Die großen Sachen hatte ich im Frühjahr, Stichwort „du hattest ja so Probleme“ (danke für die vielen Genesungswünsche!), alle auf unbestimmt verschoben. Sobald ich wieder auf dem Rad sitze, macht sich aber Sehnsucht breit. Nein, ich möchte nicht den Rest des Jahres mit 130 Kilometer-Touren in Brandenburg verbringen, und vor allem nicht im Flachen.

M. plant, ein Wochenende wegzufahren, und das ist immer ein guter Zeitpunkt, um rund um die Uhr im Sattel zu sitzen. Nur, wo? Mit dem Scouting für „Berlin hat Berge“ bin ich durch – das sollen jetzt erst mal andere fahren.

Der Stoneman Miriquidi Road fällt mir ein. 290 Kilometer und 4.900 Höhenmeter, die individuell und von beliebigem Ausgangspunkt aus gefahren werden können. Zum ersten Mal davon erzählt hatte mir Christoph, der sich die MTB-Version vornahm. Während der Corona-Einschränkungen taucht der Stoneman dann öfter auf, eine der wenigen Touren, die mittels digitaler Startkarte offen bleiben.

Und da ist auch der Stoneman-Beutel, den Rainer mir für die Mille du Sud überlassen hatte. Den könnte ich mir ja mal ehrlich verdienen, anstatt ihn nur lustig in die Kamera zu halten.

Ein Blick auf die Karte zeigt, von Dresden aus sollte ich am schnellsten auf die Strecke gelangen. Also Samstag früh mit dem Zug hin, über Nacht fahren und am Sonntag wieder heim? Der Gold-Status verlangt allerdings, die Tour an einem Tag zurückzulegen.

Dann ein Geistesblitz: ich nehme den letzten ICE Samstag Abend, Ankunft Dresden 22:35, aufs Rad schwingen, noch kurz auf eine Bank legen und irgendwann sehr früh am Morgen bei Bärenfels auf die Strecke.

Tagelang bin ich euphorisiert und kann es kaum erwarten, in einer lauen Sommernacht durchs Mittelgebirge zu schnüren. In einem Anflug von Genügsamkeit entscheide ich mich für die dünnen Langfingerhandschuhe und die dünnen Beinlinge. Das muss alles mit über die Hügel! Durch die Anfahrt von Dresden sind die Höhenmeter auf über 6.000 gewachsen. Nebenbei registriere ich auch, dass sich die angesagten hohen Temperaturen nach hinten schieben. Aber ich bin vor allem mit den Checkpunkten beschäftigt. Nachts ein Schild übersehen – das passiert mir nicht nochmal.

Als ich Freitag von der Eurobike komme, bin ich nicht mehr so sicher. Der Kopf kann nach zwei Tagen Messe-Gespräche die Ruhe vertragen. Aber der Körper vielleicht auch?

Als ich 24 Stunden später schon wieder im Zug sitze, fällt mir auch ein, dass ich mit einem Start um Mitternacht am wenigsten gut zurechtkomme. Ich fange plötzlich an zu gähnen, könnte jetzt eigentlich schlafen, aber irgendwie ist da auch Spannung, was das nun wird.

Am Bahnhof in Dresden muss ich mich erstmal wieder daran gewöhnen, das bepackte Rad zu navigieren. Überall ist es noch hell erleuchtet. Es geht gleich aufwärts, durch Vororte, Gehweg hoch und runter, über ein paar Schleichwege. Das dauert alles ganz schön lange. Aus dem Gasthof Börnchen in Börnchen schallt „Life is life“. „Zwei Lichtör!“, rufen mir einige späte Gäste hinterher. Ja, gut erfasst.

Der Mond soll noch fast voll sein. Irgendwann kippt er über den Horizont, eine angeditschte Bronzemünze, dunkel und schwer.

Auf der Bundesstraße hinter Dippoldiswalde ist kaum mehr Verkehr. Die Straße gewinnt an Höhe, es wird frisch. Ich sehe einige heimelig-verschwiegene Bushäuschen, selbst die Eingangsseite bis auf eine schmale Öffnung verkleidet. Aber jetzt bin ich gerade erst unterwegs. 

Es ist ein Uhr, bis ich den Abzweig nach Bärenfels erreiche und es endlich wirklich losgeht, die ersten 700 hm sind weg. Auf dem Handy rufe ich meine digitale Startkarte auf. Die kann mich per GPS nicht orten. Dann also meinen Startort beschreiben. Und los.

Einen Kilometer Kletterei weiter steht schon das erste Schild. Die Startkarte will, dass ich mir den Text ansehe und das x-te Wort aus Zeile y im Absatz z eingebe. Hm. Der Text ist ein einziger Absatz. Ich versuche, zu raten, welches Wort gemeint könne, bekomme eine Fehlermeldung. Nächster Versuch, das gleiche. Schließlich soll ich mich vor dem Schild fotografieren. Im Stockdunkeln mit einem Schriftzug, der hoch über mir prangt. Als ich damit fertig bin (hoffentlich muss ich nicht einer Veröffentlichung zustimmen), bibbere ich endgültig.

