Der Radsportverein ESV Lok Schöneweide richtet eine RTF aus. Allein der Name! ESV Lok Schöneweide, klingt nach lauschigem Clubhäuschen auf einem verlassenen, überwucherten Gelände der Bahn, wo sich die Jungs heimlich nach dem Training treffen, um Isodrinks und alte Radsportmagazine zu tauschen. Vergnügt genug sehen sie aus.

M. ist begeistert, dass wieder einmal ein warmer, sonniger Kiezcheck- und Werkstatt-Samstag der Kunst des ausdauernden Kurbelns zum Opfer fallen wird. Die 20 km mit dem Rad zum Start reichen ihm kaum aus, um zum Besten zu geben, was es so alles zum Frühstück gab. Seit der Mann gelernt hat, dass man fürs Fahren essen muss, ist kein Verlass mehr drauf, dass der Knick nach 70 km kommt.

M. pflegt nämlich diese weit verbreitete männliche Unart des Losrasens, die ich schon dem Coach über die Jahre erst mühsam austreiben musste. Wie man in seltenen schwachen Stunden aus dem herauspressen kann, startete er nochmals allein beim Ötztaler, nachdem ich das Elternhaus und den Radsport-Dunstkreis verlassen hatte, und verheizte sich dort ohne Schrittmacher kläglich. Man muss dazu aber sagen, er fuhr mit dem Mountain Bike, bei näherer Betrachtung eine wirklich bescheuerte Idee.

Wir erwarten also eine RTF mit ungefähr 37 Startern hinter den besagten verwilderten Bahngleisen, und treffen stattdessen am Bernauer Sportforum auf bunte Massen.

Von BRC Semper bis RV Iduna, von Defekt 1902 bis Team Ritzelfresser, von Laktat 3 bis Mallorca 312 – Trikots aller nur denkbaren Radsportvereine, Veranstaltungen, Marken stehen in der Schlange zur Anmeldung, Hochprofilfelgen klackern neben alten Stahlrahmen, Waden glatt wie Kinderpopos oder wollig wie Fossy-Bär recken sich ins Bild, ich komme mir vor wie beim Kölner Karneval.

Als wir so beobachten, wie sich am Start in Position gebracht wird (wieso steht eigentlich überall, dass eine RTF kein Radrennen sei?), beschließt M., der seit dem Velothon 2012 nicht mehr in einem solchen Pulk gefahren ist, dass wir beim nächsten Mal lieber wieder zu spät dran sind.

Ich finde mich gerade ein in dem Gedanken, heute konzentriert zu fahren statt in der Luft herumzugucken, im Austausch gegen eine sehr annehmbare und mühelose Grundgeschwindigkeit, da zischt ein schwarzer Blitz an mir vorbei und macht sich auf den Weg an die Spitze des Feldes. Haaaaalt, will ich noch rufen, warte, es ist noch zu früh, das kostet zu viel! Aber da fährt der Mann schon, also nichts wie hinterher!

Links am Feld vorbei, immer hart an der Mittellinie, das geht ja noch irgendwie, das macht ja auch Spaß, alle zwanzig Sekunden fünf Mann überholen. Aber sich vorn halten? Gar bis zum nächsten Pulk springen, den wir nicht mal am Horizont erkennen können? Selbstmord!

Aber mitgegangen, mitgefangen, ich wollte ja unbedingt zur RTF, weit vor uns zwei Mannen, die aussehen, als könnte man sich da ran hängen, irgendwie ist auch Rückenwind, aber den haben die in unserem Rücken ja auch! Was mache ich hier überhaupt, noch nicht mal 10 Kilometer gefahren, der Puls hängt an der Decke, ich muss reintreten wie blöde, ach ja, ich wollte doch denken, die ersten 100 sind einfach, noch 20 Kilometer bis zur Kontrolle…

Irgendwie, ich weiß aber nicht mehr genau, wie, erreichen wir die besagte Vorhut, einer im Odlo-Jersey mit voll tätowierten Armen, tritt wacker vorn, der dahinter im Dreiländer-Giro-Trikot, die haben aber ein flottes Tempo, ranfahren, noch ein paar Tritte, rein in den Sog, atmen, atmen, Luft holen, atmen, ja, geht schon, ich hoffe nur, die wollen nicht so schnell wechseln, wollen sie nicht, Glück gehabt, danke schön!

Langsam schaltet die Lunge wieder runter, wir kommen in einen Rhythmus. M. geht mal vor, ich gehe vor, Dreiländer-Giro geht vor. Während ich gerade so über dessen breiten Hosenbund mit der Aufschrift „Puma“ sinniere und versuche, dies mit dem Löffler-Logo überein zu bringen, das ich seitlich an seinem Schenkel erspähe – trägt der etwa eine Unterhose? – zeigt M. an, dass er halten muss. Was, jetzt?!

Die Kurbel ist locker, wir stehen, in 30 Sekunden rauscht die gesamte Karnevalsprozession an uns vorüber, fast erwarte ich, dass sie uns mit Geltütchen bewerfen, Bützche und Alaaf, die schöne Tour selbst rauscht auch vorüber, wer hat schon einen 7er-Inbus dabei? Innerhalb der nächsten 30 Sekunden hält aber schon der Materialbegleitbesenwagen des ESV Lok Schöneweide an unserer Seite, was ein Service, ich sag ja, der Verein hat was!

