Eigentlich fand ich „Everesten“ immer völlig unspannend. Du suchst dir einen passenden Berg, fährst den am Stück so oft hoch und runter, bis du Höhenmeter in der Höhe des Mount Everest (nämlich 8.848) gesammelt hast, und darfst dich dann in die Hall of Fame des veranstaltenden Clubs eintragen.

Bis ich vor ein paar Wochen dummerweise lese, dass der Frauenanteil in dieser Liste sehr gering ist. Sofort fühle ich mich berufen, das zu ändern, und sofort fällt mir ein, dass der Mann aus Erkner einmal Interesse bekundet hatte. Wegen der Pandemie und des erneut fraglich gewordenen 600er-Brevets auf den Jeschken in Tschechien finden wir auch umgehend einen Termin – noch ehe überhaupt die ersten Teufelsberge des Jahres, geschweige denn irgendwelche anderen Berge gefahren sind.

Und überhaupt, welcher Berg soll es sein? Ergebnisse von Strava- und quaeldich.de-Recherchen wandern durch den Chat. Der Anstieg soll nicht zu steil sein, nicht allzu viel Wiederholungen notwendig machen und mit dem Auto halbwegs erreichbar sein. Schließlich kommt das Gespräch auf den Hefekloßpass im Erzgebirge. Nach Berechnung eines halben Dutzend Varianten stellt sich der Streckenabschnitt von Wildenthal zur „Passhöhe“ und auf der anderen Seite hinunter bis zum Ortsende von Carlsfeld* und zurück als das knackigste Verhältnis von Hm und Km heraus. 10,5 Kilometer, 250 Höhenmeter, 36 Wiederholungen. Ich hatte auf einen längeren und etwas steileren Anstieg gehofft, aber viel besser als der Teufelsberg mit seinen 45 Höhenmetern. Und über die geringen Prozente bin ich nach 4.000 Höhenmetern bestimmt froh.

Komplett überzeugt, dass das Fahren an sich Spaß machen würde, war ich nicht. Aber die gemeinsame Planung nach all den kontaktarmen Monaten ist die sprichwörtliche Oase in der Wüste. Täglich diskutieren wir wichtige Fragen per Chat: Welche der fünf befragten Wetter-Apps sagt gerade keinen Regen voraus? Kann der geringere Rollwiderstand des 5000er die höhere Pannensicherheit des 4Seasons aufwiegen? Wie viele Bulletten möchtest du unterwegs? Vier Tage vor Abfahrt könnte ich mit meiner Sammlung an Vorräten den gesamten Super Berlin Express versorgen, der leider am gleichen Wochenende an Berlin vorbeiziehen wird.

Samstag morgen um 7 Uhr parkt der Wagen mit dem LOS-Kennzeichen vor meinem Haus. Ich laufe zweimal, bis ich das Rad und die fünf Rücksäcke und Taschen mit Klamotten, Verpflegung und sonstigem Kram nach unten geschafft habe.

Um 11 sind wir an unserem Berg, entscheiden uns nach einem motorisierten Streckencheck für den Parkplatz am Scheitelpunkt. Während wir unsere Sachen strategisch griffbereit hinter Türen und Kofferraum anordnen (noch zählt jede Minute!), steht da schon einer mit seinem Rad und erklärt uns, dass dort vorn eine gefährliche Linkskurve kommt (wissen wir) und er in diesem Jahr etwas ganz Verrücktes vorhat, nämlich den Ötztaler zu fahren (machen wir im Grunde jetzt gleich).

Um 11:41 Uhr drücken wir auf Start und lernen unsere zehneinhalb Kilometer endlich auf dem Rad kennen. Von Wildenthal herauf glattester Asphalt, im Mittelteil das steilste Stück, wo die Prozente ein paar hundert Meter zweistellig werden, auf der Abfahrtsseite ist der Asphalt ausgefranst.

