Vor ein paar Wochen sprach mich ein lieber Bekannter an. Er wolle so langsam mal ein längeres Brevet knacken, aber nach 13 oder 14 Stunden wäre da so eine Wand. Keine besonderen Schmerzen, keine überaus kaputten Beine. Nur einfach keinerlei Bedarf mehr, weiterzumachen, auch wenn es körperlich noch gegangen wäre.

Ich schaute ein bißchen im Netz herum. Es finden sich tatsächlich viele Tipps zur Ausrüstung für solche Touren, wie man sich unterwegs versorgt, welches Tempo es braucht, wie man am besten navigiert.

Und dann heißt es, eine solche Distanz wird im Kopf gefahren, aber was das nun im Detail bedeutet, wird nicht erklärt. Ich begann, darüber nachzudenken, was zumindest in meinem rund um solche Touren passiert, und fand es gar nicht so leicht zu erfassen. Dabei macht es doch Sinn, in etwa zu wissen, worauf ich mich so blind verlasse – und womöglich interessiert es auch die Lesenden.

Vor der Fahrt

Am Anfang steht für mich immer die Entscheidung, und die fällt idealerweise mit Leidenschaft. Ich erfahre von einer Tour, einem Event oder einer Challenge, die mir etwas sagt – ein tolles Motto, die Aussicht auf Sonnenaufgänge auf dem Rad, die Möglichkeit, zwei weit entfernte Punkte auf der Karte aus eigener Energie heraus zu verbinden (und manchmal sogar, weil liebgewonnene Menschen dabei sind). Als ich wieder einmal beglückt von solchen Touren faselte, erwähnte meine Mutter, dass die Mongolen sich auf ihren Pferden festbanden, um unterwegs zu schlafen. Das Bild trifft meine Art von Entscheidung ganz gut.

IMG_2745_800

Manchmal tappe ich in die Falle, eine Veranstaltung nur zu wollen, weil sie zum Beispiel gut in meine vemeintliche Entwicklung als „Randonneurin“ passen würde. Das, so habe ich gelernt, reicht bei mir nicht, um weiterzumachen, wenn ich an den kritischen Punkt komme.

Der kritische Punkt: Eine Tour, die mich wirklich herausfordert, wird bei mir alles Unechte abschälen – die kleinen Eitelkeiten, eine leichtfertige Arroganz, den ganzen Übermut. Was übrig bleibt, stelle ich mir manchmal als einen festen kleinen Kern aus Entschlossenheit vor. Kein Flirt mehr mit der Herausforderung. Stattdessen: eine Entscheidung, dies zu fahren.

Wenn mir eine Tour Respekt einflößt (oder zumindest wichtig ist), beschäftige ich mich vorab viel mit der Strecke. Aus Vorfreude, aber auch, weil ich gern weiß, was kommt. Wo die Steigungen lauern, wo spätestens eine Tanke sein wird und wie lange die offen hat. Dieses Wälzen der Eckdaten geht irgendwie in den Körper über. Als spare der von selbst Kraft, wenn ich weiß, nachher kommen noch 70 Kilometer im Gegenwind über offenes Land.

Gedanken und Taktiken unterwegs

Womit ich oft gut – nun ja – fahre:

Zuallererst nicht zu verhandeln. Ich kann über eine Tour noch so euphorisch sein, wenn morgens um 4 Uhr der Wecker klingelt, fühle ich mich schwach und finde es undenkbar, den ganzen Tag und vielleicht auch noch die Nacht auf dem Rad zu verbringen. Für solche Momente entscheide ich vorab, keinerlei Diskussion, bevor ich mindestens zwei Stunden unterwegs war. Es ist besprochen, es wird jetzt so gemacht! Danach kann ich immer noch umdrehen oder in den Zug steigen. Ich kann mich nicht erinnern, es an einem dieser Tage je bereut zu haben.

Weiterfahren, wenn es nicht mehr geht. Gerade dann. Denn das geht vorüber.

Wie funktioniert das? Sich von Kilometer zu Kilometer hangeln. Manchmal auch von Nachkommastelle zu Nachkommastelle. Sich zu jedem einzelnen Kilometer laut beglückwünschen. Beschließen, dass es supertoll ist, dass jetzt schon 238 Kilometer auf dem Radcomputer stehen. Langsam fahren und das gut und richtig finden.

IMG_7822_600

Gerade in indifferenten Momenten lohnt sich die Frage: Warum musst du jetzt absteigen, ist irgendwas? Wenn es nichts Konkretes zu erledigen gibt (Kleidung wechseln, etwas aus dem Saddle Pack nehmen) und nichts unerträglich schmerzt, muss ich vielleicht nicht anhalten. Halten kostet Zeit, Starten kostet Energie, in der Zwischenzeit bin ich wieder keinen Meter vorangekommen, und in holprigen Phasen demoralisiert mich das umso mehr.

Manchmal ist da vielleicht ein schmaler Grat zwischen „ich kann nur gerade nicht mehr“ und „da ist ein ernsthaftes Problem“. Ich möchte niemanden animieren, aus überzogenem Ehrgeiz vom Rad umzukippen. Im Gegenteil finde ich es sehr wichtig, immer mal wieder hinzuhören, ob am und im Körper alles seine Ordnung hat. Aber sich die Erfahrung zu gönnen, stoisch sitzen zu bleiben, weiterzutreten und irgendwann festzustellen, die schweren Kilometer liegen weit hinter dir, das kann sehr erhebend sein.

