Was ziehe ich nur an? Es ist 7:30 Uhr, die Trikots sind auf dem Sofa ausgebreitet. Rapha, zu vielversprechend. Das alte Gore-Teil, zu oft getragen. Das Soigneur-Jersey, zu eng. Ich vertage die Entscheidung auf später. Ich habe ja noch so viel Zeit!

7:42 Uhr, mit Kaffee und einer Ulle-nach-Hungerast-großen Schüssel Müsli setze ich mich hin und lese ein paar Mal den Rennbericht der Woche, um mich heiß zu machen. Käme ich mal mit dieser Greipel-Geste über die Ziellinie, der Coach wäre ja entzückt. Aber bei der heutigen RTF ist das vielleicht doch übertrieben.

Um 8:08 bemerke ich, das Verago ist von der letzten Ausfahrt noch völlig sandverkrustet. Mit Lappen und Teflon-Politur beginne ich zu wischeln. Wenn M. das sehen müsste, er bekäme umgehend Herzrasen. Nicht vor Begeisterung.

Der ruft 08:56 an, wo ich stecke, was unnötig ist, denn wir sind erst um 9:00 verabredet. Um 08:35 bereits ist das Verago halbwegs entsandet, und ich muss nur noch entscheiden, was ich anziehe, die Flasche füllen, die Route auf dem I-Phone speichern, die Reifen aufpumpen, Kaffee nachschenken, Zähne putzen und überlegen, was ich sonst noch brauchen könnte.

Es geht heute quasi erst mitten am Tag los, soll 19 Grad und Sonne geben. Ich lasse also den halben Hausstand, den ich sonst mit mir führe, zuhause und staune auf der Treppe, wie leicht das Verago ist. Nach einem Kilometer fällt mir auf, dass ich die Trinkflasche vergessen habe.

Fünf Minuten später haben wir einen Platten. Während M. den Schlauch wechselt, fahre ich zurück und hole Ersatz. Es ist mal wieder interessant, wie der Kopf so tickt. 180 km liegen vor uns, aber diese zwei in die falsche Richtung erscheinen mir mühsamer als die gesamte Distanz. Natürlich sind auch alle fünf Ampeln bis nach Hause rot.

Nach all der Rumzuckelei erreichen wir den Start in Berlin-Buch eine halbe Stunde verspätet. Wenigstens RTFs sind noch genau wie früher. In einer Turnhalle ist das Kuchenbuffet aufgebaut, das idealerweise die Vereinsfrauen zusammengebacken haben, man erwirbt für wenig Geld eine Stempelkarte und das Recht auf Bananen und Müsliriegel alle 30 Kilometer, und einer heißt immer Jockel. Jockel holt uns netterweise eine Standpumpe. Das De Rosa darf heute noch einmal zeigen, was es kann, bevor es vielleicht verscheuert wird.

Währenddessen schaue ich mir die anderen Fahrer an, die sich so spät noch am Start rumtreiben. Zwei Damen etwa, Rapha lachsfarben die eine, Assos schwarz-weiß die andere. Als „Frolleins“ werden sie von den etwas kötterigen älteren Vereinsherren in die Strecke eingewiesen. Ich mag diese Typen ja, die haben so etwas sportlerhaft Berührungsangstfreies. Und machen sich die Mühe, Hunderte Kilometer Strecke für uns auszuschildern. Ich meine, wer schafft so etwas, neben Arbeit, Leben und egoistischem Training?

Auch auf der Strecke geht es mit uns noch nicht so richtig ab. Etwas schleift am Hinterrad vom De Rosa, dann setzt Komoot aus, dann glauben wir, die erste Kontrolle verpasst zu haben. Die Beine sind auch noch misstrauisch. Aber die Sonne scheint, der Vormittag ist sowieso fast vorbei, eigentlich ist es egal.

Schließlich fahren wir auf eine kleine Truppe auf, drei Flachlandbrocken im Trikot des veranstaltenden Vereins, welche die „Frolleins“ im Schlepptau haben. Fünf Minuten lang bremsen wir hinten rum („Raus mit der Lusche da vorn!“ würde der Coach jetzt rufen), dann machen wir uns ans Überholen.

Es ist immer das gleiche mit solchen Gruppen. Quatschen und bummeln, bis einer von hinten kommt, dann fahren sie plötzlich. Fünf Kilometer später hängen sie uns im Nacken, überholen uns. Das Spiel beginnt von vorn, bis sie kurz darauf auf die 111km-Strecke abbiegen.