Nach Carlsfeld runter weht uns der Wind scharf entgegen, noch mehr Schlaglöcher, dafür werden wir nach dem Wendepunkt quasi hinaufgeweht und müssen nur bei den drei paar kleinen Rampen zum Ortsende hin etwas mehr reintreten. Noch scheint die Sonne, es ist schwül und fast drückend, aber wir sind beide entzückt, dass wir zwei Durchgänge in unter einer Stunde (Michael) bzw. knapp darüber (ich) schaffen.

Einzig etwas frustrierend ist, Michael davonziehen zu sehen. Ich weiß, dass der mich sowieso stehen lassen kann, und dass am Berg nun mal das Gesetz des individuellen Tempos gilt. Trotzdem fühle ich mich lahm, frage mich, ob ich einen schlechten Tag erwischt habe. Bin auch von Anfang an irgendwie gefangen in unserem engen Parcours. Es fehlen ein paar Höhenmeter zu den errechneten 250, nach 4 Runden sind die 1.000 nicht ganz voll. Die große Rechnerei beginnt.

Die ersten zwei Stunden vergehen, nach der dritten treffen wir uns zufällig am Auto, Flaschen auffüllen, die nächste Banane.

Dann wird der Himmel auf einmal sehr dunkel, es tröpfelt und schauert, immer nur auf einer Seite des Berges, und so kurz, dass die Regenjacke nicht lohnt, Trikot und Schuhe auf der anderen Seite schnell wieder trocknen. In den Abfahrten sind die Schlaglöcher nun schlecht zu erkennen, Wasser spritzt in Mengen gegen meine Beine. Schließlich pladdert es völlig unkontrolliert los, in dicken Tropfen. Ich bin gerade auf dem Weg nach oben, im Nu steht das Wasser in meinen Schuhen.

Wir sind gerade rechtzeitig am Auto verabredet, um nach sechs Stunden die Eindrücke zu teilen, kommen von verschiedenen Seiten punktgenau den Berg hoch, ha! 11,5 Runden, quasi das erste Drittel ist geschafft, eine Zeit unter 24 Stunden scheint doch möglich. Lebensmitteln wandern auf die Vordersitze, Klamottenberge werden durchwühlt. Der Wagen verkommt zum Schlachtfeld. Die Pause gerät länger als geplant, wir beschließen, den starken Regen vorbeiziehen zu lassen. Ich wringe meine Socken aus, ziehe Butterbrottütchen darunter, damit meine Füße nicht so kalt werden, nehme die Beinlinge und ein langes Unterhemd.

Nicht verwechseln, wo man zuletzt war: Ich muss da runter, du dort. Die Wolken reißen auf, es ist doch noch schöne Abendstimmung, auch wenn die späte Sonne nicht mehr reicht, um meine Sachen zu trocknen.

Die nächsten Runden sind zäh. Zwar bin ich erholt und habe gegessen, dennoch zieht sich jede Auffahrt. Es wird eintönig, so eintönig.

Carlsfeld: Den Wendepunkt nicht verpassen. Früchte Häckl, Dr Dorflodn, „Physiotherpie“ Kerstin Ott (warum in Anführungszeichen?). Der Teichhäuselweg erscheint auf dem Garmin, in Wirklichkeit ist es die Carlsfelder Dorfstraße. Bäcker Schönfelder wünscht eine gute Reise. Ja danke und bis gleich.

Über die Kuppe, am Auto vorbei, runter nach Wildenthal, im steilen Stück bremsen, es ist einfach nur grün. Irgendwo Michael. Längst kann ich mir nicht mehr merken, wo wir uns das letzte Mal begegnet sind, am Anfang noch lustig winkend, langsam versteinern die Mienen. Im letzten Haus am Ort feiern sie irgendwas, Musik und laute Stimmen dringen auf die Straße.

