Es ist der dritte Morgen. Beim ersten Ton ist der Wecker aus. Um zwei Uhr früh schiebe ich das Jaegher aus der Haustür des B&B Via del Sole in Giaglione. Heute wird wieder angegriffen!

Tags zuvor hatte ich in den letzten, absurd kurzen Kehren des Col delle Finestre online ein Zimmer gebucht und mich in Susa durch eine riesige Pizza Diavola gefräst. 

Die Suche nach dem B&B endete fast in Tränen, als mich Google Maps steile Straßen hinunter und Einheimische steile Straßen hinauf schicken. Aber meine Gastgeber machen das Beste aus meinem wirren Mix aus Italienisch und Französisch, und das Jaegher darf im Wohnzimmer parken. Im Spiegel entdecke ich die Salzkruste auf meiner Kappe und einen toten Weberknecht am linken Schienbein und geniere mich.

Fünf Stunden Schlaf später ist wieder alles möglich.

Und gerade, als ich wieder auf die Strecke zum Col du Mont Cenis biege, erscheinen am Wegesrand die Reflektionen eines schlafenden Randonneurs im Licht meiner Lampe. Wenn das kein Zeichen ist?

Die Passstraße liegt schwarz und windstill in der Nacht. Hin und wieder ein Lastwagen, unheimlich im Dunkeln, wo sonst nichts und niemand ist. Aber lang nicht mehr so wie noch gestern am Col du Larche. Die Luft allmählich kühler, zum Hochfahren völlig in Ordnung.

Alle 400 Höhenmeter halte ich an, esse ein Stückchen Riegel, oder eine Banane. Disziplin! Irgendwann an diesem unseligen Vortag habe ich trotz allem die 400 Kilometer vollgemacht, es bleiben keine 600, hervorragend.

Ein Dachs am Wegesrand, mein Brevet-Lieblingstier.

Ich schaffe nicht ganz 500 hm pro Stunde, aber ich komme voran. Ich denke an mein kleines Peloton. Winzige Tröpfchen erscheinen im Licht meiner Lampe. Eine Zeitlang bleibt kaum etwas zurück.

Weiter oben rauscht der Wind, die Temperatur ist auf zehn Grad gesunken. Ich ziehe Beinlinge und Windjacke über, wer weiß, ob ich oben verharren will. Hab den Berg nicht im Detail studiert, weiß nur, 1.400 Meter klettern, dann bin ich auf dem Col du Mont Cenis, und nach ein paar Kurven abwärts sind es nochmal 1.300 bis auf den Iseran.

Die Kontrolle taucht unvermittelt aus dem Dunkeln auf, Handschuhe und Regenjacke für die Abfahrt. Das Nieseln jetzt dichter, Mist, das sollte doch bis zum Vormittag halten.

Die letzten flachen Meter bis zur Passhöhe, ich habe vom Mont Cenis genau nichts gesehen. In langen Kehren abwärts nach links, und der Regen wird stärker. Nach rechts, und der Regen wird schwächer.

Dann öffnet sich in der ersten Dämmerung der Blick ins Tal. Dicke Wolken links, aber meine Strecke führt nach rechts. Wer wagt, gewinnt!

Bin im zweiten Anstieg, für Kaffee ist es viel zu früh, ich fahre auch lieber jede Minute, solange es nur bewölkt ist. Bloß nicht hetzen lassen vom Wetter. Schnell ist mir wieder warm, gelange ich in das weite, braune, menschenleere Hochtal, es ist wie das Ende der Welt.

Erspähe plötzlich die Straße, die hoch über Bonneval-sur-Arc in den Fels geschlagen ist, was für ein Anblick. Nach 48 Stunden endlich angekommen in der Tour.

Auf dem letzten Abschnitt noch langsamer, immer wieder Pausen, aber ich arbeite mich hinauf, Umdrehung für Umdrehung, in wilden Kurven hinein in das nächste Hochtal, hin und wieder taucht ein gelbweißer Meilenstein auf und sagt die Prozente an. Eine Frau am Fahrbandrand ruft mir zu, bon courage!

Und gerade, als ich denke, ich würde gern ein Murmeltier sehen, moppeln hinter der nächsten Ecke zwei feiste Exemplare über den Straßenrand. Was ist das heute für ein abgefahrener Tag?

