe ich heute nur Spuren: eine Banane liegt einsam mitten auf der Straße, zwei Bananenschalen zieren den Wegrand (oder jemand veranstaltet gewisse Experimente im Weltall).
Diesmal habe ich tatsächlich Rückenwind vor Prötzel. Prügel beziehe ich stattdessen von wiederkehrenden Hagelschauern, die in Sturmgeschwindigkeit über mich hinweg ziehen. Einmal fühlt es sich an, als würde ich mit spitzen Eisstückchen geradezu beworfen. Ich muss anhalten, weil ich unter meiner Schirmmütze gar nichts mehr von der Strasse sehe, das ist auch ein wenig gruselig.
Kurz danach, in einem Tannenwäldchen zwischen Sternebeck und Steinberg, kreuzen zwei kleine Rehe den Weg, keine 30 Meter vor mir, und beschleunigen erschreckt, als sie mich bemerken.
Das Verago zeigt sich währenddessen von seiner besten Seite. Es saust unter mir voran, frühjährliche Unruhe in Knie und Arm ist vergessen.
Der Hagel geht, der Radler trocknet. Allein die Füße sind klatschnass, kalt und taub. Das hatte ich erst kürzlich auf Sizilien zur Genüge. „Ist doch gut, wenn nasskalte Füße dich jetzt schon an Urlaub erinnern“, sagt M. später. Womit er unbedingt recht hat.
Bleibt die Frage, ob das nun etwas gebracht hat. Schwer zu sagen, so ohne FTP, CPx und LSHR. Aber Spaß hat es gemacht, und um das zu wissen, braucht es zum Glück keine Abkürzung!
28/04/2016 at 22:51
Sehr schöner Bericht. Kann ich sehr gut nachvollziehen :-).
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28/04/2016 at 23:10
Genau: ab und zu richtig beißen, und dann wieder locker lassen. Die Beine merken sich das und Schwupps, geht es beim nächsten oder übernächsten Male schneller als vorher. Trainingseffekt!!! Und da lag doch eine „volle“ Banane auf der nassen Straße. Wer die wohl von ganz oben runtergefeuert hat?!
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29/04/2016 at 14:02
Das ist mir jetzt schon mehrmals passiert, dass ich „volle“ Bananen auf der Straße liegen sah. Entweder fährt da ein schusseliger Mensch in meinem Revier, oder es kommt wirklich zu besagten Wurfversuchen!
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