Runde dreizehn, vierzehn und fünfzehn reihen sich mühsam aneinander. Fast wünsche ich mir Musik, das hab ich auf dem Rad eigentlich nie.

Trinke so viel wie nie, alle drei Runden brauche ich eine neue Flasche. Irgendwie kannst du nie einfach nur rollen, in der Abfahrt heißt es aufpassen wegen Schlaglöchern und nasser Straße. Und hochzu: Reintreten.

Dann, in der hereinbrechenden Dunkelheit, ist wieder alles anders. Die zähen Abschnitte verschwinden im Dunkeln, es zählt nur, was im Lichtkegel der Frontlampe erscheint.

Von Wildenthal hoch: Eine leere Schachtel Winston bahnt sich ihren Weg über die Straße, vom Wind oder einem der seltenen Autos angetrieben. Eine kleine Blindschleiche ist in der einen Auffahrt zu sehen und in der nächsten plattgedrückt.

Nach dem Abzweig bis zum Straßenschäden-Schild aus dem Sattel, ab der ersten Streugut-Kiste das größte Ritzel, bei der übernächsten Kiste runterschalten, die Schilder reflektieren das Licht der Lampen. Keine hundert Atemzüge bis zum Ende der langen Kehre. Etwas federt gummiartig über die regennasse Straße: ein Frosch.

Die Lichter in den Fenstern in Carlsfeld setzen neue Akzente, plötzlich sehe ich Häuser, die ich vorher gar nicht bemerkt habe. Freue mich jedesmal, dass ich nicht in den steilen Friedhofsweg abbiegen muss. Ein Blumenkübel voller Hortensien wie ein Geschenk am Wegesrand. Oben Laternen links, kurz aufstehen (gleich viel einfacher, als Michael einmal hinter mir ist), Laternen rechts.

Runde Nummer 18 euphorisiert mich (Hälfte geschafft!), ich nehme die 19 in Angriff, die 20. Halte kurz an, um endlich warmen Sachen anzuziehen und vor allem die trockenen Socken. Es hat immer noch elf Grad, aber es kommt mir viel kälter vor, die Luft so feucht, der Bach entlang der Straße.

Als ich wieder los will, kommt Michael angerollt für eine Pause. Okay, ich kann eine Runde gut machen! Erfreut breche ich wieder auf in die Nacht. Kriege diesen Verbundenheits-Flash, wo der Mitstreiter zu einem der besten Menschen auf Erden wird. Hält erfahrungsgemäß aber auch nicht allzu lange an.

An der Wildenthaler Party startet ein Auto mit krakeelenden Gästen in die Nacht. Die sehen mich, wenden und kommen hinter mir hergefahren. Erster Gedanke: Mist, warum macht Michael gerade jetzt Pause? Eine Männerstimme grölt hinter mir los, innerlich wappne ich mich schon. Aber dann bleiben sie zurück. Einmal durchatmen. Es nervt so, aber ich werde mich davon auf keinen Fall aufhalten lassen.

Winston, Blindschleichenreste, Straßenschäden. Streugut. Streugut. Streugut. Die laaaaange Kurve.

Lampe auf hell, gegen den Wind runter nach Carlsfeld treten, immer gerade noch knapp links am hochstehenden Gulli vorbei, Kirche, Bahnhof, Ortsausgangsschild. Wieder hoch. Früchte Häckl, Hortensie, Auto …

Und dann: kompletter Steckerzug. Von Wildenthal aus geht plötzlich gar nichts mehr, ich eiere durch das steilste Stück, bin unendlich langsam, bin leerer als leer.

Eigentlich wollte ich auf keinen Fall mehr für länger anhalten, das Losfahren in die Kälte nach einer Pause ist furchtbar. Aber es geht einfach nichts mehr. Gute 5.000 Höhenmeter und ich bin am Ende. Will nur noch im Warmen sitzen und in Ruhe ein Bulletten-Brötchen essen. Es ist kurz vor zwei, längst bin ich auch wieder raus aus der Zeit, die ich mir zwischendurch zurechtgelegt hatte.

