„Wieso fährst du das jetzt nochmal, die Strecke gibt es doch schon?“ fragt mich ein lieber Radbekannter. Ja, der größte Teil steht, aber einige Abschnitte fand ich bei der Erstbefahrung noch nicht optimal, vor allem wegen der Verkehrsdichte: das letzte Stück hoch auf den Fichtelberg; die Abfahrt vom Brocken über Wernigerode, und zuguterletzt auch der Weg hoch in den Harz.

Und ich mag natürlich nichts empfehlen, das ich nur von der Karte her kenne.

Da es vermutlich vor April und Mai wenig Freude machen würde, in den Mittelgebirgen herumzukurven, hatte ich den 01.06. als Strecken-Release-Tag festgelegt. Aber dann entfallen rückenbedingt die ersten effektiven Radmonate des Jahres, und gerade, als ich wieder im Sattel sitze, sich ein bißchen was von der alten Routine einstellt – bämm! Erkältung, Schlappheit, und dann C-Test positiv.

Inzwischen war Mai, aber es half ja nichts. Auskurieren und mit den Terminen pokern.

Teil 1: Der Aufstieg zum Fichtelberg

Nach Monatsmitte begebe ich mich endlich auf die erste Tour, Start in Wolkenstein, bloß nicht so viele Kilometer. Wecker auf 3:15 Uhr. In der Nacht zuvor hält mich eher die Sorge um das zweimalige Umsteigen auf der Anfahrt wach, als der Gedanke an 2.000 Höhenmeter auf nüchterne Beine. Irgendwie werde ich mich da hochwürgen.

Es ist der freundlichste Tag, den ich mir für diese Unternehmung vorstellen kann. Das Frühjahr in all seiner Farbenpracht (wann ist es so grün geworden?), es ist warm, und es geht zwar sofort aufwärts, aber auf ruhigen Straßen. Eigentlich hatte ich mir vorgestellt, den BerlinhatBerge-Aspiranten zu empfehlen, es so zu timen, dass man im Morgengrauen oben am Fichtelberg ist. Aber dann würde man all dies Schöne hier möglicherweise verpassen?

In Annaberg-Buchholz versperrt eine fiese Baustelle die Strecke. Ich finde den Fußweg drumherum nicht gleich (rechts vorbei), versuche auf einem „Radweg“ das Städtchen hinter mir zu lassen. Der führt steil hoch und wird immer schottriger, um dann kopfüber abwärts zu führen. Dazu diese Kurzatmigkeit, die mich bezweifeln lässt, ob ich tatsächlich in meinem Leben jemals irgendwelche Pässe hochgefahren bin. Danke auch.  

Ich schiebe das Jaegher mit voll angezogenen Bremsen nach unten. Merke: in Annaberg-Buchholz keine Sperenzchen!

In den folgenden Orten denke ich, doch lieber nachts hier durch. Irgendwie ist es etwas zu verbaut, verbauter jedenfalls als in meiner bergromantischen Vorstellung. Aber hinter Neudorf gelange ich auf die gesuchte Vierenstraße, die zunächst als gesperrt und erst kurz danach als Radweg ausgeschildert ist. Ich fahre trotzdem. Bin nicht vier Stunden lang angereist, um hier nun kehrtzumachen!

Und das Sträßchen erweist sich als die richtige Wahl. Ein bißchen feiner Schotter, aber nichts, womit die 28er-Reifen auch nur im entferntesten Probleme hätten. Eine Handvoll Wanderer. Hinter der nächsten Kurve wird es in der Ferne steil, irgendwann erreiche ich ein kleines Gewässer mit ein paar Bänken. Schön ist das hier! Nochmal Durchatmen vor dem touristischen Oberwiesenthal und dem zugestellten Fichtelberg mit Parkplatz kurz vor dem Gipfel. Die freie Sicht übers Land muss man dort oben erst einmal suchen. Ankunft irgendwann zwischen Abend und frühem Vormittag doch empfehlenswert.

