Meine Mutter hatte ein Lieblingsbuch, das hieß „Die wunderbaren Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott“. Darin wird das Mädchen Dott aus der Prignitz von einer Blume verzaubert und für andere Menschen unsichtbar und reist sodann mit ihren Tierfreunden durchs Land. Mein Bruder und ich fanden das früher unendlich langweilig, aber in letzter Zeit muss ich öfter an diesen Buchtitel denken.

Das Jaegher ist fertig. Diel Vaanenooghe, übrigens der einzige Mensch im Rennrad-Metier, der jemals ordnungsgemäß zusammengezuckt ist, als ich meinen radsportlich vorbelasteten Nachnamen nannte, hat es zu Ende gebracht. Diejenigen, die sich nun erhoffen zu hören, wie es sich fährt, muss ich noch ein wenig vertrösten. Denn das Jaegher steht in Ruiselede. Und ich bin in Berlin.

Der Gedanke war von Anfang an da. So ein Rad, das darf man nicht einfach in eine Kiste packen und per Frachttransport verschicken. So ein Rad, das ist doch wie ein kleines wildes Tier. Das will in Freiheit dahin brausen, mit Wind und Wetter!

Die Idee ist also, nochmal nach Ruiselede zu reisen und das Jaegher nach Hause zu fahren. All die 900 Kilometer, ein Stück durch Belgien, einmal quer durch Deutschland. 907, um genau zu sein, wenn ich Komoot glauben mag.

Das übrigens hat mir zwar nach Eingabe von Start- und Endpunkt die Strecke angezeigt, war mit der weiteren Bearbeitung jedoch überfordert. Also Papierkarten gekauft, mit dem Zollstock eine Linie gelegt und, da ich um der Höhenmeter willen eher eine Delle als eine Gerade vorhabe, alle 32 Zentimeter per Lot nach Süden einen Ort zum Übernachten ermittelt (denn ich werde zwar viele Kilometer zurücklegen, aber die Sparkassen-Vorräume überlasse ich gern den Randonneuren!).

Und nun ist es fast soweit. Das bewährte Ränzlein steht bereit. Am Montag morgen nehme ich, wenn nichts mehr schief geht, einen Flug nach Brüssel, fahre mit dem Zug weiter nach Tielt und von dort aus mit dem Taxi nach Ruiselede. Oder ich laufe. Was auch immer!

Und jetzt? Fühle ich mich seit Tagen wie die Kugel, die in der Roulette-Schüssel herum flitzt. Schlaue oder beknackte Idee? Viel zu viele Kilometer oder angemessene Etappen? Easy peasy oder Größenwahn? Ich habe keine Ahnung!!

Ich weiß, ich kann mehr als 200 Kilometer fahren, auch allein. Ich komme mit Gepäck auf dem Rad zurecht und bin es gewohnt, an mehreren Tagen nacheinander unterwegs zu sein. Ich habe das alles nur noch nicht so oft kombiniert. Genauer gesagt: noch nie.

Aber irgendwie wird das schon werden. Hoffe ich. Und wenn ich tatsächlich Freitag Abend die Krone hinauf rolle, dann entweder direkt zur Mülldeponie, oder ich fahre, wie M. es vorschlägt, gleich weiter zur RTF bei Burg im Spreewald und esse den RK Endspurtlern das Kuchenbuffet weg!

Bis dahin müssen die allgegenwärtigen Ratschläge vom Coach helfen, aber ich werde sicher auch auf etwas zurückgreifen, was meine Mama mir vererbt hat. Mein Bruder hat mal beobachtet, wie die beim Frühstück aufstand, um den Tisch herumging und sich die Butter nahm. Als mein Vater anmerkte, sie könne doch auch etwas sagen, erwiderte sie, „ich mocht‘ nicht reden.“ Das ist meine Mutter, in wenigen Worten.

Der Coach hat das in einem seiner weniger charmanten Momente als „das Beste an ihr“ bezeichnet. Dazu müsste ich etwas länger nachdenken. Auf jeden Fall finde ich ganz hervorragend an meiner Mama, dass sie mich bei solchen Vorhaben unterstützt. Klein und still wurde sie, als sie davon hörte. „Gell, mir holen dich wenn nötig!“ war ihr einziger Kommentar, vermutlich entgegen aller Sorge, irgendein Rindvieh könnte mich über den Haufen fahren. Sie könne uns ja eh von nichts abhalten, sagt sie, aber das stimmt so nicht. Ihre Überzeugung, dass man – die notwendige Freiheit vorausgesetzt – etwas erleben soll, um zu leben, trägt mehr zu einem guten Gefühl bei, als sie denkt.

Wirklich seltsam dagegen fühlt es sich an, dass das Verago mich auf dieser Reise nicht begleiten kann. Vor ein paar Jahren kam es zum Vorschein unter einer schmierigen Staubschicht, die sich nur durch langes, vergessenes Herumstehen bilden konnte. Aus „das fahre ich, bis ich in spätestens sechs Wochen ein neues Rennrad habe“ sind inzwischen noch einmal viele tausend Kilometer geworden, bei denen wir es meistens ziemlich gut zusammen hatten.

Da muss das Jaegher erst einmal ran kommen. Die erste Gelegenheit für wunderbare Fahrten und Abenteuer ist da. Was bin ich gespannt!

Der lange Weg nach Osten, Teil I

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