HanseGravel, ach HanseGravel. Im Dezember buche ich ein Zugticket nach Hamburg, weil alle hingehen, und ich befürchte, etwas zu verpassen. Das Hamburger Fahrrad-Bullerbü, beliebtes Thema beim einschlägigen Berliner Smalltalk („Ja, die haben es gut mit ihrer Szene!“) entfaltet seine volle Anziehungskraft.

Im Februar lädt meine beste Freundin für das gleiche Wochenende zu einem runden Geburtstag und der Kommunionsfeier ihrer Tochter in die Schweiz ein.

Im März habe ich keine Lust mehr auf HanseGravel, ich habe überhaupt wenig Lust auf Radfahren, und weiß nicht, was alles soll.

Im April versuche ich mich zu erinnern, wie anstrengend Graveln ist und befreie das Soma in letzter Minute von seinen Spinnweben. Inzwischen habe ich auch ein Zugticket in die Schweiz, ich will meine Freundin überraschen, also fahre ich den HanseGravel vielleicht gar nicht. Oder ich fahre nach Hamburg und schau mal.

In der Woche davor schreiben Joas und ich ein paar SMS. Kommst du jetzt eigentlich? (Ich.) Überlegst du eigentlich, eine Nacht durchzufahren? (Er.) Ich will mich gar nicht verabreden, aber eine Nacht zusammen, oder drei, ist natürlich immer gut. Ich habe nur 50 Stunden. Kann ich in der Zeit 615 Kilometer auf Feldwegen fahren?

Auf dem Sofa sammelt sich nach und nach der Kram für unterwegs, den ich dort hinschmeiße, wenn mir etwas in die Hände fällt. Ich bin kein bißchen aufgeregt. Auf Facebook posten sie seit Wochen Fotos von den gepackten Rädern. Saddle Packs so groß, dass ich darin schlafen könnte. Das sind keine Fitfucker mehr. Das sind Packfucker!

Am Morgen um 7 stehen schon Wiebke und die Randonneure auf dem Bahnsteig, bereit fürs Fahrrad-Tetris im IC nach Hamburg. Der Schaffner weist einen armen Menschen ab, der für sein Rad nicht reserviert hat. „Aber ich habe eine BahnCard 100!“. Es nutzt ihm nichts.

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Ich erreiche Entenwerder ungefähr eine Viertelstunde vor Abfahrt, will zumindest unserem Veranstalter René noch guten Tag sagen und ungefähr zwanzig anderen Menschen auch, die ich bisher nur aus dem Netz kenne. Ein schlanker Jüngling fällt mir um den Hals und stellt sich als Markus Bertram vor. Sollte der nicht annähernd in meinem Alter sein? Ich bin verwirrt.

Und natürlich sind da auch welche, die ich schon kenne, und so bleibe ich erst in Gesprächen und dann in der Kloschlange stecken, der Start findet ohne mich statt, also kann ich genauso gut auf Joas warten. Rollen wir das Feld eben von hinten auf!

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An der Trave entlang aus Hamburg raus, die Stadt verschwindet hinter einer grünen Wand. Alle paar Meter bremst eine Treppe den Weg, schauen uns Menschen fragend an.
„Macht ihr eine Radtour?“ fragen mich ein paar Kinder. „Wohin denn?“ – „Nach Stettin!“ – „Wir drehen einen Horror-Film für die Schule!“ Das sei ja auch schön, erwidere ich geistreich.

Ich staune sehr darüber, wie schön und abwechslungsreich die Landschaft ist. Unser Weg, der Hanseatenweg, schlängelt sich durch Wälder, Wiesen, über freies Feld. Wird zum Pfad, zum Hohlweg, zur Treppe, zur Platte, zur Sandpiste, zum Acker. Führt am Flüsschen entlang oder an diesen wunderbaren roten Backsteinhäuschen, an Schilf, am Meer. Ich überlege fast, ob ich diesen Weg erwandern wollte, weil hier so viel zu sehen ist. Es macht unerwartet viel Spaß!

Ein Schild zum Hofcafé nach 45 Kilometern. Ich habe keine Lust zu halten. Wir können hier auf einen Schlag 40 Leute überholen, sage ich zu Joas. Nach zwei gemeinsamen Nächten auf dem Rad glaubt man ja zu wissen, welche Knöpfe man beim anderen drücken kann. Treffen auf Jule, die offensichtlich Mitfahrer gefunden hat, was mich irgendwie beruhigt.