Ich gondele an dem Tag zurück nach Chemnitz, wo ich sogar einigermaßen früh den ersten von weiteren drei Zügen nach Hause erwische. Fast mehr als über die erledigten Höhenmeter freue ich mich über die Tatsache, dass die Heimreise flüssig verläuft. Danach muss ich mich erstmal drei Tage erholen.

Fichtelberg-Scouting auf Komoot

Teil 2: Harz und Elbübergang Schönebeck

Eine Zeitlang hatte ich rumgeknobelt, wie ich von Magdeburg aus alternative Routen aus dem Harz ausprobieren könnte. Eine neue Idee liefert mir Steffen Heinze, der gelesen hatte, dass ich den Weg in den Harz hinein zu verkehrsreich fand. Er nannte mir einen Alternativvorschlag: eine Weile durch den Südharz und weiter westlich hoch. Ich lege beide Abschnitte zusammen, kann mit einmal Umsteigen morgens um 8 Uhr in Berga-Kelbra sein und den Harz am Stück fahren.

Das Problem sind diesmal nicht die Höhenmeter – 1.500, wenn ich mir den letzten Anstieg zum Brocken klemme – sondern die über 200 km, gepaart mit schlechten Wetteraussichten. Ich hatte den Termin soweit wie möglich nach hinten geschoben, um den Rücken langsam wieder an Strecke zu gewöhnen.

Dann fallen die Temperaturen, und für 30. Mai liegt die Vorhersage zwischen 4 und 12 Grad mit Regen. Was um alles in der Welt ziehe ich an? M. kann mich gerade noch davon abhalten, die „Deep Winter“-Handschuhe einzupacken. Ein paar Monate nichts Richtiges gefahren, und alles Einschätzungsvermögen ist dahin.

Schlaf finden ist wieder schwer, der Mann macht Geräusche, ich schaue auf den Regenradar, und nach dem Frühstück will ich vor Müdigkeit eigentlich nur zurück ins Bett. Sicherlich kann ich im ICE nach Halle ruhen? Sobald ich im Abteil sitze – knapp diesmal, um 5 Uhr morgens kann man Richtung Bahnhof schon nicht mehr alle Ampeln überfahren – erschallt ein klägliches Miauen. Mal leiser, mal lauter, aber in stetem Rhythmus.

Auf dem Gang bei meinem Rad sitzt eine Person mit einem roten Kater auf dem Schoß, dem Zugfahren offensichtlich keine Freude bereitet. 90 Minuten geht es so, miau! miau! miau! Als der Kater sich etwas beruhigt, fängt dann ein Mitfahrer an zu schnarchen. Wenigstens sind wir pünktlich.

Vom Regionalzug nach Berga-Kelbra aus schaue ich auf nasse Straßen, auf Wolken, die sich düster ballen, aber immerhin haben die meisten Autos ihre Scheibenwischer ausgeschaltet.

In Berga dieses Mal nach Westen statt Norden, ich gelange schnell auf Radwege, die weg von der Bundesstraße und in ersten Wellen in den Südharz führen – und bin begeistert. Saftige Wiesen, kleine Anstiege, ein Sportplatz mit einem breiten Vordach (Urbach), viel mehr Bus-Schlaf-Häuschen als auf der alten Strecke. In Neudorf hübsches Fachwerk. Es ist nicht ganz Stollberg, aber Stollberg ist touristisch so gut wie erledigt, nachdem Bäcker Ließmann mit den köstlichen Pflaumenmus-Brötchen zugemacht hat.

Noch etwas Kuhglockengebimmel, und Appenrode könnte auch als Appenzell durchgehen. Das hat hier etwas unerwartet Liebliches. Zum Teil sind die Straßen für den LKW-Verkehr gesperrt und sehr ruhig, und es ist nicht so steil. Das passt sicher gut, nachdem die BhB-Fahrer*innen sich schon senkrecht den Schneeberg hoch und über die lustigen Thüringer Intervalltrainings-Wellen geschuftet haben werden.

