Als ich das Jaegher auf den Montageständer packe, um es für den Besuch in der Werkstatt vorzubereiten, bin ich unerwartet mürrisch. Laut klackert die Kugel in der leeren Spraydose. Soll es doch die Nachbarn in den Wahnsinn treiben. Wen kümmert’s!

An dem Wochenende, als Bars, Cafés und Schulen geschlossen werden und die Restaurants nur noch tagsüber geöffnet haben dürfen, ist es mir sofort klar. Aufträge abgesagt oder in unsichtbare Ferne verschoben, die frühjährliche Runde auf Sizilien storniert: ich muss aufs Rad, wenn mir nicht ernsthaft die Decke auf den Kopf fallen soll. Und zwar oft.

An Anfang ist es kalt genug für die Winterhose. Ich fahre die Hausrunden ab, kreisele um die immergleichen Dörfer (Schleife Schönfeld – Willmersdorf – Weesow: 10,5 km), bloß nicht so weit von zuhause entfernen. Fahre bestimmt 24mal bei C. in Altlandsberg vorbei. Und Börnicke, gutes altes Börnicke bis zum Abwinken.

Fühle mich erinnert an erste Touren. Wie ich mich allein ins Umland vorgetastet habe, was das für ein Hochgefühl war. Neue Straßen finden, die Gegend abstecken. Jetzt, wo fraglich ist, ob man nächste Woche überhaupt noch aus dem Haus darf, ist jeder Tritt auf ausgefahrensten Wegen von feierlicher Bedeutsamkeit. Wer braucht schon Messina, wenn Malchow so nah ist?

Wundere mich, wie wenig Verkehr auf der Autobahn unter mir ist, wie viel auf meinen sonst so einsamen Landstraßen. Als wenn man dem Virus auf Schleichwegen entkommen könnte.

Kurve weit um die Leute herum, ein paar Kilometer Vorsicht, dann habe ich die Straßen für mich. Bis auf massenweise Rennradfahrer, einzeln, zu zweit, selten auch in Gruppen bis zu fünf. Alle, die nicht mehr nach Malle durften. Dieses Frühjahr wird viel weißes Wadenfleisch sein.

Wer nicht Rad fährt, geht Joggen, Joggen ist der neue Volkssport. In der Not haben wohl die, die zu viel Zeit haben, das Jahr auf Anfang gedreht, zurück zu den guten Vorsätzen.

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Ruppelige Wege, karge Felder. Unterwegs ist alles wie immer. Für Stunden vergesse ich komplett, was gerade los ist. Daheim kurz das Radio an und schlechte Nachrichten fluten die Küche.

Dann kommt die Kontaktsperre, aber wenigstens muss ich mich nicht auf einen Kilometer ums Haus herum beschränken, ich bin unsagbar erleichtert. Dafür muss ich mit den Bekannten spazieren gehen (du bewegst dich ja genug, aber wir …). Das Ausweichen ist viel mühsamer in der Stadt. Die meisten Leute geben acht, man umkreiselt einander wie gleichgepolte Magneten, aber irgendjemand trampelt auch immer durch als wäre gar nichts.

Mir fällt wieder auf, wie überschätzt ich das Tempelhofer Feld finde, Hunderte Menschen, immerzu stürmt es, und wer kommt bloß auf die Idee, in bunter Rennradmontur hier Runden zu drehen, wo ein paar Kilometer weiter grünes Paradies ist? Das Umarmen zum Abschied fehlt mir.

Radfahren rettet mich, hat es schon immer. Im Sattel, stetig vor mich hin pedalierend, das erdet und beflügelt zugleich, und nie fühlen sich meine Beine sinnvoller an.

In der zweiten Woche will ich zur Oder, traue mir endlich etwas Reichweite zu. Käsebrot, Banane und zwei Flaschen müssen genügen für die 190. Du sollst nicht andere wegen deines Hobbys gefährden.

Wind aus Nordwest, die Wellen hinter Liepe ziehen mir den Saft aus den Beinen. Der Umwerfer kriegt die Kette nicht mehr aufs große Blatt, und da ich zu faul bin, um abzusteigen und das mit den Händen zu regeln, verzichte ich aufs Runterschalten, schufte mich mit dicken Gängen über die lächerlichen Anstiege. Verstehe aber mit einem Mal sehr gut, wie einfach es ist, sich leer zu fahren.

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Absperrband an der Brücke nach Polen, die wir beim 300er Brevet im letzten Jahr noch überquert haben. Es ist seltsam, mit eigenen Augen zu sehen, was in den Nachrichten immer so abstrakt bleibt.

Auf dem Deich mache ich ein Video für die Freundinnen (wir schicken uns neuerdings Live-Grüße, die fehlende Nähe), eine Fahrerin erkennt mich vom Blog und grüßt, nett ist das, nett und seltsam. Der Rückweg ein einziger Krampf im Wind.

Daheim wieder die Nachrichten. Um halb neun döse ich vorm Fernseher weg. 485 Kilometer. Ist wie Festive 500, nur jetzt halt jede Woche.

Dienstag Videokonferenz, die Frisur hinwurschteln, wer um zwölf zum Radfahren geht, fönt um 9 doch keine Haare! Die meiste Zeit bin ich inzwischen blendend gelaunt. Krise, was soll schon sein?