In Bad Oldesloe führt der Track direkt über den Markplatz, wo schon der Berliner Randonneurs-Klaus seinen Kaffee genießt, und ich staune wieder. Schon bei den Brevets dachte ich ein ums andere Mal, der müsste doch irgendwo hinter mir sein. Dann erreiche ich hechelnd die nächste Kontrolle, und dort sitzt der voll entspannt, begrüßt mich strahlend mit „Frau Takeshi!“ und ist längst über alle Berge, noch ehe ich überhaupt einen Stempel in meinem Heftchen habe. Zauberer!

Wir kaufen uns Wasser und Weingummi und gondeln des Weges. Herrlich und das komplette Gegenteil von den letzten ersten Kilometern. So könnte ich tagelang unterwegs sein!

Freue mich, als ich grüne Taschen voraus ausmache, die unfehlbar zu Alexandra gehören. Ihr folge ich auf Twitter und ab und zu bei einem Radrennen und finde sie dabei so angenehm unaufgeregt.

Im Bus unter dem Herrentunnel ist es heiß wie in einer Sauna. Bei der Fähre stehen wir auf der rechten Seite und spekulieren darauf, wichtige Sekunden vor den Autos von Bord zu rollen.

Das Licht am Abend ist der Hammer. Noch der letzte Sonnenstrahl legt sich quer über den Weg, leuchtet unterhalb von dunklen Baumwipfeln hindurch einen Abhang hinunter, taucht die zwei Radler vor uns in ein strahlendes Licht, so flüchtig der Moment. Der Weg führt über den fotogenen Acker, allmählich dämmert es, es ist immer noch warm.

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Wir passieren den Aussichtsturm, wo sich einige Fahrer zum Übernachten zusammengefunden haben, einer steht direkt am Pfad und begrüßt uns. Ich fahre schnell weiter und hoffe, dass Joas nicht etwa anhält und wir reden müssen.

In Grevesmühlen ist es schon fast dunkel, an der Tankstelle weiter oben an der Bundesstraße nehmen wir Kaffee und Kalorien. Der Tag geht schneller vorbei als gedacht. In die tiefe Dämmerung hinein, an einem See entlang, es ist gar nicht so einfach, den Weg zu sehen. Haben wir das beim Candy wirklich zwei Nächte lang so gemacht?

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In Zierow stehen wir ein bißchen an einer Kreuzung herum, essen und schauen auf das Tracking. Wo ist eigentlich Jochen? Am Start habe ich ihn nicht gesehen. Überhaupt, fällt mir ein, waren da ganz schön wenig Leute.

Drei Fahrer tauchen aus dem Dunkeln auf. Ahoi, ihr Landratten!, sagen sie zur Begrüßung. Wo denn der Zeltplatz sei, und wie weit wir noch wollten. Wissen wir nicht, sagen wir nicht. Dafür berichten wir den nächsten Ankömmlingen, wo der inzwischen aufgespürte Zeltplatz ist, erfahren aber nur geringe Dankbarkeit.

Dann im Stockfinsteren ein Stück am Meer entlang, gegenüber der beleuchtete Industriehafen. Links rauschen die Wellen, rechts das Gras, ganz überirdisch ist das! Ich bleibe im Sand stecken und finde es trotzdem großartig. Magische Nachtfahrt!

An der Aral in Wismar wieder Kaffee, ich überrede Joas zum nährenden Bifi-Sonderangebot, zwei für 4,80 Euro. Sein Sattel hat schon vor Stunden begonnen sich aufzulösen, und langsam sieht die Konstruktion etwas bedenklich aus.

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Alle Picknick-Bänke, Pavillons, Hütten am Wegesrand sind inzwischen mit schlafenden Radlern belegt. Joas leuchtet sie ungeniert an. Ist das Jochen? Ich muss lachen, psst, psst! Ich stelle mir vor, wie wir wildfremde Menschen aus den Schlafsäcken zerren. Einmal fahren wir prompt falsch, einen sandigen Abhang hinunter, müssen Hunderte Meter weiter wieder umdrehen und hinaufschieben.

Wir sind so langsam auf den nicht befestigten Wegen. Wurzeln und Blätter und Schotter und Löcher, die du nicht siehst. Wahrscheinlich ist es so, nachts zu fahren bringt dich nicht wirklich weiter.