Hinter Zorge fräse ich mich allmählich hinein ins „Gebirge“, die Mittel-Winterhandschuhe (Ende Mai!) inzwischen viel zu warm. Noch vor 12 Uhr erreiche ich Elend, und so war der Deal: wenn du früh genug hier bist, kannst du doch … und überhaupt, Brocken auslassen und dann in Berlin wieder doof den Teufelsberg hoch und runter? Sorry, aber nein.

Also hoch, die üblichen E-Biker achtlos vorbeiziehen lassen, die Brockenbahn tutet mir dreimal über den Weg. Ein paar Regentropfen, aber keine Stunde später bin ich oben, und endlich! fühle ich mich nach diesem seltsamen radfernen Frühjahr wieder ein bißchen normal.

Oben ist es verhangen, die Aussicht trotzdem grandios. Ein großer Harz-Fan bin ich eigentlich nicht. Aber das hier ist jedes Mal aufs Neue erhebend.

In Elbingerode mache ich freiwillig Pause bei Bäcker Steinecke im Netto, Cappuccino gegen die sich allmählich auftürmende Müdigkeit (miau! miau!), ein riesiger Erdbeerplunder gegen das Loch im Magen (M., neiderfüllt: „Ach, da geht es dann plötzlich?!“). Der Fettstoffwechsel ist auch nichts mehr gewohnt.

Danach eine kleine Tücke auf der neuen Abfahrt: der Radweg hinter Elbingerode enthält zwei Holzbrücken, die jeweils in einer Kurve liegen und bei Nässe fies rutschig sein dürften.

Aber den Rest finde ich abwechslungsreich, und man hat ein bißchen länger etwas von den fallenden Höhenmetern als auf dem Weg über Wernigerode, wo man – rumms! – nach wenigen Kilometern unten ist.

Bis zum Elbübergang bei Schönebeck wechseln sich schöne Stücke (sanierte Platte mit Blumensaum) mit, nun ja, interessanten Stücken (zerfetzter Asphalt und Industrieanlagen). Auf der kleinen Anhöhe bei Cochem ein schöner Blick zurück auf das letzte Gebirge der BhB-Strecke.

Hinter Atzendorf zischen dann ein paar Kilometer lang die Autos vorbei, wenigstens auf breiter Straße. Aber hinter der Elbe biege ich ab – und bin mitten in den Auen, gelange auf verlassene Sträßchen zwischen den Dörfern, wo die Zeit als Dimension endgültig verschwindet, wo man in diesen endlosen inneren Raum eintaucht, sich gedankenverloren durch ein grünblaue Welt hangelt … bis der Track uns einige Stunden später bei Werder etwas unsanft wieder in die Zivilisation ausspucken wird.

Ich biege stattdessen hinter Möckern ab zum Bahnhof in Burg, bin plötzlich in Eile, weil ich keine 55 Minuten warten will, also noch Zeitfahren, die lahme Version, die Knie tun mir weh, aber egal, die Strecke steht, ich hab 10 Stunden auf dem Rad verbracht und vielleicht war es tatsächlich nie so gut wie heute, mich einfach auf den Weg zu machen.

Harz-Scouting auf Komoot

Hier findet Ihr alle Infos zu „Berlin hat Berge“. Ich hab zum 01.06. einiges aktualisiert; wer vorher gelesen hat, schaut gern noch mal rein.

Auf Komoot findet Ihr die komplette Berlin-hat-Berge-Route zum Nachfahren.

Danke für das große Interesse an dem Brevet! Ich bin gespannt, wer sich schlussendlich auf den Weg macht und freue mich über Eure Nachrichten dazu 🙂

Nachtrag vom 12.06.2022
Nach dem Scouting ist vor dem Scouting… nach der erfolgreichen „Fremd-Erstbefahrung“ und einem weiteren langen Tag im Sattel sind Möckern und Werder Geschichte, wir gehen bei Barby über die Elbe und verlassen erst am Schwielowsee (südwestlich von Potsdam) den Wald – ein Mix aus Hin- und Rückweg
dieser Strecke (Link zu Komoot). Nur dass sich die aufmerksame Leser*in nachher nicht über die Strecke wundert!