Das nächste Schild schon in 12 km. Wieder das Wörterspielchen mit dem Fließtext, wieder „stanze“ ich die Karte am Ende mit einem Foto. Schilder sammeln ist toll!

Kurz dahinter fühle mich wie eine Schmugglerin, als ich die Grenze zu Tschechien auf einem Trampelpfad überquere. Ich gelange in ein wellige, bewaldete Hochebene, die ich ewig entlang fahre, bergauf im Schritttempo, bergab ebenfalls. Ist sicher schön, wenn man tagsüber unterwegs ist. Ein leises Bedauern beschleicht mich. Mir ist kalt. Ich bin müde. Vielleicht war es doch vermessen, zu denken, ich könnte 6.000 Höhenmeter einfach so wegtreten, nach diesem shitty Frühjahr.

Natürlich ist jetzt weit und breit kein Bushäuschen mehr zu sehen.

Schießlich nehme ich eine Picknick-Sitzgruppe, malerisch von Müll umringt. Schon als ich die Füße in meinen Daunenschlafsack stecke, ist mir klar, das wird nichts. Der Wind pfeift einfach so hindurch. Ich strecke mich trotzdem aus, dämmere etwas vor mich hin, sammle Mut für die kalten Minuten, die es dauern wird, mein ungastliches Lager wieder zusammen zu packen.

Kürzlich irgendwo gelesen (bei Jenny Tough?): Dein bester Cheerleader bist du selbst. Versuchsweise sage ich laut in die Nacht, „du machst das alles sehr gut!“

Mit den Füßen zurück in die Schuhe, die jetzt nasskalt. Wenigstens sind noch Lammwollsohlen vom Winter drin. Hoffentlich geht es gleich wieder hoch.

Ganz allmählich setzt die Dämmerung ein, der Ausblick in die Ebene auf der tschechischen Seite ist wunderschön, unter mir im Halbdunkel schimmern die Lichter einer Stadt.

Ich habe keinen Ausstiegsplan, ich hab diesmal überhaupt keinen Plan. Es gibt tausend kurze Rampen, was willst du dir da merken? Habe nur im Kopf, nach 80 oder 100 km könnte ich zurück auf die deutsche Seite wechseln, von dort irgendwie nach Hause finden. Aber das erscheint sehr viel anstrengender (und sinnloser), als langsam und stur dem Track zu folgen.

In Litvínov das nächste Schild – im Park hinter Schloß Valdstein. Man stellt sich ja gleich sonst was vor, da ist aber nur ein schlichtes hinbetoniertes Häuschen. In Nová Ves v Horách, oben auf dem Berg, soll das Schild direkt am Museum stehen. Wieder ein kleines Betonhäuschen. Irgendwie lustig, mitten in dieser schönen Landschaft.

Ich mache ständig Pausen, hier ein Schild, dort etwas anziehen für die Abfahrt und wieder aus. Überall sind tolle Aussichten. Über die Gegend, über einen riesigen Tagebau.

Um 6 Uhr schon 95 Kilometer weg haben ist eigentlich ein gutes Gefühl. Aber ich habe noch nicht geschlafen, keinen Nachschub besorgt. Ich fahre durch diesen Sirup aus fehlender Nacht und fehlender Übung. Irgendwann fange ich doch an zu rechnen.

Unter „Kurpavillon“ in Klášterec nad Ohří stelle ich mir Jugendstil-artige Architektur vor, die auch in Vichy stehen könnte. Stattdessen: Betonhäuschen. Aber mit Pump- und Werkzeugstation für Räder, Toiletten und einer kleinen Touri-Info.

Plötzlich ist es wieder warm. Ich hole mir den Schlüssel, halte Gesicht und Arme unter das Wasser (na Marty, hast du wieder in deinen Klamotten geschlafen?), putze mir die Zähne.

Auf den Klinovec, oder Keilberg, war ich am meisten gespannt. Der höchste Berg des Erzgebirges, auf der tschechischen Seite. Das einzige Kletterstück mit über 1.000 hm. Ich bin fast am äußersten Zipfel der Strecke, kann nicht mehr abkürzen. Eigentlich müsste es reichen.

Ich hole ein paar MTBler ein. Das Wasser läuft nur so an mir herunter. Verspreche mir Pausen, wenn ich erst weiter oben bin. In den steilen Stücken brauche ich was zu denken.

I am a Stone Man, singe ich.

Du machst das alles sehr gut.

Ich halte nach 600 Höhenmetern, und dann nochmal nach 200. Versuche mir immer wieder vorzustellen, wie machbar mir das alles zuhause am Laptop vorkam. Allmählich gehen die drei belegten Brötchen, die Bananen, die Riegel (in Tschechien gibt es nichts zu Essen!) zur Neige.

Oben Hammeraussicht, außer dass der Berg genauso zugestellt ist mit Hütten, Parkplatz, Seilbahn-Station wie der Fichtelberg. Allmählich tut es mir wirklich leid, dass ich so Banausen-mäßig durch diese ganze Gegend hetze, statt mir Zeit zu nehmen, die Informationen auf den Schildern zu studieren, die ein oder andere wunderbare Stelle zu genießen. Aber nun bin ich schon so lange auf Gold-Kurs, verzeiht bitte!