Unsere Runde führt im Norden in das Biosphärenreservat Schorfheide und im Osten bis an den Oderbruch. Wir sind hier öfter unterwegs und lernen doch einige neue Schleichwege kennen. Ein verschwiegenes Sträßlein, das nördlich um das nervige Bernau herumführt. Einen alternativen feinen Weg vom unteren Finow zum oberen durch den Wald.

Mit angenehmen Windverhältnissen geht es weiter flott voran, die 3 steht laufend vorn auf dem Tacho. Wie immer hasse ich die ersten 100 Kilometer, M. die Kilometer danach. Um den Werbellinsee herum bin ich schon in Trance, als ein Wildschwein aus dem Gebüsch bricht. Rechts in der Böschung stiebt eine ganze Horde erschreckt durcheinander; vier, fünf Erwachsene, bestimmt zehn Frischlinge rennen in die andere Richtung davon. Große Erleichterung. Mit unseren kleinen Luftpumpen hätten wir gegen ein paar wütende Hauer kaum etwas ausrichten können.

Ein Örtchen weiter stehen einige menschliche Frischlinge am Straßenrand herum, posen mit ihren bunten Mountainbikes. Es würde ihrem Testosterongehalt sicher gut tun, uns ein Stück zu begleiten, denke ich so bei mir. Meine Deutschlehrerin rief einmal bei uns zuhause an, wegen meiner Jazz-Dance-AG. (Vor vielen Jahren habe ich tatsächlich zarten Mädchensport gemacht.) Der Coach hielt sie mit ihrer rauchigen Stimme für den Sportlehrer meines Bruders und erklärte ihr, die Kinder sollten sich doch besser auf dem Bolzplatz richtig austoben. Vielleicht bildete ich es mir ein, aber ich glaube, danach schaute sie mich immer ein wenig barmherzig an.

K2 begrüßt uns mit „da kommen die Genußradler“. M. ist empört! Nach uns trifft nur noch ein junger Bursche ein, Triathlon-Aufsatz und schüchternes Lächeln. Er sieht aus, als würde er uns demnächst abhängen, stattdessen ist er froh über Mitfahrer, war er doch bisher allein unterwegs. Als wir uns im Wind abwechseln, ist der Burschi mit seinem breiten Schwimmerkreuz richtig brauchbar. Nach 10 gemeinsamen Kilometern biegt er jedoch auf die kürzere Runde ab. Inzwischen sind die ersten 100 aber durch, jetzt ist es ein Heimspiel!

Bei K3 treffen wir endlich auf ein paar Radler der großen Runde und müssen feststellen, dass es schwer in Mode gekommen ist, sich unter dem Helm ein Tuch um den Kopf zu binden, dessen Ende im Nacken herunter hängt. Das sieht (zusätzlich zu meist nur bedingt kleidsamen Radsachen) so bescheuert aus, dass eigentlich nur Il Pirata persönlich das tragen darf. Oder vielleicht noch Johnny Depp.

Über Gehrsdorf, Trampe, Klobbicke, Tuchen geht es zügig Richtung Ziel. „Für Frodo!“ rufe ich M. zu, meine aber eigentlich für den Kollegen V., unser Schnitt kann sich sehen lassen, den retten wir jetzt nach Hause! Nur der Orangen-Energietrunk hängt uns allmählich zu den Ohren raus.

Und dann erreichen wir auch schon wieder die Turnhalle. Die großen Gruppen haben den Pokal eingeheimst und den selbstgebackenen Kuchen aufgefressen. Wir sichern uns die letzten heißen Wiener und rollen gut gelaunt dem Samstag Nachmittag-geschäftigen Prenzlauer Berg entgegen, wo wir im bevorzugten Café in unseren nur bedingt kleidsamen Radklamotten noch ein wenig posen. Natürlich ohne Pantani-Tuch.

Die Beine jedenfalls haben heute Mut gefasst. So langsam wird das vielleicht was.

Distanz der RTF: 149 km (dazu gute 30 km An- und Abfahrtsgezuckel)
Höhenmeter der RTF: 1.180 hm.
Unterwegs auf der RTF: 5:38h. Reine Fahrzeit: 5:10h. Geschwindigkeit: 28,8 km/h.

Danke an die BSG Berliner Sparkasse, Sparte Radsport, welche die Veranstaltung organisiert hat. Tolle, gut ausgeschilderte Streckenführung, nette Helfer, leckere Schmalzbrote!

Tour auf Komoot