Sich ein Teilziel als scheinbares Endziel vorzunehmen: die nächsten 20 Kilometer, die noch irgendwie gehen. Und dann so froh sein, die geschafft zu haben, dass es doch noch weitergeht. Zum Glück ist es mir oft mühsamer, mich nach dem nächsten Bahnhof umzuschauen und eine umständliche Heimreise in Angriff zu nehmen, mit viel schlechtgelaunter Wartezeit, als einfach weiterzuschleichen.

Überhaupt: Bock haben! Es gibt diese Einteilung in Type-I und Type-II-Fun. Type-I-Fun: es macht währenddessen Spaß, Type-II: der Spaß kommt danach. Ich habe auch Momente, in denen ich fluche und es nicht lustig finde. Aber darunter liegt doch eine überdauernde Freude daran, unterwegs zu sein. Sich die Gegend mit den eigenen Beinen zu erschließen. Distanzen auf dem Radcomputer zu sehen, die ich mir kaum vorstellen kann! Das IST toll, auch wenn es gerade nicht toll ist!

Sich auf und über Höhenmeter freuen.

Oft höre ich Mitfahrer stöhnen angesichts der nächsten Steigung. Ich bin eigentlich gar keine Bergfahrerin, aber ich denke mir meistens, die Höhenmeter kommen sowieso, also her damit, dann ist das gleich erledigt. (Und nein, mein sonstiges Leben verläuft leider nicht so effektiv.) Berge sind ja immerhin fair. Je anstrengender es ist, desto mehr Höhenmeter lassen sich in kurzer Zeit sammeln.

IMG_7919_600

Sich mit einem Bissen von irgendwas Leckerem belohnen. (Wobei es sich umgekehrt nicht empfiehlt, sich mit dem Entzug von Essen zu bestrafen.) Die eigenen Beine mit der Landschaft betören. Ich stelle mir eher vor, wie ich an ihnen zupfe wie an einem störrischen Esel, als dass ich sie mit der Brechstange bearbeite.

Und schließlich: den Moment schätzen. Ich betrachte eine Tour nicht als etwas, das ich hinter mich bringen muss. Ich möchte einzelne Kilometer hinter mich bringen, aber ich bin im Sattel auch zuhause. Wenn ich den Kilometerhaufen vor mir allzu unüberwindbar finde, sage ich mir, dass ich nach 150 Kilometer in dieser Tour angekommen sein werde. Dann habe ich einen Teil im Kasten, und es geht nicht darum, den Rest möglichst schnell weg zu arbeiten, sondern es genau hier und jetzt zu genießen. Es findet schon noch genug Lebenszeit außerhalb des Sattels statt.

Wenn gar nichts mehr hilft, zähle ich. Streckenpfosten, oder, wenn es keine gibt, Atemzüge. Erfinde kleine Aufgaben wie: ich zähle bis 300, dann schaue ich auf den Kilometerstand. Meist verzähle ich mich, fange von vorn an, oder mitten drin, und drifte in Gedanken ab. Und dann bin ich eben irgendwann oben, oder ein ganzes Stück weiter, oder an der nächsten Tanke.

Aus Erfahrung schöpfen

Natürlich hilft es, sich selbst ein bißchen zu kennen – und ich meine nicht nur die körperliche Leistung, sondern wie ich ticke.

Für mich sind die ersten 100 Kilometer auf vielen Touren die schwersten. Während alle voran preschen, beiße ich die Zähne zusammen, klemme mich an den jeweiligen Hinterrädern fest oder versaue mir allein fahrend hoffnungslos den Schnitt. Aber ich weiß auch, schwere Beine bei Kilometer 70 haben bei mir nicht viel zu sagen. Spätestens ab 100 wird alles gut.

IMG_3836_800

Mir geht es am besten, wenn ich mich in meinem Tempo nicht beirren lasse. Deswegen fahre ich so gern allein. Ich weiß ganz gut, wie schnell ich sein kann, wenn ich lange unterwegs sein möchte. (Es ist nicht sehr schnell – ein Sportlehrer hat mir mal einen „Waldschleichergang“ bescheinigt. Mit 14 hat mich das gekränkt, aber fürs Langstreckenradeln ist es ganz nützlich.)

Ich mag flüssiges Fahren – viele kurze Pausen sind nicht mein Rhythmus und erschöpfen mich eher – und ich mag es, herauszufinden, ob ich es von der Tanke bei Kilometer 93 bis zur Tanke bei Kilometer 237 schaffe, ohne abzusteigen.

In meinem ureigenen Tempo kann ich wunderbar auf Dingen herumkauen, die mich beschäftigen, sie in alle Richtungen drehen und wenden. Irgendwann fließen die Gedanken von allein, und ich fische mir nur gelegentlich etwas heraus. Eine enge Freundin nimmt von Zeit zu Zeit an mehrtägigen Schweigemeditationen teil. Wir haben es einmal abgeglichen, und festgestellt, es kommt sich in dem, was im Bewusstsein abläuft – oder still steht – recht nah.

IMG_2747_800

Schon allein dafür lohnt sich das alles. Und währenddessen kommen die Kilometer zusammen, manchmal schneller als gedacht, gerade ohne das große Ringen darum.

So in etwa funktioniert das bei mir. Vielleicht nutzt es jemandem, genauso, wie mir die Erfahrungen und Ideen vieler anderer Menschen weitergeholfen haben – das würde mich freuen.