Dann zieht Nebel über die Fahrbahn, unvergessliche Bilder. Längst habe ich angefangen, meine Kollektiv-Kolleginnen aufzuzählen, wenn ich aus dem Sattel gehe. Immer noch einmal reintreten für Jule oder Sandra oder Steffi, und noch zweimal für Marie. Und zusehen, wo mein Peloton bleibt. Dafür, dass ich ganz allein unterwegs bin, ist meine Strecke gut bevölkert.

Nochmal anhalten. Die letzten hohen Prozente. Und endlich oben. Glück! Genugtuung! So geht randonnieren!

Es ist noch früh am Tag, ein paar Motorradfahrer, am Schild wechselt man sich freundlich ab, ich laufe hin und her, kann mich kaum losreißen. In der Abfahrt erschließt sich völlig unerwartet gegenüber die grandiose Kulisse des Naturreservats Tigne-Champagny.

Im Neubau-Skiort Val d’Isère ist der erste Spar geschlossen, jemand ruft mir aus dem Auto zu, at the service station, na gut. Aus den Augenwinkeln ein Bäcker-Bistro mit Tischen, schon wieder zehn Stunden unterwegs. Ich ordere an der Theke zwei riesige Stück Quiche mit Salat, an den Tisch bringt man mir zwei Mal Besteck und wundert sich, wo meine Begleitung sei.

Radfahrer kommen in kurz-kurz von unten, scheinbar hat niemand mitbekommen, dass das Wetter umschlagen soll. Ich stopfe in mich hinein, soviel ich schaffe. Meinen Kaffee bezahle ich zweimal, egal.

Abwärts nach Bourg: Tunnel, Straßenarbeiten, diese Seite hätte nicht halb so viel Spaß gemacht.

Die 1.300 hm hoch zur Cormet d’Arêches: Bonuspunkte.

Schon ganz unten fängt es an zu regnen. Ich quetsche mich auf die schmale Bank vor einer überdachten Infotafel. Ein junger Randonneur kommt vorbei, selbst jetzt noch trifft man immer mal wieder einen Mitstreiter.

Ein paar Meter weiter stehen sie zu zweit, dem anderen ist das Schaltwerk abgerissen. Finito, schnell ein bißchen demütig sein.

Durch den Wald bergauf, ein stilles, enges Tal. Stoisch hochzählen. Ich schaue nur noch unter mich, oder auf den Weg, den ich schon hinter mir habe. Der Junge kommt wieder heran. Vor dem Gipfel wieder loser Untergrund. Es ist nicht sehr steil, aber zu grob zum Fahren. Wie gut, dass ich in drei Wochen zum Wandern verabredet bin, das übe ich hier gleich mit.

Oben wilde, einsame Landschaft, ich sauge alles auf. Eigentlich bin ich nicht schlecht in der Zeit, aber ich werde mich hüten, wieder mit dem Rechnen anzufangen. Längst geht es nur ums Ankommen.

Bergab drei Kilometer Schotter, laut Sophies zuverlässiger Beschreibung, mir kommt es vor wie zehn. Ich gehe das meiste, Zeit verrinnt, plötzlich fällt mir ein, ich verpasse den letzten Supermarkt vor der Nacht. Versuche, schneller zu laufen, aber jetzt umknicken wäre auch blöd.

Endlich Asphalt, es ist auch wieder nass, der Petit Casino in Beaufort verwaist. Sehe den Jungen vor einem Restaurant, ich will lieber die letzte Helligkeit nutzen, 750 hm zum Col des Cyclotouristes, das ist ja jetzt nichts mehr. Als ich kurz an der öffentlichen Toilette halte, friere ich gleich.

Schon am Abzweig bin ich müde. Ein paar Häuser, zunehmende Dämmerung, keinerlei Verkehr. Es nieselt wieder. Keine Lust jetzt noch die Stirnlampe rauszukramen. Immer wieder weiße Flecken unter den Bäumen am Straßenrand. Gern würde ich mich direkt dorthin legen, aber wenn dann doch ein Auto kommt?

Schaue dreimal bei Komoot, ob ich schon vorbei bin an der Kontrolle. Bloß nicht übersehen!