Allein, das Erlebnis. Ein kleines unbestimmtes Tier huscht durch meinen Lichtkegel. Anderswo tummeln sich ein Haufen Kaninchen zusammen mit einem Reh auf dem Weg, und erst im Näherkommen merke ich, es sind Wildschweine, bremse erschrocken ab, aber das Elterntier hat sich schon in die Büsche geschlagen, nur die Frischlinge wuseln aufgeregt hinterher. Und viel später wurschtelt sich auch ein Dachs über den Weg.
Am nächsten Tag wird die allgemeine Frage zur Begrüßung lauten, wo man denn jeweils geschlafen habe, und ich werde denken, die viel spannendere Frage ist doch, welche Tiere man nachts gesehen hat.

Der Sternenhimmel ist ganz wunderbar.

Ein schemenhaftes Schild in einem Dorf, ich muss umdrehen, um es zu knipsen, es kann kein Landkreisschild sein, die stehen immer außerhalb von Ortschaften, aber der alte Reflex.

Es ist schon 2 Uhr, als wir den zweiten Track beenden, ich möchte immer weiter.
Meter um Meter geht es meditativ vorwärts, die Gedanken fahren Achterbahn durch meinen Kopf und ich fahre mit. Das Gras, von meiner Stirnlampe beleuchtet, verliert eine Dimension und sieht aus wie aufgemalt. Ich denke, es liegt an der Müdigkeit, aber ein paar Stunden später finden Joas und ich heraus, wir haben das beide gesehen.

Wir halten in Kröpelin, ich will endlich meine Beinlinge anziehen, es ist frisch geworden. Dass wir doch ein paar Stunden schlafen könnten, fällt uns ein. Beide haben wir schon links und rechts Ausschau gehalten, ohne Erfolg.

Als wir weiterfahren, sehe ich Joas plötzlich rechts oberhalb von mir auf einer Anhöhe, was macht er da nur schon wieder, den riesigen gelben Halbmond fotografieren?

Über eine Treppe hat er ein abseitiges Stück Rasen gefunden, trocken, aber mitten im Ort, und hier legen wir uns jetzt hin.

Es ist eine gute Stelle. Nur der Wind wird immer stärker. Erst wickle ich mir die Jacke im Schlafsack um die Füße. Dann wickle ich die knisternde Rettungsdecke um meine Beine. Es nutzt nichts, ich friere, richtig einschlafen kann ich nicht. Ich beneide Joas in seiner Schlaf-Biwak-Kombi und beschließe, daheim endlich Geld in eine ordentliche Ausrüstung zu investieren. Vielleicht ist es auch einfach schon zu spät in der Nacht.

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Rapple mich extra ein bißchen früher auf, weil ich immer so lange zum Packen brauche. Aber als ich das Rad zurück auf den Weg schiebe, ist Joas noch mit seinen Taschen beschäftigt. Voll schlechten Gewissens denke ich daran, wie oft M. schon auf der Straße auf mich wartet, weil ich wieder länger brauche, und nehme mir fest vor, mich künftig mehr zu beeilen.

Kaffee und frisch machen ist der Plan, aber im Ort gibt es nichts. Im nächsten Dorf checken wir Google, kein Empfang. Endlich finden wir heraus, dass das etwas größere Bad Doberan nur ein paar Kilometer vor uns liegt. Fahren dorthin, wo Räder stehen („Wo habt ihr geschlafen?“), treffen auf die riesige Bäckerei Sparre, wo sie keine Rosinen mögen, und das macht mich so glücklich, dass ich viel zu viel Frühstück nehme.

Irgendwie brauchen wir beide ewig, fürs Essen, für die Morgentoilette. Wir haben nichts verabredet. Das ist gut und schlecht zugleich.

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In diesem Moment gebe ich den Gedanken auf, Morgen mittag in Stettin zu sein. Wir sind viel zu langsam.

Rostock kurz darauf nervt uns dann beide, städtisches Stop and Go. Ich wettere schon lange vorher über diese unmögliche Beschilderung der Radwege hinter der Stadt, die ich von einer Landkreis-Tour kenne. Radfahrer sollen für hunderte Meter absteigen, weil es etwas runter und um eine Kurve geht! Geh‘ mir weg mit Rostock.

Das letzte Stück Radweg entlang der Bundesstraße spuckt uns aus, plötzlich sind wir wieder im Grünen.