Was ist mit zuhause bleiben, fragt M. Ja, was ist damit? Ich hoffe, niemand liest meine Handydaten aus, um zu messen, ob diese deutsche Bürgerin sich an die Vorgaben hält. Aber schließlich bin ich allein unterwegs. Alles wie immer.

Donnerstag vor Ostern fahre ich wieder zur Oder, vor dem Feiertags-Gewusel. 220 Kilometer, eine dritte Flasche in den Rucksack, immer schön autark bleiben. Wieder rauf nach Tuchen und Trampe, das Geschleppe bei Liepe, der Wind aus Nordwest ist eisig und schlimm. Den Fluss flutsche ich nur so entlang, auf dem Rückweg kommt dann die Quittung.

Habe dort im Wind sehr viel Zeit zum Nachdenken. Irgendwie ist das alles nicht mehr so neu und aufregend und unbescholten, dieses Fahren vieler Kilometer, lange Tage im Sattel. Menschen schreiben mir und fragen nach Tipps, wie sie das auch schaffen können. Als Expertin sehe ich mich nicht, aber tatsächlich fällt mir inzwischen ein bisschen was dazu ein. Tatsächlich weiß ich ziemlich sicher, wie weit ich mit meinem Käsebrot, der Banane und dem Notriegel komme. Das Radfahren und ich, diese Beziehung fühlt sich irgendwie gereift an. Und was mache ich nun damit?

Fürs Erste konsumiere ich, bin diesem nervigen Pandemie-Alltag entrückt, lauere aufs Fahren wie auf den nächsten Schuss.

Ostersonntag will M. eine Tour machen. Es gäbe das so eine Allee, die ginge durch einen Wald. Und ob ich noch wüsste, wo das gewesen sei?

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Die Erwähnung eines Golfplatzes und der Stelle, an der wir Kuchen gegessen hätten, weil wir nicht mehr konnten (wer ist wir?), auf dem Hof mit den Eseln, schafft Aufklärung. Wir planen 150 mit zweimal abbiegen. Mir ist es egal, Hauptsache Kilometer.

Am Sonntag Morgen sind wir lange allein auf der Straße, das könnte eigentlich immer so weitergehen. Berlin ist ein Dorf, die Welt drum herum verlassen. M. murmelt etwas von schlechten Beinen, und ich denke, vielleicht hat er gar keine schlechten Beine. Vielleicht habe ich 2.000-Corona-Kilometer-Beine!

Wir sitzen ein bisschen am Voßkanal und am Großdöllner See und genießen die Stille. Am Nachmittag kommt uns die halbe Hauptstadt auf dem Rad entgegen. Sie fahren nebeneinander, sie gucken in die Luft, sie queren ohne irgendein Handzeichen, die reinste RTF. Einer pumpt mitten auf dem engen Radweg bei Wandlitz sein Hinterrad auf.

Am Abend koche ich ein halbes Kilo Spirelli zum Geschnetzelten. M. isst alles auf.

Ostern ist vorbei, um mich herum werden sie langsam nervös, wie verdienen wir demnächst unser Geld, wenn das alles so weitergeht, und können wir mal spazieren gehen? Ich kann nicht, ich bin zufällig gerade auf dem Rad. Welcher Wochentag ist eigentlich?

Donnerstag, Odertag, heute über Strausberg und Möglin. Aber als ich dann am Fluss sitze, an dieser wunderschönen Stelle bei Groß Neuendorf, hellblaues Wasser und bleiches Schilf, da merke ich sie plötzlich, die Müdigkeit tief innen drin. Überall ist es zu lesen und jederzeit würde ich es predigen: Ausruhen ist essentiell, erst dadurch entsteht Kondition. Aber ich bin natürlich die große Ausnahme, bin drauf wie schon lange nicht mehr.

Dem Wind auf dem Heimweg ist ziemlich egal, was ich bin. Nur noch diese eine Woche die 500 voll! Dann mache ich Pause, bestimmt.

Düstere Vorahnungen erfüllen den Junkie. Freitag lasse ich es sein. Samstag, 30 ausradeln. 40 gehen auch. 50, wo ich schon draußen bin. Die kleine Schleife noch, 60 Kilometer. Von Joggern ist auch nichts mehr zu sehen.

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Sonntag mit M. nach Teupitz. Nach 46 km stehe ich zitternd am Rand und beiße in den Notriegel. Rien ne va plus. Irgendwie muss es aber, wir müssen ja wieder zurück. M. hängt sich vorne rein, bugsiert mich über die Strecke, 95 elend lange Kilometer Brandenburg, für die ich kaum ein Auge habe. Haben wir uns doch gut abgewechselt im Wind, sagt er später. Ja, als ob.

Am Montag nach der Videokonferenz wische ich missmutig das Rad sauber. Das Spritzbesteck muss aus dem Haus, so wenig mir das gefällt. Fahre sehr lustlos quer durch die Stadt, schiebe das Jaegher in meinen Radladen, wo ich endlich die Pizza-Ritzel-Vorrichtung ausbauen lasse, wenn ich es schon nicht mehr bringe.

Dort steht der Mann hinter der Theke, mit dem ich vor fast zwei Jahren eine Nacht auf dem Rad verbracht habe, und lächelt. Da bin ich ein kleines bisschen getröstet. Vielleicht ist doch noch nicht alles vorbei.

Stand der Corona-Kilometer: 2.325

Ein paar davon auf Komoot:

Tour zur rätselhaften Allee
Dritte Tour zur Oder
Teupitz