Leider keinen 7er-Inbus, „hab ick ausjepackt, dit braucht ja keener!“, wir bekommen aber netterweise einen 6er geliehen, der gekippt ein klein wenig Festziehen erlaubt, zusammen mit einer Beschreibung einer kürzeren Strecke, denn mit einer losen Kurbel 150 Kilometer fahren, nicht so toll.

Kürzer? Hm!

Ein 7er-Inbus, stellt sich heraus, ist als Nicht-Standard-Ausgabe etwa so schwer aufzufinden wie eine vom Aussterben bedrohte Tierart. M. ruft an den Kontrollpunkten wie ein Büttenredner in die Menge, versammelt Mitfahrer um sich, spricht wildfremde Menschen an, die Samstag Mittags in der Garage ihr Auto warten. Radsportler und Oderbruch-Einwohner sind hilfsbereite und wißbegierige Menschen, einen 7er-Inbus hat indes niemand. Ein Baumarkt müsste her, aber den gibt es nicht in Gersdorf, Liepe, Hohenwutzen und wie sie alle heißen, die kleinen, stillen Orte.

Irgendwie sind wir inzwischen doch auf die 150er-Runde abgebogen, alle 10 Kilometer mit dem gekippten 6er Inbus die Kurbel nachziehen, später dann alle 5 Kilometer, es geht irgendwie. Mit unserem Stop-and-Go passen wir nicht mehr so recht in eine Gruppe, aber auf der extra Schleife für die 150 km, vorbei an den geduckten Häuser an der Grenze zum Nachbarland, und dann auf dem Deich die Oder entlang herrscht sowieso die meiste Zeit einsame Ruhe.

Das Verago macht dafür wieder Freude. So sehr die lang gestreckte Haltung über längere Distanzen auf die Arme geht, so erfrischend ist es, wie stoisch das Rädchen die buckeligen brandenburgischen Straßen, die Platten, den geschotterten Waldweg bewältigt. Auf einem Stück fiesem Pflaster gar, dass wir mit einer Gruppe entern, scheppert es munter durch die Mitte nach vorn, während die Besitzer der hochgezüchteten Rasseräder fluchend an den Rand fahren.

Bei Bad Freienwalde endlich das erlösende OBI-Schild. Minuten später tritt M. freudestrahlend aus dem Geschäft, „der letzte den die hatten!“, setzt (zum wievielten Mal heute eigentlich) das neue Werkzeug mit einem erleichterten „Aaah!“ an der schon lädierten Schraube an.

Nun könnte es flott zurück gehen. Allerdings ist über der Inbus-Sucherei das Essen in den Hintergrund geraten. Die Kontrollpunkte 3 und 4, die schon auf dem Hinweg als K 1 und 2 hergehalten haben, und welche die 150km-Fahrer qua Streckenführung zuletzt erreichen, sind ratzekahl gefuttert vom unerwarteten Ansturm der Massen. Ich bekenne mich mitschuldig, habe ich doch mit vor Unterzuckerung einfältigem Blick Leberwurstbrote und Bananenhälften in mich rein geschaufelt, während M. bereits leer lief.

Und viel dabei haben wir nicht, es ist doch der Sinn einer RTF, sich unterwegs verpflegen zu lassen. Die eiserne Ration, der zerknautschte Powerbar Vanille aus meinem Satteltäschchen, Geschmack von abgehangener Kamelle, musste bereits daran glauben.

So lassen wir zehn Kilometer vor Schluss erneut die Gruppe ziehen, in der auch unser Odlo-Mann vom Vormittag fährt, und gondeln die letzten Kilometer zurück zum Ausgangspunkt. Nach Hause wollen wir ja auch noch. Und um den Kollegen V. ein wenig auf die Palme zu hetzen, dafür reicht der Schnitt allemal.

Der kommentiert postwendend nach dem Hochladen. Manchmal frage ich mich, wie der eigentlich sein sonstiges Leben bewältigt, bei dieser laufenden Komoot-Überwachung. Würde er mal all die Zeit in ernsthaftes Fahren investieren, er hätte sich heute ein Strüßche verdienen können!

Distanz der RTF: 150 km (dazu 45 Kilometer Hin- und Rückweg)
Geschwindigkeit RTF: 29,1 km/h
Reine Fahrzeit RTF: 5:07 h
Fahrzeit RTF inklusive Kurbel nachziehen und Brote reinstopfen: 5:53 h

Von M. getrackte Tour auf Komoot zum Nachlesen der einschlägigen Kommentare des Kollegen V.

Danke an:
–    den Verein mit dem schönen Namen, für die Strecke, die Hilfsbereitschaft und die liebevoll angerichteten Leberwurstbrote, solange sie reichten!
–    alle, die für uns ihre Werkzeugtäschchen und -kisten nach einem 7er Inbus durchsucht haben.
–    die Dreiländer-Giros und Odlos dieser Welt für Windschatten und eine Fahrweise, bei der man sich trauen kann, im Pulk mitzurollen!

Website zur Veranstaltung

Nachtrag vom 01.06.: Der Coach gibt zu Protokoll, dass er besagten Ötztaler auf dem Mountainbike sehr wohl vor dem Zielschluß (wenn auch mit dem letzten Tageslicht) zu Ende gebracht habe. Als ob jemand daran zu zweifeln wagen würde.