Es dauert ewig, bis ich sie erreiche. Auf dem Foto sah es so aus, als könne ich mich hier hinlegen, aber das Dach ist viel zu schmal. Im Wald ist ein Picknick-Tisch, aber zwischen den Brettern tropft Wasser durch. Auf dem trocken wirkenden Boden gleißen im Licht der Stirnlampe winzige Tröpfchen.

Erst als ich meine Flasche an der Quelle fülle und zufällig aufblicke, sehe ich es. Ein Holzhäuschen auf der anderen Seite, das Jaegher und ich passen genau hinein.

Ich ringe meinen klatschnassen Socken aus, gucke aufs Wetter. Morgen endgültig 100% Regenwahrscheinlichkeit, am wenigsten noch früh. Also Wecker auf 1:15 Uhr. Draußen höre ich es noch lange tröpfeln und rauschen.

Am „Morgen“ zusammenpacken, hinter der Hütte Zähne putzen, die Socken immer noch nass, ich wechsle zu den nagelneuen Seal Skinz, mummle mich auch sonst ein, aber die vielen kleinen Kurven gehen im Dunkeln sowieso nur langsam.

In Albertville kloppe ich hocherfreut meine Abfälle in eine Tonne, kann den Ort seit 2017 nicht leiden.

Auf zum Col de la Madeleine: 26 Kilometer, 1.600 Höhenmeter. Schwarze schnurgerade Landstraße, Flüsterasphalt, quer über alle Kreisel ohne ein einziges Auto. Am Abzweig kurz halten und sammeln.

Es ist fast schon Routine: Weiße Striche in der Finsternis, niemals sehen, was vor dir liegt, dann und wann irgendwo weit oben ein Licht, ist es ein Ort, den du durchquerst, eine einsame Lampe an einem Gebäude? Alle paar hundert Höhenmeter halten, Reste vom Riegel, unerträgliche Weingummis.

Die Passstraße macht diesmal viel Strecke, und das ist eine gute Sache, mit jedem Kilometer entfliehe ich dem schlechten Wetter.  

Der Magen findet dieses frühstückslose Radeln nicht so gut, es dämmert bevor ich oben bin, in den letzten Kurven ein Blick zurück, da ist ein Radler hinter mir, ich beschließe, er wird mich nicht einholen. Es ist ein schöner Morgen.

Abfahrt nach La Chambre, drei Brioche und ein großes Baguette für den Rainer-Beutel, eine Kanne Schwarztee mit viel Zucker in der Bar. Ein viel zu großer Intermarché, Kassenschlangen-Horror.

Der letzte Zweitausender: Col du Glandon, 1.500 auf 19 km.

Ich weiß nichts mehr von diesem Anstieg.

Außer, dass ich Stephane treffe und wir die Augen verdrehen, dass jede Steigung immer gleich über 1.000 Höhenmeter haben muss, dafür sind wir beide entzückt über die vielen Tiere, deren englische Namen wir suchen, er beschreibt mir die kleinen flinken, die die Bäume hoch rasen, ich ihm die katzengroßen mit dem schwarzweißgestreiften Kopf.

Außer, dass dort ewig Zaun ist, als ich einmal ins Gebüsch muss, und ich direkt in ein Schlammloch stapfe, und der Versuch, den Schuh im Bach abzuspülen, endet damit, dass der innen und außen klatschnass ist.

Außer, dass eine kreisrunde Stelle links am Nacken immer deutlicher schmerzt.

Ich sollte es genießen, das letzte Mal vierstelliger Anstieg, die Schönheit der Bergwelt inflationär. Oben kauert Stephane im Windschatten der kleinen Hütte. Es fängt an zu nieseln. Abfahrt.

Vielleicht die spektakulärste, die ich je erlebt habe. Hinunterzischen zum mächtigen Lac de Grand Maison, dort mit dem Gegenanstieg kämpfen, entlang der Wassermassen auf der Hochebene, karg und rau, gehalten von dieser sonderbaren Barrage, auf der ein Weg in symmetrischen Serpentinen nach unten führt (zum Glück nicht meiner). Riesige Mengen Stein, kein Foto, zu nass ist die Abfahrt, an den Bremsen ziehen mühsam,

hinein in die massive Schlucht, immer höher die Berge links und rechts, und der nächste Gegenanstieg, schon wieder ausgebremst in Kurven hängen, kein Vor und kein Zurück,

und wieder geht es abwärts, geradeaus, ohne Bremsen, nur runter, ins Warme. Es regnet immer stärker, aber ich bin über den letzten hohen Pass weg, jetzt nur noch Höhe verlieren.