Zum Fichtelberg hoch steige ich das erste Mal ab, aber das ist egal, hier war ich kürzlich schon.

Irgendwie ist es Mittag geworden. In Oberwiesenthal kaufe ich mir ein Eis im Café Enderlein, sehr ordentlich, Wasser für die Flasche bekomme ich auch.

Ab jetzt nur noch von Schild zu Schild mit unter 500 Höhenmetern, man weiß nur nie wie steil. Zur Bärenstein-Hütte hoch finde ich wirklich übertrieben. Ich versuche, ganz ruhig zu treten, aber das allerletzte Stück killt mich. „Wahnsinn!“ ruft mir eine Frau anerkennend zu. Jetzt muss ich auch noch warten, bis sie mit ihrem Freund um die Ecke ist, bevor ich vom Rad knalle.

Aber danach hab ich es kapiert. Gefasst sein auf die irrsten Rampen, und sofort umschalten auf stoisches Kurbeln. Ich muss trotzdem immer mal wieder anhalten. Und überall ist es schön.

Marienberg mit der Tanke ist die nächste Rettung. Sprudel! Und da es sonst nur Süßkram gibt: Eine Bockwurst. Die Riesenflasche alkoholfreies Bier läuft einfach so runter, tritt am nächsten knackigen Anstieg gefühlt komplett durch die Haut wieder aus. Zeit sieht ganz gut aus, trotz dieser Pausen, aber ich weiß nicht, wann mich die fehlende Nacht voll einholt.

Die Strecke bleibt die ganze Zeit erstaunlich. Es ist Sommersonntag im Touri-Gebiet, aber die meisten Straßen sind leer, die Abfahrten unendlich toll. Wenig Kurven, weiches Gefälle, man kann es krachen lassen. Ich hab schon wieder Hunger.

Die sehnlichst erwartete Shell hinter der Saigerhütte hat schon zu, Personalmangel. Ich hätte doch direkt beim Checkpunkt einkehren sollen. Mist. Warum bin ich immer so blöd? Es ist Sonntag Abend, kalorienmäßig bin ich blank, das kann ganz doof enden (und dann nix mit Gold!). Noch könnte ich zurück, aber zurück verbieten die Beine.

Da ist so wilder Farn am Flüsschen neben der Straße, der sieht aus wie meine Haare nach 20 Stunden unterm Helm. Ich merke, wie ich innerlich langsam von mir wegdrifte.

Am Ortseingang Seiffen frage ich eine Frau, die ihren Vorgarten sprengt, nach Essensmöglichkeiten in der Nähe. Eigentlich bin ich kurz davor, sie zu fragen, ob sie etwas Brot übrig hat. Ja, da vorn käme „der Holzwurm“ und noch andere Gastro (Spielzeugstadt! Hätte ich mir denken können).

Im Holzwurm ist die Bedienung äußerst gastfreundlich, ich soll gern mein Rad auf die Terrasse holen. Saure Linsensuppe, zwei Kugeln Eis hinterher. Espresso, und ich bin wieder da. Ein paar Scheiben Brot kann ich auch erwerben. Noch 45. Am Weg aus dem Ort raus lagern malerisch die Häuschen für die Weihnachtsmärkte. Es ist kurz vor 20 Uhr.

200 hm bis auf den Schwartenberg, feierliche Abendstimmung und vielleicht die schönste Anhöhe auf dieser Tour – gestanzt!

Rüber zum Checkpunkt in Holzhau (wo sind die Höhenmeter?), Sonne ist weg, sofort fröstelt mich – und gestanzt!

Und nachdem ich mich endlich vom letzten Schild getrennt habe, 17 km zurück zum Ausgangspunkt, und dort auf der Brücke, auf der ich vor 21 Stunden und 45 Minuten auf die Stoneman-Runde gestartet bin, zum letzten Mal: gestanzt!

Es ist dunkel. Ich muss dringend schlafen.

Danke schön, rufe ich der Route zu, als ich das Rad wieder auf die Straße schiebe, das war wunderbar mit dir! Und mal ehrlich: Wenn du anfängst, mit der Route zu sprechen, dann muss es wirklich gut gewesen sein.

***

Epilog:
In Schmiedeberg findet sich eine Sparkasse mit kuschelig warmen Vorraum. Ich rolle mich in einer Ecke zusammen und bin in Sekundenschnelle so schnell weg wie nie. Eine Stunde später beschließe ich, nach Dresden zurückzurollen und von dort mit der ersten Verbindung morgens nach Berlin zurück zu bummeln. Auf dem Weg realisiere ich erst, wieviel ich hochgefahren bin, bevor ich überhaupt auf der Stoneman-Strecke war. Könnte sein, ich habe das ganz gut gemacht.

Strecke auf Komoot

Christoph auf dem MTB-Stoneman

Das unerreichbare Sofa … wenigstens war’s auch vor der Glastür warm 🙂