Und bei den wichtigen Dingen angekommen. Findest du, das Radelmädchen ist eine Influencerin? (Ich.) Weißt du, was dieses „Gast“ als Endung der Ortsnamen bedeutet? (Joas.)

Wir zuckeln voran, der Sand ist hier tiefer, ich schwimme eine Weile, dann schiebe ich. Joas ist weit voraus und schließt Freundschaft mit ein paar Wanderern. Wir kommen nur langsam voran. Es ist schön.

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Ich bin tief in Gedanken, ich bin im Fluß, plötzlich und endlich angekommen im Hier und Jetzt. Ich denke an alles und nichts. Wie ich in den Wochen vorher Kilometer gezählt und mich gequält habe. Das muss alles nicht sein. Das hier, das ist perfekt.

Es ist gut, dass du mit Joas unterwegs warst, wird der Coach später sagen. Da hast du wenigstens was von der Gegend gehabt.

Als wir in Ribnitz-Dammgarten bei der Pizza sitzen (die anderen Fahrer: „Wo habt ihr geschlafen?“), ziehen schon die Wolken auf. Hinter dem Ort eine dieser verfluchten Kreuzungen, wo du als Radfahrer, willst du korrekt fahren, drei Ampeln überqueren musst, damit du rechts abbiegen kannst. Es nervt.

Kurz darauf pladdert es los. Wir sprinten bis zum nächsten Ort, auf der Suche nach einem Dach, einem Vorsprung.

Wieder radeln andere an uns vorbei. Regenjacke, Regenhose, stoisch. Im Vergleich komme ich mir vor wie ein Sonntagsradler. Stellt sich heraus, es ist Mario, der hier so unbekümmert durch den Regen fährt. Klar, der Mann campiert auch im Schnee. Ein kurzes freudiges Wiedersehen. Mit seinem Mitfahrer zieht er davon, während Joas und ich uns von Bushaltestelle zu Bushaltestelle hangeln. Immer, wenn wir denken, es wird weniger, fahren wir wieder los, und prompt regnet es noch mehr.

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© Joas Kotzsch

Dabei sind wir noch auf der Landstraße. Regen und Acker, darauf habe ich so gar keine Lust. Wir wollen es vermeiden, aber die heftig befahrene Straße, auf der wir kurz unterwegs sind, macht auch keine Freude. Dann lieber verdreckt. Es dauert auch keine zwei Minuten, und alles am Rad knirscht.

An der letzten Bushaltestelle beraten wir uns. Es ist später Nachmittag. Was nun? Draußen schlafen, wenn es überall nass ist, und wo wir schon bisher so gut wie nichts Überdachtes gesehen haben? In die Nacht fahren und hoffen, dass es nicht schüttet? Mit Joas Sattel, der jeden Moment auseinanderzubrechen droht? Die dunklen Wolken machen mich kleinmütig. Der wasserdichte Reißverschluss an meiner Oberrohrtasche hat auch pünktlich den Geist aufgegeben.

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Der nächste Fahrer kommt vorbei. An dem orangenen wasserdichten Sack erkennen wir einen Candy B.-Veteranen. Der Mann muss vertrauenswürdig sein. Endlich kann ich doch noch jemanden fragen, ob er nachts interessante Tiere gesehen hat.

Noch 30 Kilometer bis Stralsund. Ein Hotel lohnt auch nicht. Morgen Mittag schon müsste ich eh im Zug nach Berlin sitzen, um den Anschluss in die Schweiz zu kriegen. Und daheim steht das Bett leer, wie mein Opa gesagt hätte.

Also in den Zug ab Stralsund. Joas überlegt hin und her. Die neue Erfahrung, draußen zu übernachten hat ihn irgendwie gepackt. Aber auf dem zerstörten Sattel sitzt es sich nun wirklich nicht mehr gut. Als er sich dann entscheidet, freue ich mich, dass wir es gemeinsam beenden. Zumindest für heute.

Den letzten Acker vor der Stadt nehmen wir noch mit. Biegen ab zum Bahnhof, ich schalte den Garmin aus und winke zum Abschied diesem Track, der mich in zwei Tagen komplett aus dem Alltag, ich möchte fast sagen: aus dem Leben gehebelt hat.

Eigentlich kann es das doch noch nicht gewesen sein?!

Strecke auf Komoot bis hier.

Fortsetzung folgt bestimmt.

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