Habe nicht dran gedacht, die Überschuhe anzuziehen, und jetzt bin ich nunmal unterwegs, die Shakedry-Jacke liefert, aber in den Schuhen, sogar in den wasserdichten Seal Skinz, steht allmählich kalt und quatschend das Wasser, das kommt von oben, von vorn, von unten

nach jeder Biegung wieder neue graue Wolkenmassen, die die Schlucht verstopfen, es ist ungemütlich und fantastisch und ich bin in Sicherheit, auf dem Rad kann ich überall hin.

Unten an der Romanche entlang, die Gegend nach Bänken abscannen, die sowieso nass sind, vielleicht ist es jetzt in Fleisch und Blut. Im Stehen die Socken ausziehen (mühsam) und ausgießen, nass und unangenehm. Etwas Baguette mit Salami, köstlich rauchiger Nachgeschmack.

Den Col d‘Ornon (600 hm) nicht ernst genommen, ich hasse jeden Meter, zeige dem Pass-Schild den Finger, irgendwo dahinter wummern Bässe am Wegesrand, ein Mensch springt euphorisch auf die Straße, um mich zu knipsen, aha.

Wieder abwärts, monumentales, surrendes Abwärts, und ich lade den letzten Routenabschnitt. Irgendwo im Hinterkopf, ich sollte etwas Richtiges essen, aber mir ist zu kalt zum Halten. Hinter Entraigues weitet sich die Landschaft, wir verlassen die Bergwelt, schade, aber trocken. Ziehe Sachen aus, stelle fest, dass der Garmin nicht mehr lädt, schreibe M., ob es in Cotignac auch einen Wettereinbruch gab.

Der meldet, hinter dem Col du Festre würde es besser.

Dort am Maison du Col du Festre, Freunde der Mille, werde ich sicher etwas zu essen kriegen. Frage mich plötzlich, bis wann das eigentlich offen hat, inzwischen ist später Nachmittag, und ich würde mich gern beeilen, aber ich kann nicht mehr.

Über ein Brücke, Ende der Abfahrt, nächstes fantastische Sträßchen in tollen Windungen aufwärts. Checke die Uhrzeit, die Kilometer. Schon wieder am Rechnen, das wollte ich doch nicht mehr.

Fahre ewig auf der leicht ansteigenden Straße, eigentlich ist die Abendstimmung schön.

Erreiche die Schlucht, ab hier der Anstieg, 500 Höhenmeter. Es beginnt zu dämmern, wo ist der Tag hin? Irgendwo ein hellerleuchtetes Restaurant, ich könnte auch hier etwas essen, aber nein.

Akku schwach, meldet der Garmin. Ich stopfe ihn samt Powerbank hoffnungsvoll in die Foodpouch, wechsle zum Navigieren auf Komoot.

Der Radcomputer zählt auch nicht mehr, kurz frage ich mich, wie langsam ein Mensch fahren kann. Läuft Komoot überhaupt noch?

Wieder anhalten und gucken, eigentlich ist es hier kein bißchen steil, es ist trotzdem immer noch ein Stück weiter.

Düster wird es auch, schon kann ich die Zahlen auf dem Radcomputer nicht mehr lesen. Traue mich nicht, die Stirnlampe jetzt schon zu nutzen, sobald die leer ist, bin ich in den Abfahrten geliefert.

Wo soll jetzt das Col-Schild sein?

Da vorn, endlich. So wenig Lichter im Ort. Ich habe ein blödes Gefühl. Und da, das Maison du Col du Festre. Es liegt komplett im Dunkeln. Mir ist kalt, ich habe seit gestern Mittag nichts Handfestes gegessen, hier ist alles zu und sonst weit und breit nichts. Verflucht noch eins!

Hier geht’s zur letzten Etappe.