Im Kofferraum finde ich das alkoholfreie Bier, so gut nach all dem Süßkram. Setze mich ins Auto, wickle mich in meine Daunenjacke (zwei Wochen Listen geschrieben, in der letzten Nacht ist sie mir eingefallen), trotzdem ist mir so kalt, dass ich zittere. Der Mitstreiter kommt angeradelt, sieht mich schlottern, stellt die Sitzheizung an. Meine ermatteten Erklärungen, dass ich nicht mehr kann (und erst recht nicht mehr will), wischt er irgendwie beiseite. Das sei doch immer mal wieder so.

Und tatsächlich starten wir irgendwie doch wieder in die Nacht. Die kurze Abfahrt zuerst; zitternd, wann kann ich endlich wieder in die Pedale treten. Aber Bier und Bulette haben ihr Werk getan. Runde 23 zieht dahin.

Auf dem Weg nach oben sehe ich Michael nicht mehr. Wann hätten wir uns uns treffen müssen? Es wird ihm doch nichts sein? Bin nicht sicher, ob sein Fahrrad da hinten am Auto lehnt. Runter, hoch, wieder am Auto vorbei. Langsam wird es auch schon wieder hell. Doch, da steht sein Rad. Sitzt er drin und schläft? Ich störe besser nicht.

Runde 25, jetzt brauche ich doch eine neue Flasche, öffne den Kofferraum. Für ihn sei es vorbei, verkündet Michael vom Vordersitz. Leer, und es geht nichts mehr rein.

Och nö! Oder doch?

Eigentlich weiß ich es schon: wenn er nicht weitermacht, dann war es das auch für mich. Noch elf Runden plus Bonusrunde (die wir brauchen, die fehlenden Höhenmeter) – ein paar Tage später bei 32 Grad vorm Laptop klingt es natürlich easy. Aber dort nach der durchzechten, kalten, so überaus langweiligen Nacht ist klar, es würde noch mal sechs bis acht Stunden dauern. Noch dazu jemand, der nur drauf wartet, dass ich fertig werde – dazu habe ich nicht die Nerven.

Ich entscheide schnell, noch eine Abschlussrunde. Fluche laut bergab. Erst redest du mein Tief beiseite, und jetzt das! Merke aber auch, wie müde meine Beine sind. Und dass der eigentliche Spaß für mich war, das hier zusammen zu machen.

Wir räumen das Schlachtfeld auf, stellen fest, dass wir mit unseren knapp 6.500 Höhenmetern auf 277 Km immerhin einen Ötztaler locker weghaben, und ich fange umgehend an, das Klassenfahrtsgefühl zu vermissen, das sich in den letzten Stunden breit gemacht hat.

Für den Weg mit dem Auto zurück brauchen wir dann mehr als sechs Stunden. Inklusive Kaffee an der Tanke, Pommes von der Raststätte und Tiefschlaf am Rande eines Feldes gleich hinter einer Autobahnausfahrt.

Daheim rümpfe ich sehr die Nase beim Ausräumen meiner klammen Klamotten. Na, hoffentlich findet so eine Klassenfahrt trotzdem mal wieder statt.

Tour auf Komoot

Danke an den denkbar besten Mitstreiter für solch sportlichen Unsinn – schön war’s gewesen!

*Nachtrag: Wenn sich jemand fürs Everesten erwärmt, Achtung, es gibt Unterschiede in den Regularien. Everesting.de erlaubt die Streckenwahl, wie wir sie getroffen haben: den Berg an verschiedenen Stellen hoch und runter zu fahren. Wenn Ihr dagegen die Hall of Fame von Everesting.cc (das Original) anpeilt, dürft Ihr tatsächlich nur eine durchgehende Steigung wählen und diese hoch und runter fahren. Fragt mich nicht…