Anfang des Jahres hatte ich mir einen kleinen Zettel geschrieben. Für jeden Monat stand radfahrerisch etwas Besonderes darauf. Wegen der Vorfreude.

Den Januar habe ich noch geschafft: ein Besuch bei den Kollektiv-Kolleginnen Johanna und Jule, die soeben auf Workation in Wittenberge weilten, samt Heimweg auf dem Rad durch klirrend kalte, herzerwärmende Winterlandschaft.

Im Februar wache ich irgendwann mit einem sehr verspannten Nacken auf. Denke, in den nächsten Stunden gibt sich das, und wurschtele mich durch den Tag. Am nächsten Morgen, immer noch reichlich krumm, will ich die 1,5 km zu einem Café zurücklegen, wo ich mit meiner Geschäftspartnerin verabredet bin. Ich bin spät dran, nehme das Rad. Als ich aufsteige, kommen mir vor Schmerzen die Tränen. Aufrecht gehen kann ich auch nicht mehr.

Bandscheibe der Halswirbelsäule verrutscht, klärt mich der Osteopath ein paar Tage später auf. Sechs bis acht Wochen.

Es ist nicht schön. In den ersten Tagen schlafe ich keine zwei Stunden am Stück, weil in keiner Haltung schmerzfreies Liegen möglich ist. Später feuern die Nerven in meiner linken Körperhälfte so heftig, dass ich vom Zucken meiner Muskeln aufwache.

Die drei Kilometer zur Hausärztin sind eine Herausforderung. Die Bahn fährt nur bis auf 800 Meter ran. Ein Taxi kommt nicht in Frage, ich habe keine Ahnung, wie ich mich passend zusammenfalten sollte. Während der halben Stunde bis zur Praxisöffnung hänge ich schief auf einem Schemel, den Blick auf den Boden, hinter mir stauen sich die Alten und Versehrten, aber heute bin ich nicht willens, meinen Platz aufzugeben.

Da die Haltung auf dem Rad überhaupt nicht funktioniert, laufe ich überall hin, mit dem Blick zum Boden, laufe zu Edeka, laufe zur Bahnhaltestelle. Ich laufe im Mauerpark herum, das einzige bißchen Grün, dass ich mit meinem jammerhaften Radius erreiche. Sonntag morgens um 8, ich will raus in die Natur, welche großartigen Möglichkeiten hatte ich eigentlich in den letzten Jahren? Ich konnte ja mit dem Rad überall hin.

Statt übers Radfahren könnte ich über Schmerzen schreiben, aber wie? Qualität: brennend, krampfartig, bohrend, steht auf dem Fragebogen der Physio zur Auswahl. Meine Schmerzen haben eine Färbung, für die ich keine Worte finde.

Ich fahre mit den Öffis zu Verabredungen, die ich irgendwann wieder wahrnehme, beim Essen ist es egal, wenn der Rücken und der Arm weh tun, die Tristesse löse ich in Alkohol auf, die Form ist egal (was für eine Form?): wenigstens Ablenkung.

Es wird langsam etwas besser, aber es tut immer noch weh. Ich habe Angst, dass die Schmerzen sich auf diesem niedrigen Niveau dauerhaft einnisten.

Ich setze mich auf die Rolle, die sonst um die Jahreszeit längst abgebaut ist, fahre zehn Minuten aufrecht, beuge mich ab und zu versuchsweise nach vorn. Wenigstens eine Ahnung von Endorphinen.

Wieso ist es so einfach, Schmerzen auf einer 400 Kilometer-Tour zu ertragen, im Vergleich hierzu? Die Antwort besteht aus einem Wort: Kontrolle.

Montags morgens vor 8 Uhr bin ich wieder im Mauerpark, dort ist alles voller Abfall. Auf dem Rückweg fällt mein Blick auf ein vergrößertes Foto an der Gedenkstätte Berliner Mauer. Grenzöffnung 1989, es erinnert auf gruselige Weise an das Foto vom überfüllten Bahnhof in Charkiw, und nichts macht so deutlich, wie immer gleich Tausende leiden müssen, wenn sich welche mit zu viel Macht Murks ausdenken.

Am schlimmsten ist es in Woche fünf, weil es da wieder schlechter wird, nachdem es schon besser war. Tagelang bin ich düster. Aber zwei Menschen helfen mir da raus. Mein Osteopath, der mir versichert, das würde sich insgesamt sehr gut entwickeln. Und der Rad-Mann aus Erkner schreibt, dass wir ganz sicher noch viele schöne Touren zusammen machen werden. Danach ist mir ein bißchen heller zumute.

Ende März sage ich schweren Herzens meine Teilnahme am 300er- und am 600er-Brevet in diesem Frühjahr ab, gebe den Gedanken an den Flèche Allemagne auf, und M. fliegt allein zum Saisonauftakt nach Sizilien. Meine Rolle erschöpft sich in diesem Frühjahr darin, ihm wichtigtuerisch von seinen enthusiastisch geplanten 3.000 Höhenmeter am Tag abzuraten (wie will er das schaffen? Und wie soll ich das je aufholen?).

Auf der VELOBerlin gibt es wenigstens ein paar schöne Radmomente. Ich treffe Annette Feldmann im richtigen Leben, deren Blog ich seit Anbeginn sehr gern lese, habe einige nette Gespräche mit Menschen, die den Candy B. Graveller in diesem Jahr organisiert und bestritten haben. Bei Wetterbedingungen, die womöglich noch schlechter waren als 2018. Besonders dankbar ist der Moment, als die Finisher*innen auf der Bühne stehen und die symbolische Checkübergabe der 10.000 Euro erfolgt, die Bike-Components für die Kinderstiftung „Die Arche“ locker gemacht hat. Dafür hat sich das Weitermachen im Orga-Team über das letzte Jahr hinweg gelohnt, auch wenn sich die vielfachen Termin-Verschiebungen mitunter zäh anfühlten.

Am Tag danach *muss* ich es einfach probieren. Ich überlege tatsächlich, zum Test ganze zehn Kilometer zu fahren. Aufsitzen geht ohne Schmerzen, obwohl ich merke, dass im oberen Rücken immer noch etwas nicht so ist wie früher. Ich habe Angst davor, dass es wieder schlimmer wird. Aber endlich außerhalb der nicht mehr auszuhaltenden vier Wände in die Pedale treten! Am Ende sind es 30.

Vier Tage später 40 ohne Schmerzen. Am Tag danach, Karfreitag, ruft auf dem Saatwinkler Steg jemand vom Rad aus, „Takeshi!“ So nennen mich eigentlich nur Menschen, die mich irgendwie vom Blog lesen auf der Straße erkennen, und das ist immer etwas seltsam, aber dieses Mal einfach nur wundervoll, weil, ich bin noch nicht ganz vergessen!

Am Sonntag fahre ich 70, das ist ein Wagnis, ein paar Km scharfer Gegenwind die Hölle, und am Nachmittag tun mir ernsthaft die Beine weh (wann gab’s das zuletzt?). Die Form ist höchstens Kuchenform.

Am Wochenende darauf startet das Berliner 300er Brevet morgens um 7 Uhr von Erkner aus, und ich beschließe, zumindest zum Start zu rollen. Seit sehr langer Zeit das erste Mal stelle ich den Wecker auf 4, sitze keine Stunde später auf dem Rad. Es ist kalt, ich habe Mühe, mich im Dunkeln zu orientieren, aber nachts losfahren, wie toll! In der Wuhlheide steht der Nebel auf den Rasenflächen, es ist gleich mehrere Grad kälter. Am Start betrachte ich mit dem Rad-Mann die Grüppchen und frage mich insgeheim, wie es zu schaffen sein soll, diese 300 Kilometer an einem Tag.

Am nächsten Morgen sitze ich wieder um 6 Uhr auf dem Rad. Ich will wissen, ob Hundert gehen. Dieses wunderbare Licht am Morgen! Die frische Luft! Über freie Straßen fahre ich südlich aus Berlin heraus, ein symbolischer Anfang für angepasste Pläne: zumindest das „Berlin hat Berge“-Brevet will ich bis zum 01.06. fertig scouten.

Nach 70 muss ich absteigen und etwas essen und mich auch gleich dehnen, es ist etwas lachhaft. Aber ab da ist jeder Kilometer sehr geil, endlich wieder größere Reichweite, endlich wieder halbwegs ernsthaft auf dem Rad, und das ganze verschiedene Grün, adieu Mauerpark, du armer Abklatsch!

Auf dem Rückweg über die Krone wuselt es nur so vor Radgruppen, dafür ist der Kuhdamm am Sonntag Vormittag um halb elf menschenleer. Daheim muss ich mich erstmal hinlegen. Aber das ist sowas von egal.

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Neuigkeiten zum 1.000er „Berlin hat Berge“-Brevet:

Zwei Menschengrüppchen haben ihre Starttermine festgelegt und freuen sich über Mitfahrer*innen bzw., ganz im Brevet-Sinn, über Mitstarter*innen und Unterwegs-über-den-Weg-Fahrer*innen:

  • Sascha hat sich (und seine üblichen Radbegleiter) zuerst dafür erwärmt und das Brevet auf die Liste der Berliner Brevets gesetzt: Start am Mittwoch, den 20.07. (angepasster Termin) von Berlin aus, eine Uhrzeit und den Sammelort (ggf. ein Parkplatz auf dem Weg raus oder rein in die Stadt) kann ich sicher noch nachreichen.
  • Johanna und Marie von The Women all ride starten am Samstag, den 09.07. vom Brandenburger Tor aus und freuen sich über alle FINTA (steht für Frauen, Inter-, Non-Binäre-, Trans- und A-Gender Menschen), die sich mit ihnen auf die komplette Strecke oder auch auf ein Teilstück begeben. Ich finde es übrigens sehr, sehr toll, dass sich bisher ungefähr gleich viele Frauen wie Männer bei mir gemeldet und Interesse an der Strecke bekundet haben! – Wegen Krankheit verschoben.

Der Plan ist weiterhin, dass die Strecke (samt bekannten Verpflegungspunkten) am 01.06. zur Verfügung steht. Alle Infos zu „Berlin hat Berge“ findet Ihr hier.